Rod Laver ist inzwischen 79 Jahre alt. Er ist das Idol ganzer Tennis-Generationen, der Mann, der gleich zweimal den echten Grand Slam gewonnen hat, alle vier Major-Turniere in einem Kalenderjahr. Laver ist ein kleiner Mann, dass er einmal den Spitznamen "Rocket of Rockhampton" trug, sieht man ihm nicht mehr unbedingt an. Die lange Reise aus seiner Wahlheimat USA in die alte Heimat Australien macht ihm sichtlich zu schaffen, aber den jährlichen Grand Slam-Termin in Melbourne lässt er sich nicht nehmen, allen körperlichen Gebrechen zum Trotz.
Laver ist auch ein Mann, der ein scharfes Auge hat. Und eine analytische Schärfe, die es mit jedem der vielen sogenannten Tennisexperten in Funk und Fernsehen mühelos aufnehmen kann. Bei Laver ist es keinesfalls plumper Chauvinismus, wenn er seinen Landsmann Nick Kyrgios als "das größte Talent" im Wanderzirkus bezeichnet. Laver beurteilt die Talente des vielgescholtenen Bad Boys so, und er hat gleichzeitig auch schon oft harsch und unbarmherzig darüber gesprochen, "wie schlimm es ist, mit ansehen zu müssen, wie Nick seine Potenziale verschleudert."
Strenger Fan
Bevor sich dieser schillernde, umstrittene, gern polarisierende Kyrgios am Freitag an seine Aufgabe gegen Weltklassemann Jo-Wilfried Tsonga machte, setzte nun Laver - oder einer seiner Helfer für ihn - auf sozialen Netzwerken zwei Botschaften ab: Er, Laver, freue sich außerordentlich auf das Knallermatch zwischen Kyrgios und Tsonga.
Und, zweitens, er favorisiere und feuere den Australier an. Der große, alte Mann wurde dann auch nicht im geringsten enttäuscht: Kyrgios gewann den Drittrunden-Thriller mit 7:6 (7:5), 4:6, 7:6 (8:6) und 7:6 (7:5) und bestätigte in der Pose des mal eiskalten, mal feurig und dennoch kontrollierten Wettkämpfers, dass man sich derzeit tatsächlich ungetrübt auf seine Spiele freuen kann. Und keine der legendären Disziplinlosigkeiten oder Motivationsprobleme erwarten muss.
"Im Moment ernte ich die Früchte einer richtig guten Saisonvorbereitung", sagte Kyrgios hinterher. Nun kommt es gleich zum nächsten Popcorn-Match im Achtelfinale, dann, wenn Kyrgios auf den amtierenden ATP-Weltmeister trifft, den formstarken, selbstbewussten Grigor Dimitrov. "Es wird ein Kampf auf Augenhöhe. Der Sieger wird dann ganz sicher eine entscheidende Rolle beim Kampf um den Titel spielen", vermutet Ex-Superstar John McEnroe, derzeit in Melbourne wieder einmal als TV-Plaudertasche im Einsatz.
Ungewöhnlich normal
Kyrgios, lange Zeit neben dem erratischen, schlicht gestrickten Landsmann Bernard Tomic die zweite australische Tennis-Skandalnudel, wirkt dieser Tage beinahe wie ein ganz normaler, nicht allzu auffälliger Profi. Wie jemand, der sich auf das Wesentliche konzentriert und Spaß an seinem Job hat.
Selten in seiner Karriere war Kyrgios über einen so langen Zeitraum wie gerade jetzt zu Jahresbeginn 2018 stabil und berechenbar, immerhin eröffnete er die laufende Kampagne schon mit einem Pokaltriumph beim Wettbewerb in Brisbane - der Gegner dort im Endspiel: Dimitrov, auch so einer, dem jahrelang schon Großes vorhergesagt wird, der aber bis zu seinem WM-Coup im November in London nicht den Biss und die Zähigkeit besaß, seine Talente zu veredeln.
Kyrgios scheint sich gefangen zu haben. Jedenfalls für den Moment. Vielleicht hat es auch mit der Stiftung zu tun, die er für benachteiligte Kinder gegründet hat und der er jüngst erst 100.000 australische Dollar extra spendete. Er wolle als jemand in Erinnerung bleiben, "der anderen Menschen geholfen hat", sagt Kyrgios, "nicht unbedingt als toller Tennisspieler." Es könnte aber auch sein, dass ihm irgendwann noch beides gelungen sein wird, der herausragende Professional und der gute Mensch Kyrgios zu sein.