Als 1997 die French Open in Paris beginnen, gibt es so einige Fragen, die sich die Experten vor Turnierbeginn der Herrenkonkurrenz stellen. Wird Pete Sampras endlich die French Open gewinnen und seinen lang ersehnten Karriere-Grand-Slam erreichen? Kann Yevgeny Kafelnikov seinen Triumph aus dem Vorjahr wiederholen? Wie stark sind die ehemaligen Paris-Champions Michael Chang, Thomas Muster und Jim Courier? Schafft es ein Spieler aus der spanischen Armada um den zweifachen Titelträger Sergi Bruguera bis zum Titelgewinn? Wie schlägt sich Geheimfavorit Marcelo Rios?
Nur die tollkühnsten Experten hätten wohl damit gerechnet, dass ein 20-jähriger, recht unbekannter Brasilianer schließlich alles überstrahlt und sich in die Herzen des Tennispublikums spielt. tennisnet.com blickt auf den Siegeslauf von Gustavo Kuerten zurück, der wie Phönix aus der Asche auftauchte und sich als Nobody zum French-Open-Sieger spielte.
Als Nummer 66 der Weltrangliste nach Paris
Das Tableau der Herrenkonkurrenz bei den French Open 1997 ist hochkarätig besetzt. Fünf Paris-Sieger und zwei ehemalige Finalisten tummeln sich im Feld. Dazu gesellt sich der Weltranglisten-Erste Pete Sampras, der einen erneuten Anlauf nimmt, um endlich im Stade Roland Garros zu triumphieren und sich damit seinen letzten offenen Grand-Slam-Titel zu sichern. Im Feld befindet sich auch der Brasilianer Gustavo Kuerten.
Der 20-Jährige aus Florianopolis ist nur den wirklichen Tennisexperten und Hardcorefans bekannt. Der Rest des Tennispublikums wird "Guga", wie Kuerten von allen gerufen wird, in den nächsten zwei Wochen kennenlernen. Für den schlaksigen Brasilianer mit 1,90 Meter Körpergröße ist es die zweite Teilnahme bei den French Open. Im Vorjahr musste Kuerten Lehrgeld bezahlen und schied in der ersten Runde aus.
Der Brasilianer reist im Mai 1997 als Nummer 66 der Weltrangliste und mit der Empfehlung eines Titels bei einem Sandplatz-Challenger in seiner Heimat nach Paris. Ansonsten verläuft die Karriere von Kuerten bis zu diesem Zeitpunkt genauso wie seine vorherigen Sandplatzturniere - nämlich ziemlich unspektakulär. Ein Sieg gegen den damals kraftlos wirkenden Andre Agassi ist bis dato der größte Erfolg des 20-Jährigen.
Ohne großen Erwartungsdruck und fernab vom öffentlichen Interesse beginnt Kuerten die French Open. In der ersten Runde schlägt er leicht und locker den Tschechen Slava Dosedel, gegen den er noch einen Monat zuvor unterlegen war. Es folgt ein Sieg in der zweiten Runde gegen den Schweden Jonas Björkman. Kuerten ist mit seinen zwei Siegen schon mehr als im Soll. In der dritten Runde rückt er dann in das öffentliche Interesse, denn er darf auf dem zweitgrößten Platz im Stade Roland Garros gegen Thomas Muster, den French-Open-Sieger von 1995, spielen.
Cartoonfigur Kuerten als neuer Farbtupfer im Herrentennis
Kuerten schafft die Sensation und schlägt den Weltranglisten-Fünften aus Österreich in fünf Sätzen. Im fünften Satz holt er dabei einen 0:3-Rückstand auf. Die Liebesliaison zwischen dem Brasilianer und dem französischen Publikum nimmt spätestens hier seinen Anfang. Kuerten, der mit seinem treuherzigen Gesicht und seinen wilden Locken ein wenig wie eine Cartoonfigur aussieht, begeistert das Publikum mit seinem ungewöhnlichen Sandplatztennis und hat dabei stets ein Lächeln im Gesicht.
Man merkt ihm an, dass er gerne auf dem Platz steht, dass er Freude daran hat, was er gerade auf der roten Asche in Paris treibt. Mit seinem blau-goldenen Outfit ist er ein neuer Farbtupfer im Herrentennis. Kuerten ist nicht der klassische Sandplatzspezialist, der links und rechts läuft und die Bälle reinspielt. Er überzeugt viel mehr mit aggressivem Spiel, diktiert die Punkte mit seinen starken Grundschlägen und streut immer wieder Serve-and-Volley und unerreichbare Stoppbälle mit seiner Rückhand ein.
Gerade diese plötzlichen Stoppbälle entnerven den Sandplatzspezialisten Muster. Durch den Erfolg gegen einen Grand-Slam-Sieger steht Kuerten urplötzlich im Fokus der Öffentlichkeit. Die Journalisten wollen wissen, wie der Schlacks aus Florianopolis tickt. Der 20-Jährige nimmt das Medieninteresse gelassen auf und erklärt, wie er zu seinem Spitznamen "Guga" gekommen ist. Sein jüngerer Bruder Guilherme, der seit der Geburt an einigen zerebralen Lähmungen leidet, konnte als kleines Kind den Namen Gustavo nicht richtig aussprechen und sagte stattdessen immer "Guga".
Der Spitzname blieb, genauso wie das innige Verhältnis zu seinem kleinen Bruder. Kuerten schenkt Guilherme seine Siegestrophäen, die dieser wie einen Schatz bewahrt. Auch der Tod von Kuertens Vater Aldo wird thematisiert. Als der Brasilianer neun Jahre alt war, starb sein Vater an einer Herzattacke, nachdem er ein Spiel bei einem Jugendturnier geschiedst hatte.
Großmutter als Geheimwaffe
Im Achtelfinale spielt Kuerten gegen den Geheimfavoriten Andrei Medvedev. Der Weltranglisten-20. aus der Ukraine hatte in der Vorbereitung zum dritten Mal das Masters-Turnier in Hamburg gewonnen. Erneut muss Kuerten über fünf Sätze gehen, erneut ist er siegreich. Mit 7:5 im fünften Satz qualifiziert er sich für das Viertelfinale gegen Titelverteidiger Yevgeny Kafelnikov.
"Wow, ich habe Muster und Medvedev besiegt. Warum soll ich nicht auch noch Kafelnikov schlagen?", denkt sich der Brasilianer. Und so kommt es tatsächlich. Kuerten gewinnt das Viertelfinale gegen den Weltranglisten-Dritten mit 6:2, 5:7, 2:6, 6:0, 6:4 und bleibt weiter der gefragte Mann in Paris.
Besonders die deutschen Journalisten sind ganz versessen auf "Guga", der einen deutschen Pass besitzt. Seine Großmutter Olga Schlösser stammt aus Deutschland und wird dank ihres Enkels zum Medienstar. Kuerten verrät, dass er vor den Spielen Tipps von seiner Oma erhält. "Die weiß über alle Spieler Bescheid. Sie kennt besonders Becker, Sampras und Kafelnikov ganz genau. Wenn ich mit ihr rede, sagt sie: 'Also gegen diesen Gegner musst du folgendermaßen spielen'", berichtet der Brasilianer über Telefonate mit seiner Großmutter, die zur Geheimwaffe wird.
Erster Titel - und das bei einem Grand Slam
Nach dem Sieg gegen Kafelnikov glauben viele, dass Kuerten seinen Traumlauf bei den French Open mit dem Titelgewinn beenden kann. Im Halbfinale kommt es zum Duell mit der anderen Turniersensation, Filip de Wulf. Der Belgier, Nummer 122 der Weltrangliste, spielt sich als Qualifikant ins Halbfinale vor. Eines steht bereits vorher fest. Paris bekommt einen Sensationsfinalisten.
Und dieser heißt Kuerten, denn der Brasilianer schlägt de Wulf in vier Sätzen und ist nur noch einen Sieg vom Sandplatzolymp entfernt. Im Endspiel wartet der wiedererstarkte Sergi Bruguera auf Kuerten. Der spanische Sandplatzspezialist geht als klarer Favorit ins Finale. Bruguera peilt nach den Siegen in den Jahren 1993 und 1994 seinen dritten Triumph bei den French Open an.
Doch Kuerten zeigt sich vor den Augen seiner Großmutter Olga, die zum Finale angereist ist, von Beginn an überhaupt nicht beeindruckt und zieht sein offensives Sandplatztennis gnadenlos durch. Der Brasilianer ist Bruguera zur großen Überraschung deutlich überlegen und übersteht auch eine kleine Schwächephase im zweiten Satz, als das Match zu kippen scheint.
Kuerten spielt ausgerechnet im Endspiel sein bestes Match bei den French Open und setzt das Sahnehäubchen auf seine glorreichen Leistungen in Paris. Nach 1:50 Stunden ist eine der größten Tennis-Sensationen perfekt. Kuerten schlägt Bruguera mit 6:3, 6:4, 6:2 und wird der erste Brasilianer, der ein Grand-Slam-Turnier gewinnt. Mit Platz 66 ist er der am niedrigsten platzierte Spieler, der die French Open gewonnen hat. Zudem ist es der erste Titel auf der ATP-Tour für Kuerten - und das gleich bei einem Grand-Slam-Turnier.
"Mein Leben ist perfekt"
"Es ist das erste Mal, dass ich auf der ATP-Tour in einem Finale stehe, und das noch bei den French Open. Ich habe diese Trophäe nicht erwartet, deshalb glaubte ich auch nicht daran, dass es passieren kann. Ich hätte das nie für möglich gehalten", sagt Kuerten, der seinen Triumph in Roland Garros wie jeden anderen Sieg auch seinem verstorbenen Vater widmet.
"Jedes Mal, wenn ich spiele, denke ich an meinen Vater, weil er so einen großen Einfluss auf mich hatte. Nicht nur im Tennis und im Sport, sondern auch bei der Erziehung und beim Rest des Lebens", erklärt Kuerten, der sich in der Pressekonferenz nach dem Titelgewinn genügsam zeigt.
"Mein Leben ist perfekt, auch schon vor dem Turnier. Ich habe alles, was ich brauche. Ich habe ein gutes Haus, ich habe das Auto meiner Mutter, das ich ab und zu nutze", scherzt der Brasilianer. Viele Leute sprechen nach dem Turnier davon, dass der French-Open-Sieg von Kuerten eine Eintagsfliege ist. Doch sie sollen Unrecht haben. Kuerten avanciert zu einem der besten Sandplatzspieler, gewinnt die French Open (2000 und 2001) zwei weitere Male und schafft es sogar auf Platz eins der Weltrangliste.
Die Herzen der Zuschauer fliegen dem sympathischen Brasilianer nur so zu. Unvergessen bleibt seine Liebeserklärung an das französische Publikum, als er 2001 nach seinem Achtelfinalsieg ein Herz in den Sand malt und sich hineinlegt. Gustavo "Guga" Kuerten und Paris. Es ist eine Liebesgeschichte der besonderen Art.