Julian Baumgartlinger spielte fünf Jahre lang für den 1. FSV Mainz 05 und wechselte im Sommer 2016 zu Bayer Leverkusen. Dort fand der 30-Jährige eine Perspektive vor, die Baumgartlinger besonders wichtig war: die Champions League.
Im Interview spricht der Kapitän der österreichischen Nationalmannschaft über seine Meinung zu Pyrotechnik, das Niveau der Bundesliga, den Rechtspopulismus und die Zeit unter Thomas Tuchel.
SPOX: Herr Baumgartlinger, seit etwas mehr als einem halben Jahr sind Sie Vater einer Tochter. Wie fällt Ihr Zwischenfazit aus?
Julian Baumgartlinger: Es stimmt tatsächlich, was alle anderen Väter sagen: Erst wenn man selbst Papa ist, kann man nachvollziehen, welch überragendes Gefühl das ist. Es ist eine schöne und grundlegende Veränderung in meinem Leben. Die Schwerpunkte hat es ein bisschen verschoben, aber diese neue Richtung gefällt mir gut. Und entgegen dem Vorurteil, dass die Nächte mit Kindern immer sehr kurz sind, kommen ich zu ausreichend Schlaf.
SPOX: Die Geburt wäre ein möglicher Anlass, um sie in den sozialen Medien mit Ihren Fans zu teilen. Sie haben mittlerweile aber all Ihre Accounts abgeschaltet. Wieso?
Baumgartlinger: Zum einen ging es mir um die Zeitersparnis, zum anderen waren für mich auch keine sinnvollen Posts mehr möglich, bei denen ich gesagt hätte, die generieren irgendeinen Mehrwert. Private Dinge will ich ohnehin nicht weitergeben.
spoxSPOX: Gab es von irgendeiner Seite Einspruch?
Baumgartlinger: Nein, in erster Linie war das meine Entscheidung. Die Menschen, die mir auch beratend zur Seite stehen wissen, dass ich meine Entschlüsse eigenständig treffen kann.
SPOX: Es bleibt dennoch ein heutzutage eher unüblicher Schritt.
Baumgartlinger: Weil es schlicht gesellschaftlicher Zeitgeist geworden ist. Jede Firma, jede Branche, jeder Star ist dort vertreten und kann damit hohe Werbewerte generieren. Ich sehe mich aber nicht als Fußballstar, deshalb ergab das für mich bald keinen Sinn mehr. Es ist ja vollkommen egal, was man postet: Es gibt immer nur schwarz oder weiß, nur blöd oder super, nichts dazwischen. Mir fehlen die Grauzonen.
SPOX: Es erscheint paradox, wenn viele Fußballer einerseits das Thema soziale Medien selbständig in die Hand nehmen, ihnen auf der einen Seite aber nachgesagt wird, nicht mehr eigenständig genug zu sein. Wie beurteilen Sie das?
Baumgartlinger: Ich sehe es differenzierter. Heutzutage trägt ein Profi viel mehr Verantwortung und ist häufiger Gefahren ausgesetzt. Unter anderem eben durch die soziale Medien, aber auch durch den höheren Anspruch ans Profigeschäft, die größere Fluktuation und die internationale Konkurrenz auf dem Spielermarkt. Es ist dadurch viel schwieriger geworden für einen Profi, erfolgreich durchs Leben und die Karriere zu gehen. Das Anforderungsprofil ist gestiegen - und damit in meinen Augen auch die Eigenständigkeit.
SPOX: Wie narzisstisch geht es gerade im Hinblick auf Social Media im Mannschaftssport Fußball zu?
Baumgartlinger: Ich würde den Narzissmus nicht nur auf den Fußball beschränken, denn Menschen aus allen Bereichen können sich dort selbst präsentieren. Fast jeder nutzt die sozialen Medien heute, um ein besonders cooles Foto von sich oder aus seinem Leben zu teilen und in manchen Fällen damit auch sicherlich anzugeben. So flüchten sich viele in eine zweite Identität in der virtuellen Realität. Das gehört wohl einfach dazu. Gerade in Schulen und bei Jugendlichen ist es bestimmt deutlich schwerer, wenn man dort nicht vertreten ist.
SPOX: Von Ihnen gibt es ein Video auf YouTube zusammen mit Michael Liendl, in dem Sie sich 2010 als Spieler von Austria Wien für die Kampagne "Pyrotechnik ist kein Verbrechen" aussprechen. Stehen Sie dazu oder war das jugendlicher Leichtsinn?
Baumgartlinger: Das Internet vergisst eben nie. (lacht) Das war und ist ein heißes Thema in Österreich. Ich gebe zu, dass wir uns vor dem Video nicht stundenlang Gedanken gemacht haben. Ich sehe bis heute kein großes Problem darin, diesen Satz gesagt zu haben, denn Pyrotechnik an sich ist ja auch kein Verbrechen. Man sollte natürlich hinzufügen, dass es extrem wichtig ist, damit verantwortungsvoll umzugehen und nicht willkürlich in einem vollen Block ohne Rücksicht zu zündeln.
SPOX: Was wäre denn die Lösung? In manchen Ländern wird darüber diskutiert, den Fans zu erlauben, pyrotechnische Gegenstände zu einem gewissen Zeitpunkt kontrolliert zu zünden.
Baumgartlinger: Das finde ich nicht schlecht und einen Ansatz, den man vertiefen könnte. Ich habe auch gehört, dass die Fans in Russland nach den Spielen Choreographien zeigen, mit Pyro und Bannern. Das ist gelebtes Fantum, aber die Thematik steht und fällt mit der Sicherheitsfrage. Diese Dinger können extrem heiß werden und eine massive gesundheitliche Gefahr darstellen. Nicht jeder Fan dürfte Spezialist in dem Bereich sein. Es kann theoretisch eben immer etwas passieren.
SPOX: Eine andere aktuelle Diskussion betrifft das Niveau der Bundesliga. Bayerns Mats Hummels hat zum Beispiel kritisch angemerkt, dass Mannschaften häufig nur reagieren statt agieren. Stimmen Sie dem zu?
Baumgartlinger: Es ist unter dem herrschenden Erfolgsdruck für die Trainer schwer, idealistisch zu bleiben und die eigene Idee eiskalt durchzuziehen. Wenn die dann nämlich zwei, drei Monate nicht wirklich hinhaut, wird der Trainer meist entlassen. Diesen Einflussfaktoren müssen sich die Trainer heute stellen. Das verleitet unweigerlich dazu, reaktiver zu werden. Das gilt für mich aber nicht nur in dieser Saison, sondern war beispielsweise schon bei der EM 2016 zu sehen. Die Philosophie, hinten dicht zu machen und seine drei, vier schnellen Spieler vorne auf die zweiten Bälle zu schicken, hat sich allgemein durchgesetzt.
SPOX: Wie sehen Sie die Spielanlage von Bayer 04?
Baumgartlinger: Das, was wir teilweise im 3-4-3 spielen, hat nichts mit einer Fünferkette zu tun. Man kann es defensiv zwar als Fünferkette sehen. Wenn aber Leon Bailey, Karim Bellarabi oder Julian Brandt auf den Außenpositionen spielen, ist es eher ein 3-2-5 und die offensivste Form einer taktischen Variante. Die sieht vielleicht im ersten Moment reaktiv aus, ist aber offensiv gedacht.
SPOX: Gerade in der Bundesliga versteht man es sehr gut, die Stärken und Schwächen eines Gegners zu spiegeln und sich dann taktisch entsprechend zu verhalten. Manchen Teams reicht das.
Baumgartlinger: Es muss zum Repertoire eines jeden Trainers gehören, sich taktisch auf den Gegner einzustellen und zu wissen, was auf die eigene Mannschaft zukommt. Standardsituationen sind ein großes Thema geworden. Viele Mannschaften wissen, dass sie bei ruhenden Bällen stark sind. Deshalb trainieren sie das mehrheitlich und können mit dieser Stärke so viele Punkte generieren, dass ihnen ausgeklügelte Angriffsschemata gar nicht so wichtig sein müssen. Ich halte das für legitim, auch wenn es für den Zuschauer nicht immer schön anzusehen ist.
SPOX: Eine andere unschöne Entwicklung ist der Rechtsruck, der seit geraumer Zeit durch Europa geht. Sie erleben als Österreicher in Deutschland gerade zwei Strömungen: die AfD in Deutschland und die neue Regierung in Österreich, die die Länder jeweils zu spalten drohen. Wie nahe geht Ihnen das?
Baumgartlinger: Das beschäftigt mich natürlich. Ich nehme diese Entwicklungen besorgt wahr, auch weil sie ja nicht nur diese beiden Länder betreffen. Die Populisten nehmen überall Überhand, weil in der Bevölkerung wohl ein gewisses Maß an Angst und Unsicherheit herrscht. Meiner Meinung nach liegt der Grund dafür in der Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft. Die Art und Weise wie wir heutzutage größtenteils leben, macht es uns schwerer, uns an gewisse Dinge zu gewöhnen, die uns Sicherheit geben. Was vor zehn Jahren beispielsweise noch die politische Mitte war, ist mittlerweile nicht mehr vergleichbar.
SPOX: Wie blicken Sie diesbezüglich in die Zukunft?
Baumgartlinger: Ich denke, es wird noch extremer werden. Trotzdem dürfen wir uns nicht davon wegbewegen, die Demokratie zu leben. Das ist das wichtigste und höchste Gut, das wir haben und ein Hauptgrund dafür, weshalb sich so viele Menschen nach demokratischen Ländern sehnen. Eine undemokratische Lösung kann es nicht geben.
SPOX: Frankfurt-Präsident Peter Fischer hat klar Position bezogen gegen die AfD und Antisemitismus, musste sich dafür in Teilen aber sogar rechtfertigen. Sie haben zum Ende Ihrer Zeit bei 1860 München auch Ewald Lienen erlebt, der ebenfalls öffentlich gegen Rassismus eintritt. Wieso sind diese Leute leider nur lobende Ausnahmen?
Baumgartlinger: Schwer zu sagen. Das hängt für mich wieder mit dem Schwarz-Weiß-Thema zusammen: Entweder man bekommt massiv auf die Fresse oder man wird in den Himmel gelobt. Für die Zwischentöne scheint sich niemand mehr großartig zu interessieren. Ich jedenfalls respektiere Personen, die Rückgrat zeigen.
Eintracht-Präsident Fischer im Interview: "Ich schäme mich für 13 Prozent der Deutschen"
SPOX: Auf gewisse Weise betrifft die Sache mit den Zwischentönen auch Ihren ehemaligen Mainzer Trainer Thomas Tuchel, zu dem Sie 2011 nach zwei Jahren bei Austria Wien gewechselt sind. Über ihn heißt es: Toller Trainer, aber schwieriger Mensch.
Baumgartlinger: Das kann ich so nicht bestätigen. Er ist Perfektionist, völlig versessen vom Fußball und sehr leidenschaftlich dabei. Deshalb fordert er unheimlich viel. Natürlich kann er durch diese Wesenszüge auch mal über das Ziel hinausschießen, aber nur, weil er mit jeder Faser seines Körpers für die Sache lebt und erfolgshungrig ist. Er investiert extrem viel Zeit und Arbeit in seinen Job. Das kann theoretisch auch mal zu einer Schwäche werden, trotzdem kann ich sehr viel Positives über ihn berichten.
SPOX: Der Schritt nach Mainz war bis dato der größte, den Sie getätigt haben. Wie sehr hat die Arbeit unter Tuchel Ihre Denkweise über den Fußball verändert?
Baumgartlinger: Er hat meine Sicht auf den Fußball verändert - eigentlich schon ab unserem ersten Telefongespräch. Ich war erstaunt, wie klar er mich als Spieler sah und wie gut er mich kannte, obwohl er mich ja nie trainiert hatte. Er sah Stärken in mir, die ich auch sah, die aber viele andere wohl nicht erkennen. Ich habe schnell gemerkt, dass es mit ihm speziell sein könnte. In den drei Jahren unter ihm sind meine Erwartungen sogar übertroffen worden. Er hat mir sehr, sehr viel für meine Karriere und für mein Spiel beigebracht.
SPOX: Sehr viel heißt konkret was?
Baumgartlinger: Da geht es um alle Bereiche: Vor- und Nachbereitung, Analyse, Trainingsgestaltung, technische Übungen oder Details, an die man sonst kaum denkt. Das ist bei mir mit der Zeit alles in Fleisch und Blut übergegangen. Es war wirklich imposant unter ihm.
SPOX: Viele sagen, die Einheiten unter Tuchel seien gerade für den Kopf sehr anstrengend. Sie sollen zu Beginn Ihrer Zeit in Mainz auch relativ nervös gewesen sein im Training. Wie groß war die Umstellung für Sie?
Baumgartlinger: Jetzt im Nachhinein würde ich sagen, sie war normal. Ich wusste ja auch, dass ich eine gewisse Anpassungszeit benötigen werde. Es war anfangs aber extrem, wie wach und bereit man sein musste, da Inhalte und Übungen auf einen zukamen, von denen man noch nie gehört hatte - man sollte sie aber trotzdem umsetzen und am besten noch in taktischer Hinsicht dies und jenes beachten. (lacht) Das konnte ich zu Beginn zwar alles verarbeiten, aber es hat nicht immer alles zeitgleich geklappt.
SPOX: Die Arbeit hat aber gefruchtet, Sie haben sich in Mainz zu einem gestanden Führungsspieler entwickelt.
Baumgartlinger: Ich brauchte Zeit und vielleicht auch mal einen Misserfolg, um das alles zu meistern. Dafür war mein Entwicklungsschritt dann umso größer. Ich wollte mehr und mehr, noch schwierigere Aufgaben und noch anspruchsvollere Trainingsformen. Dadurch hat Thomas Tuchel letztlich das Niveau des Einzelnen, aber vor allem auch der Mannschaft deutlich angehoben.
SPOX: In Mainz kam es erstmals in Ihrer Karriere zu zwei schweren Knieverletzungen, die Sie monatelang außer Gefecht setzten. Sie sagten, in dieser Zeit haben Sie notgedrungen damit angefangen, das Leben als Profi zu reflektieren. Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekommen?
Baumgartlinger: Das war eine teils sehr mühsame Zeit, ich war lange auf Krücken unterwegs. Das hat mich schon fertig gemacht. Ich bin anschließend deutlich dankbarer geworden. Dankbarer dafür, gesund zu sein und diesen tollen Beruf ausüben zu dürfen. Ich habe gelernt, mir diese Wertschätzung tagtäglich in Erinnerung zu rufen und zu wissen: Es geht dir schon sehr, sehr gut mit diesem Job, sei einfach froh, dass du gesund bist. Mit dieser Haltung ist alles viel leichter.
SPOX: Reifte zu dieser Zeit auch der Gedanke, nach Mainz noch einmal etwas Neues auf einer höheren Stufe ausprobieren zu wollen?
Baumgartlinger: Nein. Es war schon immer mein eigener Anspruch, meine Grenzen auszuloten und in der begrenzten Zeit der Karriere so gut es geht ans Limit zu kommen. Ich wollte unbedingt in der Champions League spielen. Dieses Ziel dann auch Realität werden zu lassen, ist gar nicht so einfach. Man baut mit den Jahren auch viele zwischenmenschlichen Beziehungen auf, lebt in einer schönen Stadt und hat eine tolle Zeit. Es hätte sehr viele sinnvolle Gründe gegeben, in Mainz zu bleiben. Dieses eine entscheidende sportliche Ziel hätte mich aber möglicherweise verfolgt und ich möchte mir später auf keinen Fall Bequemlichkeit vorwerfen.
SPOX: Nach fünf Jahren beim FSV ging es 2016 nach Leverkusen. In Ihrem ersten Jahr kamen Sie auf 30 Pflichtspiele. Inwiefern war es nach all den Jahren als Kapitän und Stammspieler schwierig für Sie, sich dem neuen Konkurrenzkampf und der Rotation unterwerfen zu müssen?
Baumgartlinger: Ich habe auch in Leverkusen Zeit benötigt. Wenn man älter wird, merkt man, dass einem die Erfahrung hilft und sie eine wichtige Rolle spielen kann. So schafft man es, ruhig zu bleiben und vielleicht auch ohne den großen Spielrhythmus sein Leistungsniveau zu erreichen. Das war für mich ein Inhalt dieser Herausforderung, die ich gerne gesucht habe - auch wenn ich dann mal zwei Spiele lang nur draußen sitze. Es ist in der letzten Saison eher deshalb schwieriger geworden, weil sich bei uns die gesamte Spielzeit in die falsche Richtung entwickelt hat. Das hat sich in diesem Jahr gedreht. Die sportliche Entwicklung bei uns stimmt, die Stimmung ist gut, ich komme häufiger zum Einsatz. So macht es natürlich mehr Spaß.