Die TV-Crew von Dubai Sports drängte ihn mit leicht hektischen Gesten bereits zum üblichen Blitz-Interview auf dem Centre Court. Doch Andy Murray, der Nummer-1-Spieler der Welt, ist auch ein Mann mit Gespür für die richtigen Gesten im richtigen Moment. Und so blieb Murray einfach auf seiner Pausenbank sitzen, er wollte seinem Gegner Philipp Kohlschreiber den großen, ungestörten, beifallsumrauschten Abgang lassen, den Abgang, den sich Kohlschreiber in dieser denkwürdigen Nacht auch mehr als verdient hatte. Kohlschreiber verlor zwar mit 7:6 (7:4), 6:7 (18:20) und 1:6 im Dubai-Viertelfinale gegen Murray, aber wenn ein Verlierer auch ein Sieger sein kann im Sport, dann war es der Bayer an diesem späten 2. März 2017. "Es war das beste Match meines Lebens", sagte er später in den Katakomben der Zeltdach-Arena, und wer hätte ihm da auch widersprechen können nach diesem Spektakel in der Wüstenmetropole.
Nach großem, größtmöglichem Tennis über zwei Stunden, 54 Minuten und 55 Sekunden, nach einem Thriller, der die Fans nicht nur im vollgepackten Stadion in Dubai mitriss, sondern weltweit bewegte und für einen Emotionssturm auch in den sozialen Netzwerken sorgte. Sieben vergebene Matchbälle von Kohlschreiber, ein 31-minütiger Rekord-Tiebreak im zweiten Satz, eine Sternstunde beider Spieler beim einprägendsten Match in der 25-jährigen Turniergeschichte - es war ein Kampf der Superlative, ein Duell voller Finesse und Raffinesse, ein Krimi und Thriller mit dauernder Herzinfarkt-Gefahr. "Ich glaube nicht, dass ich noch mal ein Spiel wie dieses erleben werde", sagte Murray später, "es war unfassbar." So versunken in den Fight waren die Gladiatoren aus Großbritannien und Deutschland und auch Schiedsrichter Renaud Lichtenstein, dass sie beim Stande von 15:15 im Mega-Tiebreak glatt vergaßen, die Seiten zu wechseln, sie holten es dann einfach bei 16:16 nach.
"In der Zone"
Welch ein spielerisches Feuerwerk aber brannte Kohlschreiber ab, bis zu jenem frustrierenden 38. Punkt im mehr als halbstündigen Tiebreak. Es war höchste Tennis-Kunst, sowohl in der Offensive wie in der Defensive. Siegschlag auf Siegschlag jagte er von seinem Racket, Punktgewinne mit traumwandlerischer Sicherheit und mit starkem Ego. Wenn Tennisspieler davon reden, sie seien "in der Zone", dann meinen sie das, was Kohlschreiber auf dem Centre Court von Dubai bot - ein Auftritt an den Limits, über die Limits hinweg. Er, aber natürlich auch Murray, zeigten eine Qualität, die man selbst in Grand-Slam-Finals nicht häufig zu sehen bekommt. "Ich glaube nicht, dass ich dieses Spiel je vergessen werde", sagte Kohlschreiber später, "ich bin traurig, aber auch stolz, was ich gezeigt habe."
Erst im dritten Satz, nach einem Break Murrays zum 3:1, war Kohlschreibers Widerstand und Kraft gebrochen. Da lasteten ihm auch die sieben ausgelassenen Matchbälle noch auf der Seele, diese verpassten Chancen, den Champions-League-Vortrag auch mit einem Triumph über Gipfelbewohner Murray zu veredeln. Einen dieser sieben Matchbälle, bei 8:9-Rückstand im Tie Break, hatte Murray mit einem absurden Stopp abgewehrt, von dem er später sagte, es sei "zweifellos einer der verrücktesten Bälle gewesen, die man sich nur denken kann." Wie sehr ihn das erbitterte Ringen mitgenommen hatte, bewies Murray später, als er bei seinem Journalistenplausch selbst zwischendrin eine Frage stellte, nämlich die: "Wie genau ist der Tiebreak eigentlich ausgegangen? "20:18", kam als Antwort. Murray darauf: "Wahnsinn."
Kuriose Falschmeldung
Absurd genug, dass die Spielergewerkschaft ATP mitten im Tiebreak plötzlich den Sieg Kohlschreibers verkündete. "Congratulations, Philipp Kohlschreiber", prangte da - schön wär's gewesen - als Überschrift, verbunden mit dem Glückwunsch zu seinem 400. Karriereerfolg.
Im Internet verbreitete sich die Falschmeldung kurzzeitig rasend, selbst Kohlschreibers ehemaliger Doppelpartner Christopher Kas gratulierte aus dem fernen Kalifornien freudig per Twitter - und musste sich dann zerknirscht korrigieren.
Das ATP-Turnier in Dubai im Überblick