"Bereits um 9 waren es 16.000 E-Mails": Wie eine englische Zeitung Schiedsrichter Urs Meier zerstören wollte

Jochen Tittmar
24. Juni 202411:29
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Urs Meier war 27 Jahre lang Schiedsrichter und leitete 883 Spiele, darunter das Champions-League-Finale 2002. Die wohl brisanteste und folgenreichste Entscheidung traf der Schweizer heute vor 20 Jahren - beim EM-Viertelfinalspiel zwischen Portugal und England am 24. Juni 2004.

Im Interview spricht Meier über den Pfiff gegen England, das beim Stand von 1:1 in der 89. Minute den vermeintlichen Siegtreffer erzielte. Am Ende gewann Gastgeber Portugal mit 6:5 im Elfmeterschießen und zog ins Halbfinale ein.

Gegen den heute 65-Jährigen entbrannte daraufhin eine extreme Kampagne englischer Boulevardzeitungen, die Meier mehrere Tage in Folge auf die Titelseiten hievten, in dessen Privatleben herumschnüffelten und ihn in ein Versteck zwangen.

Herr Meier, lassen Sie uns die konkrete Spielsituation noch einmal vor Augen führen: Michael Owen köpfte einen Freistoß von David Beckham an die Latte. Den Abpraller drückte Sol Campbell per Kopf ins Tor, doch Keeper Ricardo wurde beim Luftkampf um den Ball von John Terry behindert. Sie sagen,Sie haben sich bei der Bewertung der Szene vor allem auf Ihr Bauchgefühl verlassen. Wäre das heutzutage ein ideales Beispiel für den Einsatz des VAR?

Urs Meier: Das mag sein, aber letztlich bleibt die Frage: Aus welchen Blickwinkeln hätte man die Szene gezeigt? Hätte der Videoschiedsrichter das Foulspiel gesehen oder nicht? Da können wir uns ja leider nicht sicher sein. Ich würde vielmehr ein großes Fragezeichen dahinter machen. Ich könnte nicht mit Sicherheit sagen, ob man das als so entscheidend wahrgenommen hätte. Meiner Meinung nach muss der Schiedsrichter auf dem Feld eine solche Situation sehen oder zumindest spüren, ob es eine natürliche oder unnatürliche Szene war.

Ihr Bauchgefühl ließ Sie extrem früh pfeifen. Der Ball war kaum im Tor, da kam schon Ihr Pfiff. Das ist ja eigentlich ein Indiz dafür, dass Sie sich sehr sicher gewesen sein mussten.

Meier: Das war ich auch. Ich wusste sofort, dass da etwas nicht stimmt. Sol Campbell stand mit dem Kopf 2,50 Meter in der Luft. Dann hätte die Hand von Torhüter Ricardo irgendwo in der Nähe seines Gesichts sein müssen - aber das war sie nicht.

Ihr Linienrichter Rudolf Käppeli hatte auf Tor entschieden. Hat Sie das nicht stutzig gemacht?

Meier: Nein, das habe ich gar nicht gesehen. Ich habe ihn aber auch nicht kontaktiert, weil ich ihn in dieser Situation nicht brauchte. Das war eine Szene für den Schiedsrichter, nicht für den Linienrichter.

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