Von Jörg Allmeroth aus Wimbledon
Als Angelique Kerber vor gut zwei Wochen in London ankam, war selbst Aljoscha Thron ein wenig über seine Chefin erstaunt. Thron ist der Manager und Agent von Kerber, promovierter Mediziner eigentlich, nun ein hochqualifiziertes Mädchen für alles, einer, der Verträge macht, mit den Medien dealt und das Tennis-Unternehmen operativ leitet. Thron war allerdings auch mal ein hoffnungsvoller Nachwuchsprofi, aus seinem großen Karrieretraum ist zwar nichts geworden, aber er weiß, wie Spieler und Spielerinnen ticken.
"Angie hatte seit dem ersten Tag das Ziel so total klar vor Augen hier, sie war immer hochkonzentriert, ganz in ihre Aufgabe versunken, das war unglaublich. Das Ziel, in Wimbledon um den Titel zu spielen", sagt Thron, "sie ist jetzt noch nicht zufrieden. Sie will unbedingt den letzten Schritt gehen." Gewinnen. Am Samstag, im Finale. Gegen Serena Williams. Gegen die Frau, die Kerber vor zwei Jahren den Spaß verdarb am Endspielsamstag.
"Bin reifer und stärker geworden", sagt Kerber
Es ist eine Partie, die mit höchster Symbolik aufgeladen ist. Für Williams, die bei ihrem erst vierten Turnier nach der Geburt von Töchterchen Olympia und der Babypause schon wieder im größten Endspiel des Tennisjahres steht - und zum achten Mal die Venus Rosewater-Trophäe über den Kopf recken kann.
Aber erst recht für Kerber, die nach einer Achterbahnfahrt im Tennis und ein wenig auch im Leben überhaupt wieder da angekommen ist, wo sie war: Im Leistungs- und Stimmungshoch, bereit für eine Großtat auf der schillerndsten Bühne des Tennis-Universums. Sogar noch besser, kompletter, ausgereifter als damals, 2016, auf dem Centre Court, als sie Williams zwar einen Riesenfight lieferte, aber knapp und unglücklich verlor. "Ich kenne mich jetzt besser als Tennisspielerin und als Mensch. Ich bin reifer und stärker geworden", sagt Kerber.
Was auch heißen soll: Die Verwundungen, Enttäuschungen, Rückschläge, die es bei der Vertreibung aus dem Tennis-Paradies gab, haben ihr eine neue Statur verliehen. Das Selbstbewusstsein Kerbers, herausgefunden zu haben aus der tiefen Krise, spürt man auch in Wimbledon auf Schritt und Tritt. "Angie hätte es nach zwei Grand Slam-Siegen und Platz eins auch ruhig ausklingen lassen", sagt die langjährige Fed Cup-Kapitänin Barbara Rittner, "aber ihr Hunger, ihr Ehrgeiz, ihre Leidenschaft sind einfach noch gewaltig. Sie ist noch längst nicht satt."
Schwieriger Trainerwechsel erfolgreich
Kerber ist eine sehr zurückgezogene, auch zurückgenommene Persönlichkeit. Ihre Welt ist eine kleine Welt, in der es nur ganz wenige Vertraute gibt. Kerber war nie eine, die Veränderungen mochte. Vertrauen faßt sie bloß zu einem überschaubaren Kreis von Menschen, allem voran zur Familie. Deshalb war der Schritt, den sie am 16. November 2017 auch öffentlich publik machte, keineswegs so selbstverständlich, wie viele glauben mochten.
An jenem grauen Herbsttag wurde die Trennung von Trainer Torben Beltz offiziell, dem Mann, der sie auf dem Weg zu zwei Major-Pokalen und auf den Gipfel der Rangliste begleitet hatte. Kerber hatte eingesehen, dass etwas passieren musste in ihrer Firma, dass sie mit Investitionen und Innovationen ins Risiko zu gehen hatte - schließlich war das Jahr 2017 so etwas wie ein Nullsummenspiel gewesen. Am Ende war sie sogar noch von Julia Görges überholt worden in den Tennischarts - unfassbar eigentlich, denn Kerber hatte die Saison als Nummer 1 eröffnet.
Beltz ging, es kam Wim Fissette, der belgische Übungsleiter. Kerber sagte, es sei "ihr nicht leicht gefallen", und das war keine hohle Phrase wie sonst in diesen Scheidungspapieren. Schon bald begannen die neuen Partner mit dem Vorbereitungsprogramm auf die neue Saison, und Thron, der Geschäftsbesorger, erinnert sich, "dass der Fokus schon seinerzeit mit ganzer Macht auf Wimbledon lag": "Man dachte, es gibt eine Anlaufzeit, man muss sich ein paar Monate aneinander gewöhnen. Und dann soll eben alles gerichtet sein, wenn Wimbledon beginnt."
Wimbledon, es gilt im übrigen nicht nur für Kerber, ist immer noch ein Leuchtturm im Tennisjahr, es ist ein Platz, mit dem sich besonders für die Deutschen ikonische, sporthistorische Momente verbinden: Der 17-jährige Leimener Boris Becker, sein Sieg 1985, der auf einer Stufe mit den WM-Titeln im Fußball oder olympischen Glanzlichtern steht. Steffi Grafs Dominanz auf dem Heiligen Rasen. Der gemeinsame Sieg von Becker und Graf 1989. Das deutsche Endspiel zwischen Becker und Stich 1991. Wimbledon war einige Jahre so wichtig wie heute jede Regung der sogenannten "Mannschaft".
Wimbledon: Immer noch ein Stückchen bedeutsamer als alles andere
Auch Kerber hat diese Erinnerungen im Gepäck. Sie sagt, dass sie früher "Stunde um Stunde" vor dem Fernseher gesessen hat, den weißen Dress der Spieler bewunderte, dieses einzigartige, unverwechselbare Flair: "Wimbledon ist ein Tennisturnier wie kein zweites", sagt die 30-jährige. Sie hat auch selbst erlebt, dass sich in Wimbledon Siege und Niederlage vergrößern, dass alles eine ganz andere Bedeutung als anderswo bekommt.
Wimbledon ist ein Gefühlsverstärker, im Guten wie im Schlechten. 2011, nach einer Niederlage gegen die Britin Heather Watson, wollte Kerber sogar mit dem Tennis aufhören. Mutter Beata Kerber erinnerte sich später so an diesen Moment: "Sie kam zu Hause an, warf ihre Tennistasche in die Ecke und sagte: Ich kann es einfach nicht. Es hat alles keinen Sinn mehr." Ein Jahr später indes, es war das erste große Comeback in ihrer Profizeit, stand sie plötzlich im Halbfinale - schon ganz dicht dran am großen Glück.
Damals ging es eher um Fragen der Fitness, bei diesem Umschwung. Kerber arbeitete energischer an ihrer Beweglichkeit, Drahtigkeit, Ausdauer, an einem neuen Körpergefühl, um aus dem Tief herauszukommen. Doch bei dem Dreh nach dem Seuchenjahr 2017 war es eine Charakterfrage, die Kerber sich und ihren Parteigängern zu beantworten hatte, die Frage, ob sich auf eine Mission mit neuen Köpfen einlassen würde, auf eine Reform ihres zu eingefahrenen Spiels auch.
Die Antwort gab sich das veränderte Team Kerber schneller als erwartet: Bei den Australian Open im Januar verpaßte die Deutsche mit Coach Fissette nur hauchdünn das Endspiel, nach zwei vergebenen Matchbällen im Halbfinale gegen die Rumänin Simona Halep. Kerber hatte da schon offensiver gewirkt, auf und neben dem Platz. Sie nahm noch viel öfter als früher die Dinge in die eigene Hand, kam buchstäblich aus ihrer statischen Verteidigungshaltung heraus.
Nummer-1-Stress ist weg
Sie wirkte nun auch wie von einer Last befreit, weil diese ganzen lästigen Verpflichtungen, die sie etwa als Nummer eins zu erfüllen hatte, von ihr abgefallen waren. Kerber will ja am liebsten einfach nur erfolgreich Tennis spielen, so wie ihre Mentorin Steffi Graf früher. Das Blitzlichtgewitter und die Auftritte auf glattem Parkett und auf roten Teppichen waren vorübergehend ganz schön für sie, als Belohnung, als Bestätigung für die knochenharte Arbeit zuvor, aber bald waren sie Kerber auch wieder lästig geworden. Dass sie sich 2018 langsam wieder an die Weltspitze herantastete, blieb lange Zeit eher im Verborgenen, ein großes internationales Gesprächsthema war sie auch vor Wimbledon nicht. Sehr zur Freude von Kerber selbst, sie fühlt sich als Strategin, die aus der Tiefe des Raumes kommt, absolut wohl.
Kerber betrat den All England Club als Nummer 11 der Setzliste. Bald war sie die Nummer 1 der Spielerinnen, die noch um den Pokal kämpften. Es gab ein seltsames Dahinsiechen der Topkräfte, alle zehn topgesetzten Stars schieden aus, auch Titelverteidigerin Garbine Muguruza aus Spanien. Wer blieb, war auch und vor allem Kerber.
Die Frau, die alle Kräfte und Sinne nach Wimbledon ausgerichtet hatte, vom Willen beseelt, ihr Comeback hier zu veredeln und das Ausrufezeichen für alle zu setzen: Ich bin wieder da. Hier, wo es am meisten zählt. Zu dumm nur, dass auch Williams noch da ist, die Wuchtbrumme, die Wimbledon gemeinsam mit Schwester Serena in den letzten anderthalb Jahrzehnten fest im Griff hält. Nach der Babypause ist sie zwar immer noch in den Tiefen der Weltrangliste verortet, auf Platz 181, aber sie hat bereits wieder die Aura der Chefin des Tingelbetriebs, von Miss Big Boss.
"Man ist schon ein wenig beeindruckt, wenn man sie auf der anderen Seite des Netzes sieht. Und weiß, wie oft sie hier schon gewonnen und auf dem Centre Court gespielt hat", sagte am Donnerstag Julia Görges, nachdem die Amerikanerin den Traum des deutsch-deutschen Finales zerstört hatte.
Wimbledon: Die Gewinnerinnen der letzten zehn Jahre
Jahr | Siegerin | Finalgegnerin | Ergebnis |
2008 | Venus Williams | Serena Williams | 7:5, 6:4 |
2009 | Serena Williams | Venus Williams | 7:6(3), 6:2 |
2010 | Serena Williams | Wera Swonarjowa | 6:3, 6:2 |
2011 | Petra Kvitová | Maria Sharapova | 6:3, 6:4 |
2012 | Serena Williams | Agnieszka Radwanska | 6:1, 5:7, 6:2 |
2013 | Marion Bartoli | Sabine Lisicki | 6:1, 6:4 |
2014 | Petra Kvitova | Eugenie Bouchard | 6:3, 6:0 |
2015 | Serena Williams | Garbine Muguruza | 6:4, 6:4 |
2016 | Serena Williams | Angelique Kerber | 7:5, 6:3 |
2017 | Garbine Muguruza | Venus Williams | 7:5, 6:0 |
Aber Kerber ist inzwischen selbst bestens mit den großen Arenen vertraut. Sie betritt nach dem Endspielerlebnis 2016 gegen Williams kein Neuland mehr, sie wird auf Augenhöhe herausschreiten um 15 Uhr deutscher Zeit, auch vor den Augen der Herzoginnen Kate und Meghan in der Royal Box.
Neben Sky überträgt sogar das ZDF live, Kerber hat es möglich gemacht wie so vieles in den letzten Jahren, eine Zeit, über die einer wie Boris Becker sagt: "Angie hat das deutsche Tennis auf die Landkarte zurückgebracht." Ein Sieg noch, dann wäre Kerber Wimbledon-Siegerin. Ein Sieg, der größer wäre als alle zuvor in ihrer schon bemerkenswerten Karriere. Ein Sieg, der bleibt. Wimbledon-Siegerin ist man ein ganzes Leben lang.