Eigentlich wußte Rafael Nadal schon länger, wie alles enden würde in London. Jedenfalls nicht mit dem regulären Ende, dem sportlichen Aus, einem Scheitern auf dem Centre Court. Er war im Grunde bloß nach London gereist, um nicht schon wieder von vornherein absagen zu müssen, gerade jetzt, wo er als Nummer 1 der Welt in diesen Titelkampf ging. "Ich hatte eine Pflicht gegenüber dem Turnier, auch gegenüber mir selbst", sagte Nadal in der Nacht zum Dienstag, als er seinen Zwangsabschied von dieser ATP-Weltmeisterschaft 2017 bekanntgab. Ein letztes Mal hatte er sich auf den Platz gestellt, ein Mal zu viel sicher, wenn es nach seinen Trainern und Beratern ging - aber Nadal spielte gegen alle Vernunft, verlor gegen den Belgier David Goffin in drei umkämpften Sätzen und sagte hinterher in aller gebotenen Klarheit: "Das war´s. Ich höre auf, die Saison ist beendet." Und dann wünschte er den Zuhörern seines letzten öffentlichen Auftritts noch schnell "frohe Weihnachten."
Nadal ist nicht nur die Nummer 1 der Welt zum Saisonabschluss, nun schon zum vierten Mal in seinem Tennisleben. Er ist gleichzeitig auch der Schmerzens-Weltmeister, der Mann, der immer wieder mit leidensverzerrter Miene im Wanderzirkus umherreist und Spiele spielt, die er besser nicht spielen sollte. Schon rund drei Jahre hat er in seiner Karriere zusammengenommen pausieren müssen, und selbst wenn er die großen Bühnen betrat, tat er es öfters verletzt oder angeschlagen. "Ich kenne niemanden, der mit mehr Schmerzen lebt als Rafa", sagt selbst sein Trainer und Onkel Toni Nadal, "niemand außer ihm kann das wegstecken." Nach dem Triumph bei den US Open folgte für den Matador aus Manacor einmal mehr auf der Zielgeraden einer auszehrenden Saison der Herbst des Missvergnügens. Nadals spielte körperlich im tiefroten Bereich, er sagte auch einige Turniere ab. In Paris diskutierte er bereits kurz vor den ATP Finals mit seinem Team, ob er dort antreten sollte. Alle waren dagegen, nur Nadal dafür. Nadal flog schließlich an die Seine, aber vor seinem Viertelfinalmatch warf er wegen seiner alten, neuen Knieprobleme das Handtuch. Spätestens da war klar, dass aus den Titelambitionen in London nichts werden würde.
Ungeklärte Comeback-Termine
Die Verletzungsmisere in der engeren Weltspitze erreicht mit Nadals Rückzug einen neuen Höhepunkt. Denn von den Big Four, die seit mehr als einer Dekade das Geschehen auf dem Gipfel prägen, ist jetzt auf der Zielgeraden der Spielzeit 17, beim WM-Fight, nur der unermüdliche Roger Federer übrig geblieben. Andy Murray und Novak Djokovic, die WM-Finalisten des Vorjahres, hatten sich wegen komplizierter Verletzungen gar nicht qualifiziert, beide setzen gerade alle Hoffnungen auf ein erfolgreiches Comeback in 2018. Wobei gerade im Falle Djokovics noch längst nicht klar ist, wann diese Rückkehr genau stattfinden kann und soll. Offenbar, das deutete gerade Djokovics Berater Andre Agassi an, habe der Serbe eine Fraktur im rechten Ellbogen verschleppt. Im Lazarett der Topstars herrscht, bitter genug, Hochbetrieb: Auch der dreimalige Grand Slam-Sieger Stan Wawrinka, der Kanadier Milos Raonic und das japanische Ass Kei Nishikori sind schon länger außer Gefecht gesetzt, allesamt auch WM-Teilnehmer 2016.
Nadal hatte wie Federer davon profitiert, dass er sich im letzten Spieljahr eine längere Pause zur Regneration genommen hatte. Anders als der Maestro stürzte sich Nadal aber 2017 in die anspruchsvollen Abnutzungskämpfe im Sand, bis hin zum grandiosen zehnten Titelcoup in Paris. Federer schaute bloß zu, für ihn machten die Ausflüge auf die Ascheplätze keinen Sinn. So blieb er, mit kleinen Abstrichen, fit bis zum Saisonende, bis nach London. Nadal lächelte am Sonntag in die Kameras, als man ihm die Nummer 1-Trophäe für das Jahr überreichte, aber es könnte ein Pyrrhussieg gewesen sein, der Sieg im Duell um den Platz ganz oben auf dem Gipfel. Auch bei ihm, dem Mann, dessen Spiel so viel Substanz kostet, stellt sich nun die Frage: Wann kehrt er überhaupt zurück auf die Tour? Und sind die Probleme dann wirklich beseitigt? Immerhin ist der Spanier nun auch schon 31 Jahre alt. Und er hat schon knapp 15 Jahre im Wanderzirkus hinter sich. Tennisjahre, von denen Nadal kürzlich so sprach wie einst Boris Becker: "Das sind Hundejahre."