Der einstige Stürmer Antoine Griezmann ist bei der WM in Katar das Mittelfeld-Herzstück der französischen Nationalmannschaft. Über die Neuerfindung eines 31-Jährigen.
Die Geschichte des zentralen Mittelfeldspielers Antoine Griezmann beginnt im Oktober 2019 in Reykjavik. Frankreich mühte sich bei einem EM-Qualifikationsspiel gegen Island zu einem 1:0-Sieg. Griezmann bereitete zwar Olivier Girouds entscheidendes Tor vor, glänzte ansonsten jedoch hauptsächlich im Spiel gegen den Ball.
"Du würdest einen guten defensiven Mittelfeldspieler geben", soll Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps danach zu Griezmann gesagt haben. "Du hast alles, um eine große Sechs zu sein." Berichten zufolge wurde herzlich gelacht, Deschamps meinte es aber offenbar ernst und kam drei Jahre später auf der größtmöglichen Bühne darauf zurück.
Nachdem er Griezmann zuletzt vorrangig als Zehner eingesetzt hatte, machte er ihn bei der WM in Katar zwar (noch) nicht zum Sechser, aber immerhin zum Achter. In einer Mischform aus 4-3-3- und 4-2-3-1-System ist der einstige Angreifer das neue Mittelfeld-Herzstück des amtierenden Weltmeisters. Er ist einer der Protagonisten beim Sturm ins Halbfinale, wo es am Mittwoch um 20 Uhr gegen Marokko geht.
Antoine Griezmann löste Henry und Zidane ab
Die Versetzung ins Mittelfeld ist nicht Griezmanns erste Neuerfindung: Seinen Durchbruch bei Real Sociedad San Sebastian feierte er einst als Flügelspieler, ehe er sich bei Atlético Madrid zu einem Weltklasse-Stürmer entwickelte. Als Angreifer prägte Griezmann auch Frankreichs Offensivspiel jahrelang maßgeblich. Bei der Heim-EM 2016 avancierte er zum Torschützenkönig, zum WM-Titel 2018 steuerte er vier Treffer bei.
Das letzte seiner bis dato 42 Länderspieltore liegt aber schon über ein Jahr zurück. Das Toreschießen übernehmen mittlerweile andere, der wuchtige Olivier Giroud oder der blitzschnelle Kylian Mbappé. Statt Griezmann aus der Mannschaft zu nehmen, schob ihn Deschamps einfach nach hinten. Und dort ist er eine Offenbarung: Griezmann glänzt mit einem beachtlichen Laufpensum, energischem Pressing, mit klugem Zweikampfverhalten, wichtigen Ballgewinnen, traumhaften Pässen aus der Tiefe und einem guten Raumgefühl.
Darüber hinaus verzeichnete er bei dieser WM schon drei Assists, zwei beim 2:1-Viertelfinalsieg gegen England am Samstag. Damit schraubte er sein Vorlagen-Konto im Nationaltrikot auf 28 und zog in der ewigen Bestenliste an Thierry Henry und Zinédine Zidane vorbei. Im ganzen Turnier kreierte Griezmann bereits 17 Chancen, mehr als Argentiniens Lionel Messi auf Platz zwei (16) und jeder andere Spieler.
WM 2022: Spieler mit den meisten kreierten Torchancen
Spieler | Nation | Kreierte Torchancen |
Antoine Griezmann | Frankreich | 17 |
Lionel Messi | Argentinien | 16 |
Ousmane Dembélé | Frankreich | 11 |
Theo Hernández | Frankreich | 11 |
Dusan Tadic | Serbien | 10 |
Cody Gakpo | Niederlande | 10 |
Die Versetzung als strategische Entscheidung
Traurig scheint Griezmann über die Rückversetzung übrigens nicht im Geringsten zu sein, ganz im Gegenteil. "Über Tore mache ich mir keine Gedanken. Die Mannschaft braucht mich im Herzen des Spiels", betonte Griezmann kürzlich. "Ich fühle mich frei in dieser neuen Rolle. Ich bin die Verbindung zwischen Abwehr und Angriff."
Deschamps lobte Griezmann für "Übersicht, Arbeitseifer, Technik, Energie und Intelligenz". Nach eigener Auskunft habe der Nationaltrainer zwischenzeitlich auch überlegt, Griezmann als Rechtsaußen anstelle von Ousmane Dembélé aufzustellen: "Aber dort wäre er für die Mannschaft nicht am nützlichsten."
Tatsächlich ist Griezmanns Versetzung ins Mittelfeld neben Aurélien Tchouaméni und Adrien Rabiot mit Blick auf den französischen WM-Kader eine mutige, aber strategisch äußerst kluge Entscheidung. So löste Deschamps nämlich gleich zwei Probleme: Das Überangebot im Sturm und den Mangel im Mittelfeld. Frankreich verfügt zwar über viele herausragende und formstarke Angreifer, nach den verletzungsbedingten Ausfällen von Paul Pogba, N'Golo Kanté und Corentin Tolisso fehlt es aber an zentralen Mittelfeldspielern.
Antoine Griezmanns beeindruckende Serie
Und so setzt Griezmann seine beeindruckende Serie eben in neuer Rolle fort: Mittlerweile kam er in 71 Länderspielen hintereinander zum Einsatz, Patrick Vieiras vorherigen Rekord von 44 übertraf er schon vor Monaten. Womöglich sogar noch beeindruckender ist, dass Griezmann seit seinem Nationalmannschaftsdebüt im März 2014 kein einziges Pflichtspiel verpasst hat. Lediglich bei vier Freundschaftsspielen fehlte er. Zurückzuführen ist diese Serie auf ein inniges Vertrauensverhältnis zwischen Griezmann und Deschamps, der seinen Immer-Spieler trotz schwierigen Jahren nicht fallen ließ.
2019 wechselte Griezmann für 120 Millionen Euro von Atlético zum FC Barcelona, erfüllte die in ihn gesteckten Erwartungen aber nicht und kehrte 2021 per Leihe reumütig zurück. Auch bei Atlético knüpfte er seitdem nicht an einstige Leistungen und Torquoten an. Zumeist als Teil einer Doppelspitze eingesetzt, gelangen ihm in eineinhalb Jahren wettbewerbsübergreifend nur 13 Tore.
Dazu kam Ärger abseits des Platzes, weil zwischen den beiden Klubs Uneinigkeit über eine Kaufpflicht herrschte. Beigelegt wurde der Streit schließlich Anfang Oktober mit einem festen Transfer für 20 Millionen Euro. Neuerdings weiß man: Damit hat Atlético nicht nur einen alternden Stürmer an sich gebunden, sondern auch einen aufstrebenden Mittelfeldspieler.