Als er Anfang 20 war, gehörte Benjamin Adrion als fester Bestandteil zum Kader des FC St. Pauli. Doch im besten Fußballeralter hängte der Sohn von Trainer Rainer Adrion die Kickstiefel an den Nagel und gründete mit Viva con Agua eine wohltätige Initiative für weltweiten Zugang zu sauberem Trinkwasser. Ein Gespräch über den Druck im Profi-Fußball, ein entscheidendes Trainingslager auf Kuba und die Trinkwasserversorgung in Entwicklungsländern.
SPOX: Herr Adrion, Sie haben 2006 Ihre Profi-Karriere vorzeitig beendet. Wann wussten Sie, dass Sie Ihr Geld nicht dauerhaft mit Fußball verdienen werden?
Benjamin Adrion: Mit 25 - das war der Zeitpunkt, zu dem ich dann auch aufgehört habe.
SPOX: Warum?
Adrion: Mein Verhältnis zum damaligen Trainer Andreas Bergmann und meine persönliche Motivation waren ausschlaggebend, aber die Entwicklung hat früher begonnen. Mit zwölf Jahren habe ich beim VfB Stuttgart gespielt, mit 14 war ich bei den ersten Lehrgängen der Nationalmannschaft, mit 15 war ich Junioren-Nationalspieler. Gefühlt hatte ich damals schon eine Karriere und sehr viel Zeit in Fußball investiert. Als kleines Kind war es zwar noch mein großer Traum, Fußballprofi zu werden, aber in der Pubertät habe ich mich gefragt: 'Ist Fußball alles? Will ich das wirklich machen?' Im ersten Jahr der A-Jugend habe ich aufgehört, weil mir meine Privatinteressen wichtiger waren. Alle anderen haben Gas gegeben, aber mir war das einfach zu viel. Ich war fußballmüde.
SPOX: Trotzdem sind noch Profi geworden.
Adrion: Richtig, im zweiten A-Jugend-Jahr habe ich wieder angefangen, aber nach wie vor mit dem Fußball-Rhythmus gehadert. Von da an habe ich mich von Vertrag zu Vertrag gehangelt, irgendwann wollte ich keinen mehr. Vielleicht wäre es für mich besser gewesen, wenn ich mir in der Jugend mehr Zeit für andere Dinge genommen hätte und erst später intensiver beim Fußball eingestiegen wäre.
SPOX: Heutzutage ist diese intensive Beschäftigung mit dem Sport aber der normale Weg zum Profi. Wie werden Jugendspieler auf ein mögliches Scheitern vorbereitet?
Adrion: Jeder weiß, dass es nur die wenigsten Spieler schaffen. Die Vereine versuchen, durch Kooperationen mit Schulen eine vernünftige Ausbildung ihrer Jugendspieler zu gewährleisten. Bei mir persönlich war das aber nie nötig. Ich ging auf ein Gymnasium und es war von Anfang an klar, dass ich mein Abitur machen würde. Da war ich der Gegenentwurf zum 'normalen' Profi. Meine Schulfreunde waren diejenigen, die mich in der Freizeit interessiert haben. Meine Fußballfreunde traf ich nur beim Training. Die Schnittmenge war ziemlich klein.
SPOX: Von klein auf sind Sie mit Fußball aufgewachsen, immerhin war Ihr Vater Rainer U21-Trainer beim DFB und arbeitet derzeit als sportlicher Leiter der U17 bis U23 beim VfB Stuttgart. Welche Rolle hat er in Ihrer fußballerischen Karriere gespielt?
Adrion: Ich habe meine Entscheidungen immer unabhängig getroffen. Er hat mir nur gesagt 'Lern' was Gescheites' und mir klar gemacht, dass das Fußballer-Leben nicht das Nonplusultra ist. Statt mich aus eigenem Ehrgeiz zu pushen, hat mir mein Vater gesagt, dass man sich breiter aufstellen soll. Als ich den Entschluss gefasst hatte, meine Karriere zu beenden, habe ich es auch weniger mit ihm besprochen, als es ihm einfach mitgeteilt.
SPOX: Könnten Sie sich eine Rückkehr in das Fußballgeschäft vorstellen?
Adrion: Generell würde ich gerne bei Thomas Tuchel hospitieren, weil mich sein Auftreten total anspricht. Tuchel steht für mich symbolisch für die moderne Entwicklung im Fußball. Sein Coaching und besonders seinen wissenschaftlichen Ansatz finde ich faszinierend und ich würde gerne mehr darüber erfahren, wie er das macht.
SPOX: Wäre das Traineramt nichts für Sie?
Adrion: Nein, Tuchels Job will ich nicht. (lacht) Es könnte durchaus sein, dass ich erst die C-Lizenz mache und nach und nach noch den einen oder anderen Kurs drauflege. Aber im Moment tendiere ich dazu, berufsbegleitend meinen Master in Wirtschaftspsychologie zu machen. Da bleibt keine Zeit für Trainerscheine.
SPOX: Ihnen ist ja auch bereits eine berufliche Karriere abseits des Fußballs gelungen. Was war entscheidend für den Erfolg Ihrer HilfsorganisationViva con Agua?
Adrion: Generell muss man den richtigen Zeitpunkt für etwas Neues finden. Simon Rolfes und Marcell Jansen sind da gute Beispiele. Beide hätten vielleicht noch ein Jahr spielen können, aber haben ihre Chance erkannt. Bereits während der Karriere dürfen die jungen Spieler andere Interessen nicht vernachlässigen, denn das Schlimmste ist, wenn man gar nicht weiß, was man außer Fußball machen kann oder will.
SPOX: Sie arbeiten jetzt im sozialen Bereich, in der Fußball-Branche ist dagegen häufig auch Egoismus an der Tagesordnung. Wie sind Sie mit der Umstellung klar gekommen?
Adrion: Auf der einen Seite ist Fußball Konkurrenzkampf und das hat mir auch nicht immer gefallen. Es gehört dazu, dass die Emotionen hochkochen und man sich fetzt, aber im besten Fall ist das nach dem Spiel wieder vergessen. Trotzdem kann ich mich an Momente erinnern, in denen ich mich im Nachhinein über mich selbst erschrocken habe. Auch bei anderen dachte ich mir oft, dass bestimmte Dinge unnötig waren.
SPOX: Aber auf der anderen Seite...
Adrion: ...ist Fußball immer ein Teamsport. Eine Mannschaft braucht Erfolg und den schafft man nur gemeinsam. Individuell bist du nur erfolgreich, wenn du in der Mannschaft funktionierst. Bei diesem Teamgedanken kann man Parallelen zu Viva con Agua ziehen: Uns verbindet Freundschaft, soziales Engagement und Weltoffenheit.
SPOX:Viva con Agua will die Trinkwasserversorgung in Entwicklungsländern verbessern. Wie gehen Sie vor?
Adrion: Wir arbeiten auf zwei Ebenen: Einerseits unterstützen wir langfristig angelegte Wasserprojekte und wollen dadurch in bestimmten Regionen allen Menschen einen Zugang zu sauberem Trinkwasser ermöglichen. Zu den Schwerpunktregionen gehören neben ostafrikanischen Staaten wie Kenia, Äthiopien und Uganda beispielsweise auch Nepal und Indien in Asien sowie Guatemala in Lateinamerika und Mosambik in Südostafrika. Gemeinsam mit unseren Partnern entscheiden wir nach regionalen und inhaltlichen Parametern, wo wir agieren. Andererseits veranstalten wir ehrenamtliche Aktivitäten, bei denen wir mit Musik, Sport und Kunst Aufmerksamkeit rund um das Thema Trinkwasser erreichen wollen. Im deutschsprachigen Raum haben wir bereits ein großes Netzwerk von mehr als 10.000 Supportern und wollen jetzt in den Niederlanden, in Asien und Afrika nachlegen. Besonders in Uganda entsteht eine eigene Viva-con- Agua-Crew mit Ehrenamtlichen, Künstlern, Medienschaffenden und Filmemachern, die vor Ort Konzerte und andere Projekte organisiert.
SPOX: Ihre Initiative wächst seit der Gründung vor zehn Jahren beständig. Wie kamen Sie auf die Idee?
Adrion: Als ich 2005 mit dem FC St. Pauli das Trainingslager auf Kuba absolviert habe, war ich fasziniert von der Lebenseinstellung der Menschen, mit ihren täglichen Herausforderungen positiv umzugehen. Gemeinsam mit Freunden starteten wir eine Spendenaktion für die Trinkwasserversorgung an Kindergärten auf der Insel. Kurze Zeit später stand ich vor der Entscheidung, was ich mit meinem Leben anstellen will: weiter Fußball spielen oder mal etwas anderes ausprobieren?. Ich wollte die Zeit neben dem Fußball sinnvoll nutzen und dafür auch das soziale Potential rund um den Verein kanalisieren.
SPOX: Sie wurden mehrfach ausgezeichnet und haben sogar das Bundesverdienstkreuz erhalten. Haben Sie bei der Gründung mit einem solchen Erfolg gerechnet?
Adrion: Überhaupt nicht. Es war anfangs nicht einmal geplant, dass daraus ein Job wird. Deshalb habe ich 2007 auch noch einmal einen Vertrag beim FC St. Pauli unterschrieben und das Projekt nebenbei gemacht. Eigentlich sollte Viva con Agua den Fußball nicht ersetzen. Als mein Vertrag ein Jahr später auslief, wollte ich den Verein nicht mehr wechseln, sondern das Projekt professioneller anpacken. Dass es derartige Formen und Dimensionen annimmt, konnte vor zehn Jahren niemand ahnen.
SPOX: Stand das Projekt auch mal kurz vor dem Scheitern?
Adrion: Immer. (lacht) Grundsätzlich war es die ersten fünf Jahre permanent kritisch und wir wussten nicht: Fliegt der Vogel oder stürzt er ab? Eine Zeit lang haben wir jeden Tag professionell im Büro gearbeitet, aber da es auf ehrenamtlicher Basis lief, hatten wir keine Kohle. Ohne das enorme Engagement aller Beteiligten hätte das nie geklappt.
SPOX: Wie finanziert sich das Projekt?
Adrion: Wir vertreiben unser eigenes Mineralwasser, von dem wir im letzten Jahr rund 14 Millionen Flaschen verkauft haben. 60 Prozent pro verkaufte Flasche fließen in unsere gemeinnützige Arbeit. Außerdem gibt es Fördermitglieder, Sponsoren, verschiedene Spendenaktionen und wir haben die soziale Kunstgalerie Millerntor Gallery im Millerntor-Stadion initiiert. Seit wenigen Wochen hat das zweite Social Business im Viva-con-Agua-Kosmos, die Goldeimer GmbH, mit umweltfreundlichem Klopapier eine weitere Einnahmequelle. 20 Cent pro verkaufte Goldeimer Klopapier-Packung fließen an Viva con Agua. Mittlerweile beschäftigen wir im gesamten Netzwerk rund 25 Festangestellte. Gleichwohl ist uns vollends bewusst, dass das enorme Engagement der 12.000 ehrenamtlichen Supporter weltweit entscheidend für die Vision 'Wasser für alle - alle für Wasser' ist!
SPOX: Auch durch die Unterstützung von Prominenten hat Viva con Agua Bekanntheit erlangt. Seit 2013 unterstützt Sie beispielsweise der Rapper Marteria.
Adrion: Ja, die Resonanz ist hervorragend. Die ersten Prominenten waren zum Beispiel Fettes Brot, Bela B, Elton und Tim Melzer. Unser Vorteil war, dass sie aus Hamburg kommen und Fans des FC St. Pauli sind. Über unsere Festival-Aktivitäten haben wir dann neue persönliche Kontakte geknüpft, aber ohne den FC St. Pauli hätte Viva con Agua nicht funktioniert. Die Ausgangsposition mit diesem speziellen Fußball-Verein war entscheidend.
SPOX: Profitieren Sie noch heute von Ihrer Vergangenheit als Profi?
Adrion: Klar, meine ehemaligen Kollegen wie Fabian Boll, der seit ein paar Wochen aktiv ist, nehmen gerne an dem Projekt teil. Auch mit dem FC St. Pauli stehe ich wegen unserer Wasserproduktion, an der der Verein beteiligt ist, und der Millerntor Gallery im regelmäßigen Austausch. Außerdem haben wir eine Loge, die uns der FC St. Pauli unentgeltlich zur Verfügung stellt und einmal im Jahr veranstalten wir die eben erwähnte Millerntor Gallery - eine großartige Aktion, bei der Künstler aus der ganzen Welt das Stadion gestalten und anmalen.