Auf den ersten Blick sah alles so aus wie immer. Als Novak Djokovic am Freitagnachmittag den Centre Court des Tennis-Masters von Madrid betrat, hatte er die Pose des entschlossenen, selbstbewussten Wettkämpfers noch im Repertoire. Fest und schnell waren Djokovics Schritte, und als er ein paar Zuschauer und Journalisten erspähte, winkte er ihnen lächelnd zu, die übliche Charme-Attacke des Championspielers. War da irgendwas?
Wer sich die Szene bei einem der größten Turniere der Welt neben den Grand Slams etwas genauer betrachtete, merkte schnell, dass nichts mehr so war wie früher, wie immer. Djokovic, der Mann, der die Professionalität in der Weltspitze des Herrentennis mit einem erstklassigen Servicetrupp in neue Dimensionen geführt hatte, stand praktisch ganz allein in der Arena in Madrid, einsam und verlassen. Alle Weggefährten und Freunde, die ihn über Jahre eines schweren, harten Aufstiegs in die Weltspitze begleitet hatten, waren wie vom Erdboden verschwunden - es war ein merkwürdiges Bild, ein gewöhnungsbedürftiges dazu, Djokovic und seine Leute, das eine schien es ohne das andere gar nicht geben zu können.
Radikale "Schocktherapie"
Doch es stimmte ja, es war nicht ein Trugbild, es war auch nicht so, dass sich die Entourage einfach nur verspätet hatte oder ausnahmsweise nicht gebraucht wurde: Djokovic hatte sie allesamt, nicht mehr, nicht weniger, knallhart vor die Tür gesetzt, Marian Vajda, den slowakischen Coach, der ihn seit 2006 betreut hatte. Gebhard Gritsch, den Österreicher, der ihm als genialer Ernährungs- und Fitnessberater gedient hatte. Und auch Miljan Amanovic, den Landsmann, den Physiotherapeuten mit den magischen Händen. Schnell noch an jenem Freitag, kurz vor dem ersten Training in Madrid, hatte er es der Tenniswelt mitgeteilt. Ein langer Text war es, viele Worte, viele Erklärungen, viele Statements der Verabschiedeten. Viel Verständnis für die Trennung. Aber eine simple, umstoßende Botschaft zuletzt, im Kern: Ich, Novak Djokovic, gehe jetzt einen radikal anderen Weg.
"Schocktherapie" nannte es der Weltranglisten-Zweite, und in der Tat ist es das: Der Abschied von allem Gewohntem, Vertrautem. Und von allen Helfern und Buddies, die mit daran wirkten, dass er die dominierendste Nummer 1 der Welt wurde. Und schließlich auch zu jenem Gladiator wurde, der alle vier Grand Slam-Schauplätze eroberte. Die Aufkündigung langjähriger Beziehungsverhältnisse, sie fühlte sich, jedenfalls in Djokovics Lesart, wie der Beginn "von etwas ganz Neuem" an: "Ich liebe diese Herausforderung", schrieb er. Und: "Ich bin ein Jäger. Ich will stärker zurückkommen jetzt, im neuen Kapitel meines Lebens."
Wendepunkt Roland Garros
Die Zeitenwende in Djokovics Tennisleben, die Momente, in denen sich alles drehte und wendete, all das wird gerade in einem neuen Buch beschrieben. Die französische Journalistin Carole Bouchard hat es veröffentlicht, es heißt "Das Streben" und thematisiert den jahrelangen verzweifelten Anlauf des Serben zum Grand Slam-Triumph in Paris. Die French Open, der Titel in Roland Garros - das war Djokovics Obsession, es war der letzte Pokal, der ihm fehlte in seiner erlesenen Sammlung. 2015 spielte er das beste Jahr, das überhaupt ein Profi je gespielt hat, aber bei den French Open schlug ihn in einem dramatischen Match der Schweizer Stan Wawrinka. Ein Jahr später, im Juni 2016, war es dann soweit: Djokovic strahlte als Pariser Titel-Held von den Zeitungsseiten, seine Karriere war vollendet. Und im nächsten Moment, fast unheimlich, war die Luft komplett raus bei ihm, dem Alleinherrscher des Tennis, der zwischenzeitlich sogar einmal alle vier Grand Slam-Titel in seinem Besitz gehalten hatte. "Es war so, als ob er plötzlich keine Ziele mehr gehabt hätte. Die Motivation war weg, die Lust, auf den Trainingsplatz zu gehen", sagt Boris Becker, der frühere Cheftrainer von Djokovic.
Becker verabschiedete sich nach der letzten Saison aus Djokovics Camp, es hatte auch mit dem spanischen Guru Pepe Imaz zu tun, dem Djokovic neuerdings Gehör und Vertrauen schenkte. Imaz, ein ehemaliger Profi aus der Zweiten bis Dritten Liga, predigt seinen Jüngern eine Frieden-und-Liebe-Religion, doch Becker und auch Vajda, den wichtigsten sportlichen Ratgebern, war der Esoteriker sehr suspekt. Sie wissen, dass im Welttennis in anderen Währungen gerechnet wird. Becker, das hört man nun unter der Hand von Djokovics geschassten Dienstleistern, habe wohl rechtzeitig den Absprung geschafft, ohne das jetzige Tohuwabohu, ohne die Dramatik der jetzigen Rausschmisse.
Suche nach dem "Siegesfunken"
Wie geht es weiter für Djokovic? Er ist im Moment weiter, eher aber noch die Nummer 2 der Weltrangliste. Er spielt nicht wie der zweitbeste Tennisspieler des Wanderzirkus, er ist eher jemand, der froh sein darf, wenn er einmal die Finals bei den Topwettbewerben erreicht. Alles deutet darauf hin, dass Djokovics allergrößte Karriere-Aufgabe sein könnte, noch einmal die Nummer 1 zu werden, Grand Slam-Titel in Paris, Wimbledon oder New York zu gewinnen. Es gelte, den "Siegesfunken" zu finden, sagt Djokovic. Doch wo und wann kommt eine neue Initialzündung? Und mit wem, mit einem neuen Trainer, mit neuem Team? Oder vertraut Djokovic am Ende am liebsten sich selbst. Vor einem Jahr war er noch die Nummer 1, der Titan, der Über-Spieler. Jetzt ist er ein Rätsel, in einem paradoxen Absturz. Dieser Absturz ist größer, als sein augenblicklicher Platz 2 in der Weltrangliste verrät.
Das ATP-Ranking im Überblick