Er gewann den Stanley Cup schon, als viele seiner Mitspieler und Kontrahenten noch gar nicht geboren waren, war Weltmeister und Olympiasieger. Mit bald 44 Jahren mischt Jaromir Jagr mit den Florida Panthers die NHL auf - ein Franchise-Rekord inklusive. Mit SPOX sprach die lebende Eishockey-Legende über Sprachprobleme, den Reiz der KHL, das neue Overtime-Format und seinen Abstecher zu den Schalker Haien.
SPOX: Herr Jagr, nachdem Ihnen in der letzten Partie vor Weihnachten gegen die Ottawa Senators (22. Dezember) Ihr Gegenspieler Alex Chiasson vier Zähne ausgeschlagen hat, haben Sie getwittert, dass Sie sich vom Weihnachtsmann neue Zähne wünschen, da es ansonsten nichts mit einem guten Christmas-Dinner werden würde. Hat Santa Claus Ihren Wunsch erhört?
Jaromir Jagr: Oh ja, das hat er - hier, sehen Sie! (zeigt seine Zähne) Er kam in Form eines Zahnarztes mit einem weißen Kittel zu mir. Insgesamt fünf Stunden hat die ganze Prozedur gedauert. Das ist zwar eine ganz schön lange Zeit, aber für ein gutes Abendessen an Weihnachten nimmt man so etwas schon einmal in Kauf. Es muss ja nicht unbedingt zur Gewohnheit werden.
SPOX: Sie haben während Ihrer langen Profi-Karriere schon sehr viel erlebt - aber ein Weihnachtsfest unter Palmen wohl noch nicht. Wie war diese "etwas andere" Erfahrung?
Jagr: Das stimmt. Weihnachten unter Palmen beziehungsweise bei diesen Bedingungen habe ich tatsächlich noch nicht gefeiert. Das war für mich etwas völlig Neues. Aber es hat mir sehr gefallen. Nachdem wir über Weihnachten nicht gespielt haben, war ich sehr oft am Strand, um dort zu entspannen. Überhaupt genieße ich die Zeit hier in Florida sehr. Wenn es der Spielplan zulässt, verbringe ich grundsätzlich viel Zeit am Meer. Letztlich ist es für mich eine perfekte Kombination aus Arbeit und Erholung. Wenn man so will, dann werde ich ja praktisch auch fürs Urlaubmachen bezahlt. Das ist doch großartig, oder nicht? (lacht)
SPOX: Wenn man Sie in diesen Tagen, Wochen und Monaten sowohl auf als auch neben der Eisfläche sieht, dann hat man den Eindruck, als würde man einen sehr glücklichen Jaromir Jagr erleben, der seine Zeit als Eishockey-Profi extrem genießt.
Jagr: Ich denke, dass viele Dinge eine Rolle spielen, warum ich mich derzeit tatsächlich so wohl fühle. Zum einen ist es die Tatsache, dass ich nach wie vor in der Lage bin, Eishockey als aktiver Spieler auszuüben. Ich habe mein ganzes Leben diese Sportart geliebt und liebe sie nach wie vor. Eishockey macht mein Leben schöner und einfacher. Hinzu kommt, dass ich bei den Panthers mit zwei sehr guten und talentierten Jungs in einer Reihe agieren kann, deren Spielweise und Einstellung meiner sehr ähneln. Deshalb musste ich mich gar nicht groß umstellen. Klar, aufgrund des Altersunterschieds sind sie natürlich etwas schneller als ich. Aber vom Stil her unterscheiden wir uns kaum. "Barki" und "Hubi" spielen so, wie ich das selbst seit rund 25 Jahren mache. Das ist schon ein sehr glücklicher Umstand, denn viele Akteure, die quasi den "Stil der 90er-Jahre" - nur eben deutlich schneller - spielen, gibt es in dieser Liga nicht. Das ist meines Erachtens der größte Vorteil unserer Reihe, der mir natürlich auch viel Freude und Spaß bereitet.
SPOX: Wenn man speziell auf die ersten rund 15 Jahre Ihrer NHL-Karriere zurückblickt: Der Druck und die Erwartungshaltung seitens der Fans, Medien oder Klubverantwortlichen an Ihre Person waren stets riesig. Nahezu in jedem Match wurde etwas Außergewöhnliches von Ihnen erwartet. Hat sich Ihr eigener Blick auf das (Eishockey-)Spiel in den letzten Jahren verändert?
Jagr: Das würde ich schon so sagen, ja. Mittlerweile packe ich mir bei weitem nicht mehr derart viel Druck auf meine Schultern, wie es früher der Fall war. Mein primäres Ziel ist es bei weitem nicht mehr, selbst ein Tor zu erzielen. Für mich steht an allererster Stelle, dass wir als Team gewinnen. Es ist schon ein sehr großer Unterschied, ob du mit dem selbst auferlegten Druck, unbedingt einen Treffer schießen zu müssen, damit deine Mannschaft erfolgreich ist, in ein Spiel gehst oder du dich auch auf andere Dinge konzentrierst, um deinem Team zu helfen. Beispielsweise ein guter Pass oder auch ein entscheidendes Defensiv-Play. Wir haben hier in Florida so viele gute Jungs, die immer in der Lage sind, wichtige Treffer zu erzielen. Ich denke, dies ist der entscheidende Punkt, der sich in meiner Ansicht geändert hat. Diesen Druck spüre ich jedenfalls nicht mehr.
SPOX: Sie haben Ihre beiden Sturmpartner Aleksander Barkov (20 Jahre) und Jonathan Huberdeau (22), die vom Alter her auch problemlos Ihre Söhne sein könnten, bereits angesprochen. Sehen Sie sich aufgrund Ihrer großen Erfahrung als eine Art Mentor für diese jungen Spieler?
Jagr: Zunächst einmal möchte ich mir nicht anmaßen, mich selbst als Mentor für diesen oder jenen Spieler zu bezeichnen. Nachdem ich mich in die Jungs nicht reinversetzen beziehungsweise reindenken kann, müssen sie diese Frage beantworten. Was meine Rolle betrifft: Klar spreche ich gewisse Dinge, die mir sowohl im Training als auch im Spiel auffallen, offen und direkt an. Ich denke, dass mir das mit meiner Erfahrung auch in einer gewissen Art und Weise zusteht. Oftmals kommen die Jungs auch von selbst zu mir und fragen mich, wie sie dieses oder jenes am besten machen und umsetzen können. Dann sage ich ihnen meine Meinung und versuche ihnen zu helfen. Ob das letztlich dem Begriff eines Mentors gleichkommt? Schwer zu sagen. Ich kenne ja nur meine Seite und dementsprechend meine Aufgabe als erfahrener Akteur. Was die andere Seite betrifft, das können nur die Jungs beurteilen.
SPOX: Die einen Experten sagen, Sie seien aufgrund Ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten mit Talent gesegnet. Die anderen meinen, Sie hätten sich alles hart erarbeitet. Wieviel Talent und wieviel harte Arbeit stecken in Jaromir Jagr?
Jagr: Das ist sehr schwer zu beantworten. Was ist eigentlich genau Talent? Das zu definieren, ist schlichtweg unmöglich. Ich möchte Ihnen aber ein anderes Beispiel geben: Wenn ein Kind, das möglicherweise anfangs nicht sonderlich begabt ist, eine bestimmte Sache 1000 Mal in einem Training Tag für Tag macht, dann wird es sich durch diese harte Arbeit mit Sicherheit verbessern. Was der Bezeichnung Talent in meinen Augen noch nah kommt, ist die Fähigkeit, eine bestimmte Spielsituation schneller zu lesen oder vorherzusehen, was im nächsten Augenblick passieren wird.
SPOX: Stichwort "harte Arbeit": Es gibt die Geschichte, dass Sie bereits als Siebenjähriger damit angefangen haben, in jedem Training 1000 Kniebeugen zu machen und dies auch über mehrere Jahre durchgezogen haben. Ist das richtig?
Jagr: (schmunzelt) Ja, das ist richtig. Ich habe mir gedacht, dass ich einfach immer mehr als die anderen Jungs machen muss, um besser zu werden als sie. Mit sieben Jahren habe ich mit den Kniebeugen begonnen. Aber es gab natürlich auch andere Dinge. Wenn meine Mitspieler beim Training vom Eis gegangen sind, bin ich noch geblieben und habe individuell weitertrainiert, bis sie mich runtergeschmissen haben. (lacht) Es war mein großer Antrieb, mich in allen Bereichen zu verbessern und eben auch besser zu sein als alle anderen. Dieser hat mich dann auch während meiner gesamten Karriere begleitet. Ich war und bin einfach der Überzeugung, dass sich harte Arbeit immer auszahlen wird. spox
SPOX: Sie wurden im Jahr 1990 von den Pittsburgh Penguins in der ersten Runde an fünfter Stelle gedraftet. Was ist Ihnen anfangs schwerer gefallen: Die Umstellung von der großen auf die kleine Eisfläche oder die Tatsache, dass Sie als 18-Jähriger in die USA gekommen sind, ohne ein Wort Englisch zu sprechen?
Jagr: Die Anpassung an die kleine Eisfläche war nicht wirklich schwierig, weil mein Körper eigentlich genau für diese Spielweise prädestiniert ist. Die Sache mit der Sprache war natürlich schon ein sehr großes Problem. Meine Familie hat mich zwar nach Pittsburgh begleitet, damit ich zumindest die Möglichkeit hatte, mit ihr zu kommunizieren. Aber das hat das Problem freilich nicht gelöst. Ich musste einfach so schnell wie möglich die englische Sprache lernen. Aus diesem Grund haben mich die Penguins bereits wenige Wochen nach dem Draft in eine Schule gesteckt. Stellen Sie sich vor, Sie müssen beispielsweise in Tschechien eine Schule besuchen, in der nur Tschechisch gesprochen wird.
SPOX: Ehrlich gesagt wäre ich dann ziemlich aufgeschmissen...
Jagr: Genau so ging es mir auch. Ich habe Stunden um Stunden in einem Klassenzimmer verbracht und kein einziges Wort verstanden. Die haben dort nur Englisch gesprochen. Das war mit das Härteste, was ich jemals erlebt habe. Erst mit der Zeit wurde es dann besser und besser.
SPOX: Wir haben das Thema Mentor bereits angesprochen. Als Sie bei den Pens angefangen haben, war Mario Lemieux dort der große Superstar. Würden Sie Ihn als Ihren damaligen Mentor bezeichnen?
Jagr: Klar, wenn du das große Glück hast, mit einem Spieler wie Mario Lemieux, der zu diesem Zeitpunkt schon eine richtige Legende war, in einer Mannschaft zu stehen und du nicht dumm bist, dann kannst du davon nur profitieren. Du kannst ihn in jedem Training, bei jeder Spielvorbereitung und natürlich auch bei jedem Match sehen und beobachten, wie er gewisse Dinge macht. Ich habe sehr viele Dinge von ihm gelernt.
SPOX: Ihre Zeit in Pittsburgh hat sich zu einer echten Erfolgsgeschichte entwickelt. Sie haben mit den Pens zwei Stanley Cup-Triumphe gefeiert und gewannen darüber hinaus zahlreiche persönliche Auszeichnungen. Ein Ende fand die "Traumehe Pittsburgh/Jagr" jedoch im Juli 2001, als Sie zu den Washington Capitals getradet wurden. Über die Hintergründe gab es damals viele Geschichten und Gerüchte. Können Sie uns verraten, was der wahre Grund war?
Jagr: Ehrlich gesagt möchte ich darüber heute nicht mehr sprechen, da es einfach schon zu lange her ist. Es war damals für alle Seiten ein neuer Start. Auch für mich.
SPOX: Sie haben anschließend für die Caps (2001 bis Januar 2004) und die New York Rangers (bis 2008) gespielt und sich danach entschieden, die National Hockey League in Richtung Avangard Omsk zu verlassen. Was hat Sie am Wechsel von der NHL in die KHL gereizt?
Jagr: Nun, ich hatte ja bereits einen Großteil des NHL-Lockouts in der Saison 2004/2005 in Omsk verbracht. Dort hat es mir wirklich sehr, sehr gut gefallen. Die Leute waren immer enorm freundlich und haben sich extrem um mich gekümmert. So etwas vergisst man nicht. Als ich dann nach New York zurückkehrte, hatte ich bereits während meines letzten Vertragsjahrs ein Gespräch mit dem General Manager der Rangers, in dem er mir mitgeteilt hat, dass sie meinen Kontrakt nicht verlängern wollen. Ich wurde daraufhin Free-Agent und konnte mir mein neues Team aussuchen. Und aufgrund der tollen Erfahrungen aus der Vergangenheit habe ich mich dann für Omsk entschieden.
SPOX: Unter dem Strich standen drei Spielzeiten in Omsk, ehe Sie im Jahr 2011 doch wieder in die NHL, genauer gesagt zu den Philadelphia Flyers, zurückgekehrt sind. Welche Punkte waren für Ihre Rückkehr nach Nordamerika ausschlaggebend?
Jagr: Letztlich war es ein Mix aus mehreren Gründen: Wie schon erwähnt liegt mir die kleine Eisfläche aufgrund meiner körperlichen Konstitution doch etwas mehr als die große. Naja, und auch die Atmosphäre in den NHL-Hallen ist eine ganz andere als in der KHL. Wenn man wie in Russland beispielsweise hin und wieder vor 2000 Zuschauern oder wie in der NHL vor 20.000 Zuschauern spielt, dann ist das schon ein riesengroßer Unterschied. Und das wollte ich einfach wieder erleben.
SPOX: Wenn Sie die vergangenen rund 25 Jahre in der NHL einmal Revue passieren lassen: Wie hat sich das Eishockey-Spiel in diesem Zeitraum verändert?
Jagr: Grundsätzlich ist es natürlich viel schneller geworden. Das Verrückte an dieser Sache ist: Ich finde mich heutzutage - insgesamt betrachtet - besser als noch vor 25 oder 15 Jahren. Nur entwickeln sich eben auch die anderen Spieler ständig weiter und werden immer besser. Wenn du 2000 der beste Spieler in der NHL warst, dich aber nicht weiterentwickelt hättest, dann wärst du im Jahr 2010 oder 2015 mit Sicherheit nicht mehr gut genug für diese Liga. Das ist schon der Wahnsinn. Im Grunde sind Eishockey-Spieler wie Computer. Bietest du ein 10 oder 15 Jahre altes Gerät an, winkt jeder dankend ab und fragt, was du denn mit dem alten Zeug willst. Ohne den entsprechenden Fortschritt hast du einfach keine Chance.
SPOX: Eine weitere Veränderung gibt es seit dieser Saison: In der Verlängerung wird "Drei-gegen-Drei" gespielt. Was halten Sie davon?
Jagr: Wenn ich die NHL-Verantwortlichen das nächste Mal sehe, muss ich sie wirklich fragen, warum ihnen das nicht schon vor 15 oder 20 Jahren eingefallen ist, als ich noch jung und wesentlich schneller war. Ich glaube, das machen sie heute nur, um einen älteren Mann wie mich zu ärgern. Aber für die Zuschauer ist es natürlich sehr attraktiv, weil es permanent hin und her geht und ständig Torchancen gibt. Als schneller und technisch guter Spieler hat man in diesen fünf Minuten definitiv große Vorteile.
SPOX: Sie haben in der All-Time-Torschützenliste der NHL den bislang viertplatzierten Marcel Dionne (731) überholt. Mindestens genau so beeindruckend sieht Ihre Bilanz in der All-Time-Punktewertung aus: Mit 1830 Zählern rangieren Sie auf Platz vier und können die vor ihnen platzierten Gordie Howe (3./1850) und Mark Messier (2./1887) noch überholen. Wäre gerade Letzteres für Sie nicht so etwas wie der "ultimative individuelle Ritterschlag"?
Jagr: Ich muss ehrlich zugeben, dass ich mir über diese sogenannten "Meilensteine" eigentlich gar keine Gedanken mache. Momentan liebe ich es einfach, immer noch zu spielen und achte daher gar nicht auf irgendwelche Rekorde. Sich darüber groß Gedanken zu machen oder Ziele zu setzen, bringt nichts. Durch eine Verletzung kann beispielsweise von heute auf morgen alles vorbei sein. Solche Rekorde sind nach einer Karriere mit Sicherheit sehr schön. Doch ich genieße aktuell noch meine Zeit auf dem Eis.
SPOX: Die Frage, die Ihnen in den vergangenen Jahren sicherlich am häufigsten gestellt wurde, dürfte lauten: Wie lange haben Sie vor, noch aktiv Eishockey zu spielen?
Jagr: Vielleicht können Sie mir diese Frage ja in fünf Jahren nochmal stellen. Ich habe vor drei, vier Jahren noch nicht darüber nachgedacht und werde es auch jetzt nicht tun. Diese Energie spare ich mir lieber. Auch die ebenfalls oft gestellte Frage, was ich möglicherweise nach meiner aktiven Karriere machen werde, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten. Ich beschäftigte mich ausschließlich mit der Gegenwart. Ich fühle mich blendend, meinem Körper geht es gut. So lange das der Fall ist, brauche ich nicht an die Zukunft zu denken. spox
SPOX: Dann lassen Sie uns abschließend nochmals einen Blick zurück in die Vergangenheit werfen: Im Januar 1995 haben Sie während des NHL-Lockouts eine Partie für die Schalker Haie in der 1. Liga Nord gegen den damaligen Lokalrivalen Herner EV absolviert. Nach 60 Minuten standen auf Ihrem Konto ein Treffer und zehn (!) Assists. Können Sie sich noch an diesen Auftritt erinnern?
Jagr: Oh ja, definitiv. Das war eine lustige Sache. (lacht)
SPOX: Wie kam es überhaupt dazu?
Jagr: Nun, mein guter Kumpel und ehemaliger Mitspieler aus Kladno, Vladimir Kames, hat damals bei Schalke gespielt. Er hat mich kontaktiert und gemeint, dass sie ein enorm wichtiges Match vor sich hätten, das sie unbedingt gewinnen mussten. Er hat mich gefragt, ob ich da nicht aushelfen könnte, da ja momentan ohnehin der NHL-Lockout sei. Naja, und nachdem ich nichts Besseres zu tun hatte und man in dieser Zeit auch ohne einen unterschriebenen Vertrag mitspielen durfte, habe ich eben zugesagt. Ich weiß noch, dass ich das erste Tor selbst erzielt und im weiteren Verlauf des ersten Drittels Vladimir vier oder fünf Treffer aufgelegt habe. Wir hatten auf alle Fälle unseren Spaß - er noch mehr als ich.
Jaromir Jagr im Steckbrief