Von Jörg Allmeroth aus New York City
In der kunterbunten, leicht chaotischen Welt des Damentennis fällt der Durchblick nicht immer ganz leicht. Allein in den letzten Wochen gab es schon wieder zwei neue Nummer-1-Spielerinnen zu bestaunen, erst die Tschechin Karolina Pliskova - und nun auch noch, bereits feststehend, die Spanierin Garbine Muguruza, direkt nach den US Open. Der Kampf um die Spitze, um ein wenig Dominanz erinnere schon an ein Lotteriespiel, meinte zu Beginn des Grand-Slam-Spektakels in New York die legendäre Martina Navratilova, "man weiß eigentlich nur, dass man nichts Genaues weiß.
Viele können den Hauptpreis ziehen, aber auch eine Niete." Weil nicht weniger als acht Spitzenkräfte die Chance hatten, im Big Apple den Thron zu erobern oder ihn zu verteidigen, sprach auch Ex-US-Star Chris Evert von einem großen "Überraschungspaket": "Du musst auf alles gefasst sein."
Man kann nun allerdings getrost sagen, dass sich das Damentennis auf der Zielgeraden der Grand-Slam-Saison 2017 noch einmal selbst übertroffen hat - mit der Sensationsbesetzung dieses US Open-Finales, mit den beiden Amerikanerinnen Sloane Stephens (24) und Madison Keys (22). Natürlich gab es die üblichen Phrasen vor den Ausscheidungsspielen: Das Feld sei offen, ohne Tennis-Mutter Serena Williams oder andere ehedem dominante Figuren wie Victoria Azarenka könne es viele treffen mit einer plötzlichen Siegchance.
Fragile Zukunftshoffnungen
Aber wer wäre bei all diesem Rätseln und Spekulieren auf Stephens gekommen, die noch vor ein paar Wochen als unglückliche Verliererin der beiden ersten Matches nach ihrem Verletzungscomeback Weltranglisten-Platz 957 belegte? Oder wer hätte diesen Finalcoup auch Madison Keys zugetraut, einer guten Freundin von Stephens, einer Spielerin, die sich auch nach zwei Handgelenksoperationen so langsam wieder aufrappelte. Und die in amerikanischen Tenniskreisen nur zu gern als eins dieser ewigen Talente abgeschrieben war, als Möchtegern-Erbin der beiden Williams-Schwestern.
Auch jetzt muss man vorsichtig sein, zum Beispiel mit Schlagzeilen, die Zukunft des amerikanischen Frauentennis sei in der Gegenwart angekommen. Dafür ist zu viel im Fluss in der Branche, gewonnene Matches und Pokalerfolge sind immer nur eine Momentaufnahme - wenig bis nichts hat Bestand auf der weiblichen Tennistour, Angelique Kerbers Aufstieg und Fall ist ein warnendes Beispiel.
Immerhin haben Stephens und Keys ein Blitzlicht erzeugt, ein Ausrufezeichen gesetzt, Aufmerksamkeit geschaffen. Endlich sprechen alle einmal nicht über die fabelhaften Williams-Schwestern und deren späte Triumphe, sondern über eine andere Generation.
Die Nachfolgerinnen der 37-jährigen Venus und der 36-jährigen Serena melden sich zu Wort, noch dazu im richtigen Moment. Auf der heimischen Bühne, in New York, bei dem Tennis-Ereignis, das in der Heimat immer noch am meisten zählt. Es war verständlich, dass Stephens nach dem persönlichen Tenniswunder der letzten Wochen, einem irre beschleunigten Comeback hinein ins Finale hinein, fast euphorisch erklärte: "Es gibt keine Fragezeichen mehr."
One-Hit-Wonder?
Damit meinte sie den Status des Frauentennis in den USA. Aber die Wahrheit ist das nicht. Die Wahrheit ist, dass in den nächsten Monaten und Jahren schon wieder alles ganz anders sein kann. Mit ganz anderen Siegerinnen, mit anderen Triumph-Geschichten. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine der beiden Finalistinnen, also Stephens oder Keys, ein One-Hit-Wonder bleiben wird, ist jedenfalls größer als das Gegenteil - nämlich eine neue, dauerhaft regierende Tenniskönigin made in USA.
Es ist zunächst ein vor allem persönlich eindrucksvoller Moment, dieses rein amerikanische Damenendspiel. Keys (WTA 16) und Stephens (WTA 83) standen beide schon einmal in einem Grand-Slam-Halbfinale, vor zwei bzw. vier Jahren, aber danach verschwanden sie aus der öffentlichen Wahrnehmung - und auch aus der engeren Weltspitze. Die Freundinnen schlugen sich mit Verletzungen herum, Stephens sogar bis in diesen Sommer hinein.
Im April war Stephens noch für den Sender Tennis Channel tätig, während ihre Kolleginnen um Spiele, Sätze und Matches kämpften. "Es ist verrückt, wie auf einmal alles zusammengepasst hat", sagt die 24-jährige, die mit großartiger Defensivkunst Venus Williams ausgeschaltet hatte. Schon bei den letzten Vorbereitungsturnieren war sie formstark aufgefallen, hatte u.a. Gegnerinnen wie Kerber, Safarova, Kvitova oder Görges geschlagen. Und nun: Das mittelschwere Tenniswunder von New York. Finale, möglicher Grand-Slam-Ruhm, als erste Amerikanerin außerhalb der Williams-Dynastie seit 1998. "Unglaublich ist noch untertrieben für diesen Lauf hier", sagt Stephens. Aber es ist eben auch das Damentennis des Jahres 2017. Nichts ist unmöglich, nichts.