Drei Tore, der erste NHL-Hattrick der Karriere, der Game-Winner in der Overtime. Eigentlich hätte Vladimir Tarasenko am 28. Oktober allen Grund zum Feiern gehabt. Doch vor der großen Party klingelte erst einmal das Telefon. Und wie nach jedem seiner Spiele nahm sich Tara die Zeit, ranzugehen.
Am anderen Ende der Leitung: Sein Opa. "Mein Großvater schaut jedes meiner Spiele", so der russische Durchstarter der aktuellen Saison. "Und wir sprechen auch nach jedem Spiel." Die Sätze, die sein Großvater dabei stets an Vladimir richtet, sind auch die Sätze, die sich wie ein roter Faden durch die Karriere von Tarasenko ziehen.
Mittlerweile hat sich Tara in den Blickpunkt der großen NHL-Spotlights gespielt. Die Nummer 91 der St. Louis Blues steht mitten in seiner dritten Saison in der besten Liga der Welt, besser wie derzeit lief es für ihn nie. Fahndet man nach seinem Platz in der NHL-Topscorerwertung, dann reicht es, die ersten fünf Namen der Liste zu lesen. Keine Frage: Der Angreifer ist derzeit on fire!
Konstante Top-5-Werte hat er zudem bei der Anzahl geschossener Tore und bei der Plus/Minus-Bilanz vorzuweisen. Doch der rasante Aufstieg des 22-Jährigen kommt nicht von ungefähr - Fleiß ist das Stichwort!
Zwei Schüsse, zwei Tore
Spieler, die einen besonderen Abend erleben, haben am nächsten Tag üblicherweise frei. Freier Tag? Nicht mit Tarasenko! Hätte Alexander Steen nicht vor ihm im Fitnessraum der Arena gearbeitet, Tara wäre schon wieder der erste in der Halle gewesen.
"Er ist immer einer der letzten Jungs, die noch auf dem Eis sind. Er ist immer am schießen", so Blues-Analyst Darren Pang, der seine Karriere in Amerika von Anfang an begleitete.
Dabei erlebte er auch das unglaubliche NHL-Debüt des in Yaroslav geborenen Tarasenko. Am 19. Januar 2013 betrat der Erstrundenpick des NHL Entry Drafts 2010 die NHL-Bühne. Und wie! Der Linksschütze feuerte die ersten beiden Male auf ein NHL-Tor - und beide Schüsse waren drin. Ein unglaublicher Abend. Damit ist er erst der zweite Spieler in der Blues-Geschichte, der bei seinem Debüt zwei Tore erzielte.
Doch die Rekordjagd des Youngsters ging weiter. Weil er auch in seinem zweiten NHL-Spiel traf, wurde er zum vierten Spieler der Franchise-Geschichte, der in seinen ersten beiden Matches netzte. Jetzt soll der nächste Schritt folgen: Tarasenko will einer der Besten in der Liga werden.
Gut sein reicht einfach nicht
"Als er das erste Mal hier war, war er einfach glücklich, überhaupt hier zu spielen", sagt Blues-Coach Ken Hitchcock über seinen Schützling. "Jetzt will er ein Spieler sein, der jeden Abend liefert. Er will ein herausragender Spieler der Liga sein. Das ist ein großer Unterschied."
Nicht nur der Coach hat seine Freude am Arbeitseifer des Talents. Der Right Wing will sich weiter steigern. Er will kein guter Shooter sein, er will der beste Shooter sein.
Diese Gedanken spiegeln sich auch in den Telefongesprächen mit Großvater Tarasenko wieder, zu dem er ein spezielles Verhältnis unterhält. Nicht nur, dass Vladimir junior nach seinem Opa Vladimir Tarasenko benannt wurde. Auch wohnte der junge Vladimir bei seinem Großvater, während Papa Andrei Tarasenko in der russischen Super League auf Torejagd ging.
Es sind auch die Gene, die Tarasenko zu einem der hottesten Spieler der laufenden Saison machen. Sein Vater wurde Topscorer in der russischen Liga und nahm für Russland an den Olympischen Spielen teil. Ob Andrei Tarasenko, der momentan Trainer beim KHL-Klub Novosibirsk ist, zu diesem Zeitpunkt schon ahnte, dass ihm mal sein Sohn in Nichts nachstehen wird?
Besser als Ovechkin
Der schaffte es nämlich auch zu Olympia - wenn auch mit unerfreulichem Ausgang. Sotschi hätte durchaus zum Knackpunkt in der jungen Karriere von Tarasenko werden können. Im Gegensatz zum Verein lief in der Nationalmannschaft nämlich gar nichts. Zusammen mit der Sbornaja ging er bei Olympia im eigenen Land unter. Das Aus im Viertelfinale gegen Finnland - ein Debakel für das russische Eishockey.
Für Tarasenko standen am Ende null Tore, ein Assist und eine negative Plus/Minus-Bilanz in der Wertung. "Er kam nicht besonders gut gelaunt von Olympia zurück. Er war sehr unglücklich, wie er für Russland spielte und welche Rolle er in der Mannschaft einnahm. Danach verstärkte er den Fokus, ein sehr guter Spieler zu werden", erinnert sich Hitchcock.
Tarasenko wäre nicht Tarasenko gewesen, wenn er aus diesen negativen Erlebnissen nicht noch mehr Motivation gezogen hätte. Hatte er in seiner ersten Saison noch eine Trefferquote von 10,7 Prozent, ist er diese Spielzeit mittlerweile bei über 15 Prozent angekommen. Letzte Saison erreichte er am Ende sogar einen starken Wert von 15,9.
Zum Vergleich: Ein Alexander Ovechkin kam noch in keiner NHL-Saison auf eine Trefferquote von über 15 Prozent. Nicht verwunderlich also, dass Tara eine Scoring-Streak von sieben Spielen in Folge gelang und er von der NHL einmal zum Star der Woche und einmal zum dritten Star der Woche gewählt wurde.
"They've done it again!"
Welche Gründe gibt es noch für die starke Entwicklung? Unabdingbar für seinen Aufschwung ist die Situation innerhalb der Mannschaft. Denn Tarasenko blüht auch deshalb so auf, weil seine Reihe derzeit eine der gefährlichsten der Liga ist. Der ein oder andere wird dabei schon mal etwas euphorisch.
"And they've done it again!", hallte es zuletzt häufiger in erhöhter Lautstärke aus den Mikrofonen der amerikanischen Eishockey-Kommentatoren. Gemeint ist die bereits angesprochene und sogenannte "STL"-Reihe, die Tarasenko zusammen mit Jaden Schwartz und Jordi Lehtera bildet. Diese Reihe scheint sich gesucht und gefunden zu haben.
Nicht umsonst beschreibt Lehtera das Verhältnis zwischen den Dreien wie folgt: "Es ist mir nicht wichtig, ob ich in den Vorcheck gehe oder sie. Uns interessiert es auch nicht, wer von uns das Tor macht. Wir freuen uns füreinander. Wenn du dich für die anderen freust, dann kommt es so auch wieder zurück", so der Finne.
Die drei hauseigenen Blues-Draftpicks vereinen also eine wichtige Eigenschaft: Sie gönnen sich gegenseitig die Tore. Ein elementares Puzzleteil für den Erfolg in einer jeden Mannschaftssportart.
Ziemlich beste Freunde
Besonders Tarasenko und Lehtera verbindet mittlerweile eine enge Freundschaft. "Ich hänge mit ihm ab, ich weiß, wie er fühlt, ich weiß, wie er spielt", bestätigt Lehtera das freundschaftliche Verhältnis der beiden, die bereits in Novosibirsk zusammenspielten.
Tarasenko zieht daraus einen großen Vorteil: "Es ist besser, wenn du mit einem Freund zusammenspielst, weil du mehr miteinander redest. Wir kämpfen füreinander. Wir spielen in einer Reihe und reden auch außerhalb vom Training über unser Spiel." Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, dass sich beide regelmäßig über "Twitter" zu ihren Toren gratulieren.
Da beide wie dargestellt prächtig harmonieren, werden sie bereits mit anderen Traumduos der Liga verglichen. "Es ist ähnlich wie bei Ryan Getzlaf und Corey Perry oder wie bei Jamie Benn und Tyler Seguin", meint Hitchcock zum Verständnis der beiden.
"Wie keine andere Reihe in der Liga verstehen sie es, schnell umzuschalten. Das gibt ihnen diesen Erfolg", verrät er nebenbei noch kurz das Erfolgsrezept der STL-Reihe. Aber selbstverständlich liegt es nicht nur an den guten Mitspielern, dass Tara auf dem Weg zum Star ist.
Teamplayer statt Egoshooter
"Sein Schuss ist ganz besonders, das sehen wir jeden Tag", äußert sich Mitspieler Maxim Lapierre zu Tarasenko. "Er hat vielleicht den besten Schuss, den ich je gesehen habe. Wenn er so weiter spielt, dann wird er noch viele Tore erzielen", schwärmt er weiter. Gerade aber in diesem Zusammenhang lässt sich eine Schwäche von Tarasenko ausmachen.
Zumindest laut den Trainern der Blues setzt Tara seine Schussqualitäten zu wenig ein. Was ihm hier also vorgeworfen wird, ist ganz einfach: Er ist nicht eigensinnig genug. Seine Coaches wollten ihm deshalb die "shoot-first mentality" einimpfen.
Aber bisher ohne Erfolg: "Nein, so denke ich nicht. Ich habe immer den Kopf oben für jemanden in einer besseren Position. Ich denke nicht an meine Schüsse. Ist jemand frei, werde ich passen", zeigt sich der Russe voll und ganz als Teamplayer.
Wenn das Telefon klingelt...
Ein anderer Aspekt, den es im Vergleich zu seinen vorherigen Jahren in der NHL nicht zu vernachlässigen gilt, ist, dass er deutlich an Reife gewonnen hat. "Er ist jetzt ein Mann", pflichtet Lehtera dieser Ansicht bei. Auch Tarasenko selbst will die Wichtigkeit seines Reifeprozesses nicht abstreiten.
Mit einem Lächeln im Gesicht gibt er zu Protokoll: "Wenn ich mich jetzt ins Auto setze, dann muss ich das GPS nicht mehr anmachen." Das ist zwar nicht der einzige Unterschied zu den vergangenen Spielzeiten, aber der Wohlfühlfaktor in dieser Saison scheint tatsächlich noch ein wenig höher zu liegen.
Was Tarasenko bei all diesen Lobeshymnen ausmacht, ist der eigene Anspruch: "Es ist nicht genug, ein gutes Spiel zu machen und danach wieder fünf Mal schlecht zu spielen." Sollte er den Realismus, den er bislang an den Tag legt, mal beiseiteschieben, er würde trotzdem nach jedem Spiel daran erinnert werden.
Dann klingelt nämlich das Telefon. Und es sind auch die Sätze seines Opas, die ihn zum weiter machen antreiben: "Das war nur ein Spiel. Wir sind stolz auf dich, aber versuch auf diesem Level weiterzuspielen." So wichtig Großvater Tarasenko auch ist, den Schritt zum Superstar muss er immer noch alleine bewältigen.
Vladimir Tarasenko im Steckbrief