Eigentlich hätte Hyeon Chung Fußballspieler werden müssen. Als er noch ein Kind war, empfahl ein Augenarzt seinen Eltern, der Sohn solle sich auf die Farbe Grün konzentrieren, um etwas gegen seine Sehschwäche (Kurzsichtigkeit, Hornhautverkrümmung) zu tun. Lange überlegten Vater und Mutter Chung, wie sie mit dem Ratschlag des Doktors verfahren sollten. Dann entschieden sie: Tennis, der auffällig gelbe Filzball - das würde irgendwie auch genügen, um die Augen zu stärken. "Ich habe Tennis dann vom ersten Moment an geliebt", sagt Chung heute. Der Mann, der gerade bei den Australian Open der schlagzeilenträchtige Sensationsmacher ist.
Und der Spieler, der sich mit seinen gerade mal 21 Jahren am Freitag einem gewissen Roger Federer in den Weg stellen will - in seinem ersten Grand-Slam-Halbfinale. "Es ist cool, endlich mal gegen ihn zu spielen", sagt Chung. Chung, der am Mittwoch im Duell der Überraschungsprofis 6:4, 7:6 und 6:3 gegen den US-Amerikaner Tennys Sandgren gewann, ist ein ungewöhnlicher Typ. Nicht nur, weil er stets eine kompakte Sportbrille trägt und man ihn deswegen - klischeehaft - "Professor" nennt in Spielerkreisen. Sondern auch, weil man dem gedrungenen Youngster nicht ansieht, wie überaus geschmeidig und gewandt er über die Centre Courts flitzt, fast wie eine hochaktuelle, überarbeitete Version des Bewegungskünstlers Novak Djokovic. Gegen ihn, gegen den langjährigen Dominator der Branche, gewann er am Montag im Achtelfinale das Spiel seines Lebens, bekam anschließend von Djokovic das wohlverdiente Kompliment nachgereicht, er habe "schlicht unglaublich gespielt."
Groß wie Luftballons
Kurios, aber wahr: Gerade bei der Hand-Augen-Koordination wirkte es, als habe der junge Südkoreaner schier unmenschliche Fähigkeiten. "Er sieht die Bälle offenbar so gut, als wären sie so groß wie Luftballons", sagte Paul Annacone, früher einmal der Coach des Branchenführers Pete Sampras. Chung zog einst im zarten Alter von 13 Jahren in die Fremde aus, um seinen Traum von einer großen Tenniskarriere zu verwirklichen. Knappe drei Jahre trainierte er fern der Heimat und fern der Familie in der berühmten Talentschmiede von Nick Bollettieri in Bradenton (Florida), danach kehrte er physisch und mental gestärkt zurück nach Südkorea. "Es war eine harte Lehrzeit. Aber auch eine ideale Schule, um mich auf die Anforderungen auf der Tennistour vorzubereiten", sagt Chung. Früh stellte er sich schon den Prüfungen auf der Challenger-Serie, gewann mit 18 Jahren seinen ersten Pokal - und danach noch sieben weitere Turniere.
"Er war schon immer ein sehr erwachsener Kerl. Einer, der sehr genau wußte, was er wollte und tat", sagt Neville Godwin, sein südafrikanischer Trainer. 2015 wählten ihn die eigenen Kollegen bereits zum "Most improved Player", zum Spieler, der sich in der Saison am meisten fortentwickelt hatte. Schönheitsfehler: Chung konnte die Trophäe nicht selbst in Empfang nehmen, da er gerade vom südkoreanischen Milität eingezogen war. Nun aber sorgt er in der Heimat für Euphorie und Traumszenarien vom ersten nationalen Grand-Slam-Champion - mehr noch als der bisher einzige Weltklassespieler Hyung-Taik Lee, der es bis auf Platz 36 der Charts brachte. Chung hat größeres Potenzial, er wird schon nach diesen Grand-Slam-Festspielen bis knapp an die Top 20 heranrücken, der "Professor", der zum Ende der Saison 2017 das "NextGen"-Finale in Mailand gewonnen hatte. Es war sein erster großer Titel, und es war auch eine Initialzündung, noch mehr seinen Kräften und Qualitäten zu vertrauen. "Ein Durchbruchmoment" sei das gewesen, sagt Godwin, der Coach. Tatsächlich spielt Chung in Melbourne auf, als gäbe es keine Gegner, vor denen er sich fürchten müsse.
Die perfekten Vokabel können warten
"Angst vor großen Namen sieht man bei ihm nicht", befindet Boris Becker, Melbourne-Champion von 1991 und 1996, "er ist ein Typ, den man einfach gern haben muss." Gerade gegen Djokovic, das Idol aus eigenen Kinder- und Jugendtagen, spielte Chung unbeschwert drauf los, mit teils atemraubender Selbstverständlichkeit. So jedenfalls trat kein Spieler auf, der auf Erfolge in einem unbestimmten Morgen hoffen musste. Sondern wie einer, der schon angekommen war im Kräftespiel der Mächtigen. Was Chung gelegentlich noch ein wenig Mühe macht, ist das flüssige Englisch, die Sprache des Wanderzirkus. Aber auch daran arbeitet er, zuletzt schaute er sich haufenweise US-Serien wie "Prison Break" oder "Modern Family" an, um sich besser verständlich zu machen. Gegen Sandgren versiebte er am Mittwoch drei Matchbälle, weil er schon "daran dachte, was ich bei dem Siegerinterview später sagen soll." Dann besann er sich auf das Wesentliche zurück, die Volltreffer auf dem Centre Court. Der perfekte Ausdruck daneben, die richtigen Vokabeln, sie können notfalls noch ein bisschen warten.