BVB und FC Bayern: Wie realistisch ist der Ruf nach einem Local Player für die Profis noch?

Jochen Tittmar
05. März 202108:54
SPOXgetty
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Der FC Bayern München und Borussia Dortmund stehen sich am Samstag in der Bundesliga gegenüber (18.30 Uhr im LIVETICKER), begegnen sich im Kampf um junge Talente aber immer wieder auch auf dem Transfermarkt. Ist es bei FCB und BVB für deutsche Nachwuchstalente schwieriger geworden, einem Vorbild a la Thomas Müller nachzueifern und langfristig eine tragende Rolle im Profiteam des eigenen Ausbildungsvereins zu spielen?

"In den letzten Jahren waren die Ergebnisse unserer Arbeit nicht gut. Kein Spieler hat die erste Mannschaft seit David Alaba nachhaltig erreicht", monierte Uli Hoeneß, als der FC Bayern München im August 2017 mit dem vereinseigenen Campus eine neue Heimat für den Nachwuchs eröffnete.

Auf dem Gelände im Münchner Norden befinden sich auf rund 30 Hektar acht Fußballfelder, die von der U9 bis zur U19 genutzt werden, sowie ein Internat mit 35 Appartements. Ungefähr 70 Millionen Euro hat der FCB dafür investiert. Der Campus sei eine "Antwort auf den Transferwahnsinn und die Gehaltsexplosionen", sagte Hoeneß. Die Vorgabe des damaligen Präsidenten war klar umrissen: "Der nächste Schritt muss natürlich sein, dass wir die nächsten Jahre aus den Nachwuchsmannschaften Spitzenkräfte herausholen, die irgendwann in der Lage sind, in der ersten Mannschaft mitzuhalten."

Das ist den Bayern zweifelsfrei gelungen, wenn man in der jüngeren Vergangenheit an Spieler wie Joshua Zirkzee oder Jamal Musiala denkt. "Wir haben zuletzt eine Auswertung der Jahrgänge 1996 bis 2003 vorgenommen. Demnach stehen knapp vier Spieler pro Jahrgang mindestens einmal im Profikader und 2,5 Spieler pro Jahrgang absolvieren mindestens ein Pflichtspiel für die Profis. Tendenz in den letzten Jahren steigend. Unsere Durchlässigkeit von der Jugend in den Profibereich ist an und für sich gar nicht mal so schlecht", sagt Jochen Sauer, der Leiter des FC Bayern Campus, im Gespräch mit SPOX und Goal.

Dennoch ist in München der Ruf nach dem nächsten Alaba oder einem nächsten Local Player wie dem aus Oberbayern stammenden Thomas Müller nie verhallt. Denn es ist ein Unterschied, ob selbst ausgebildete Spieler nur auf ein paar Pflichtspieleinsätze für die Profis kommen oder sich langfristig zu Leistungsträgern wie eben Alaba oder Müller entwickeln können.

Jochen Sauer leitet den FC-Bayern-Campus.imago images / Lackovic

BVB und FCB: Wie realistisch ist das Local-Player-Szenario?

Der FC Bayern stellt nämlich "die absolute Weltspitze mit nahezu ausschließlich Nationalspielern" dar, wie Sauer sagt. Für Borussia Dortmund, in der Bundesliga nächster Gegner des Rekordmeisters, gilt Ähnliches. Auch dort ist das Niveau der ersten Mannschaft durch die Erfolge der Ära von Jürgen Klopp parallel mit dem gesamten Verein derart gewachsen, dass ein über zwei, drei Jahre im eigenen Nachwuchsleistungszentrum ausgebildeter Spieler, der in Deutschland oder gar dem eigenen Bundesland entdeckt wurde, im Profikader kaum mehr eine tragende Rolle spielt.

Oder gar spielen kann? Wie realistisch ist also das Local-Player-Szenario a la Müller oder Mario Götze für die Profiabteilungen in München und Dortmund geworden?

"Es liegt in der Natur der Sache. Mit 19 oder 20 beim FC Bayern oder in Dortmund regelmäßig für die Profis zu spielen, ist natürlich ein Brett", sagt mit Hannes Wolf Deutschlands aktueller U18-Nationalcoach zu SPOX und Goal, der sieben Jahre lang als Nachwuchstrainer beim BVB arbeitete. "Dort wird die Luft dünn, da musst du auf ganz vielen Ebenen absolute Top-Klasse und ein Ausnahmetalent sein, um auch zu spielen. Sich durchzusetzen und nicht nur im Kader dabei zu sein, sondern auch in die Startelf zu kommen, ist eine riesige Herausforderung und noch einmal ein sehr großer und schwieriger Schritt - aber er ist nicht unmöglich."

Für Jugendspieler wurde die Konkurrenzsituation international

Lars Ricken beruft sich gegenüber SPOX und Goal auf die aktuell neun Spieler im Profikader, die aus dem Dortmunder NLZ kommen, dem er als Direktor vorsteht: Reus, Schmelzer, Knauff, Moukoko, Raschl, Tigges, Unbehaun, Passlack und Reyna. "Sie alle haben die Möglichkeit, dort tragende Rollen zu spielen. Es beweist, dass wir den Mut haben, ihnen diese Chance zu geben. Es ist aber Leistungsfußball, sie müssen sich durchsetzen."

Mittlerweile ist ein Ereignis wie im Sommer 2008, als der frisch in den Profikader berufene Marcel Schmelzer von einem Kreuzbandriss seines Konkurrenten Dede profitierte, unverhofft zum Debüt in der Bundesliga kam und sich dort auf Anhieb etablierte, allerdings unwahrscheinlicher geworden. Dies ist auch einer weiteren Entwicklung der vergangenen Jahre geschuldet: Viele Klubs haben die Konzentration auf den Nachwuchs stärker für sich entdeckt, was wiederum den Markt veränderte. Die immer höheren Transfersummen im Profi- haben sich auch, in freilich geringerer Dimension, auf den Nachwuchsbereich ausgewirkt.

Das beeinflusste die Local-Player-Quote im Stamm der Profikader. Dass sich ein solcher Spieler nachhaltig ganz oben etablieren kann, ist deshalb der seltenste Fall, weil mittlerweile "weltweit gescoutet wird und man weltweit konkurriert", so Wolf. Dem pflichtet auch Ricken bei: "Das Scouting hat sich in den letzten Jahren professionell und nachhaltig entwickelt. Zu meiner Zeit im Nachwuchsbereich war ein gleichaltriger Spieler wie Patrick Vieira kein Konkurrent, da man den in Deutschland nicht kannte. Das hat sich extrem geändert. Für die heutigen Jugendspieler ist die Konkurrenzsituation deshalb frühzeitig eine internationale geworden."

Lars Ricken wurde beim BVB am 1. Januar 2021 zum Direktor des Nachwuchsleistungszentrums befördert.getty

Jugend-Transfers: Warum der Blick ins Ausland erfolgen muss

Und so schauen sich Dortmund und die Bayern eben auch nach ausländischen Spielern um, regelmäßig begegnen sich die beiden Vereine auf dem Transfermarkt im europaweiten Werben um dieselben Nachwuchstalente. Christian Pulisic, Jacob Bruun Larsen, Jadon Sancho und Giovanni Reyna sind beim BVB die prominentesten Beispiele, doch auch Spieler wie Immanuel Pherai (AZ Alkmaar U17), Kamal Bafounta (FC Nantes U17), Bradley Fink (FC Luzern U16), Jamie Bynoe-Gittens (Jugend Manchester City) oder kürzlich Julian Rijkhoff (Ajax Amsterdam U17) kamen allesamt allein seit 2017 aus dem Ausland nach Dortmund.

Das erschwert den Local-Player-Wunsch a la Hoeneß zusätzlich, zumal auch ein Alaba streng genommen nicht in diese Kategorie gehört, da er schließlich als 16-Jähriger von Austria Wien zum Münchner Nachwuchs wechselte. "Wir müssen im Leistungsbereich, beginnend mit der U17, unsere Teams bestmöglich aufstellen, um den hohen Anforderungen entsprechen zu können", sagt Rickens Pendant Sauer. "Dazu nehmen wir auch internationale Talente ins Visier - aber auch nur, wenn sie unsere Teams wirklich verstärken. Sie werden sehr überlegt verpflichtet, wir reden da von einzelnen Spielern."

Die Vorteile dieser Entwicklung liegen jedoch auf der Hand, besonders vom Beispiel England profitieren deutsche Klubs: Auf der Insel verhindert das viele Geld in den meisten Fällen, dass vielversprechende Talente beim Übergang vom Jugend- in den Seniorenbereich ausreichend Spielpraxis bekommen, um ihr nächstes Level zu erreichen. Generell gesprochen gilt es in Deutschland, genau diesen Fehler zu vermeiden. Nur wird es eben in der Spitze bei Vereinen wie dem FCB oder der Borussia noch einmal enger als anderswo - auch daher muss dort der Blick ins Ausland erfolgen.

Internationaler Marktwertvergleich: "Zu große Diskrepanz"

"Wenn man sich im europäischen Kontext mit zahlreichen deutlich finanzstärkeren Klubs bewegt, braucht es Strategien, um konkurrenzfähig zu bleiben", erklärt Ricken. "Eine davon ist, punktuell diese top-talentierten und auch ausländischen Nachwuchsspieler für den BVB zu begeistern. Dabei ist uns aber ganz wichtig, keinen riesigen Pool davon anzuhäufen. Wenn wir einen Spieler aus dem Ausland nach Dortmund holen, dann hat er ein außergewöhnliches Talent und das absolute Potential, sich hier durchzusetzen - siehe Pulisic, Bruun Larsen oder Reyna."

Wolf trainierte in Dortmund unter anderem den Jahrgang 1998. Dazu gehören beispielsweise Pulisic und Bruun Larsen, aber auch aktuelle Profis wie Felix Passlack, Orel Mangala (Stuttgart), Dzenis Burnic (Heidenheim), Amos Pieper (Bielefeld) oder Janni Serra (Kiel). Heute spielen sie Champions League, Bundesliga oder in der 2. Liga, die Bandbreite ist also groß. Eine echte Verstärkung für die eigenen Profis und durch seinen 64-Millionen-Transfer zum FC Chelsea auch ein finanzieller Erfolg war jedoch nur Pulisic, den man 2015 aus den USA in die U17 holte.

"Insgesamt können und müssen wir mit Blick auf die vergangenen Jahre im deutschen Nachwuchs zulegen, damit die Spieler auf einem noch höheren Level herauskommen und noch einen Tick stärker werden", sagt Wolf zum internationalen Wettstreit, dem sich deutsche Talente ausgesetzt sehen. "Wenn man die Marktwerte von deutschen U21-Spielern mit denen von französischen oder spanischen vergleicht, dann ist dort eine zu große Diskrepanz."

Sowohl Ricken als auch Sauer betonen in dieser Hinsicht die generelle Durchlässigkeit in ihren Nachwuchsteams, die natürlich weiterhin zu Großteilen aus deutschen Spielern bestehen. Mehr als 85 Prozent der Spieler einer Jugendmannschaft rücken nach Sauers Angaben in die nächste hoch. "Das stellt sicher, dass wir viele selbst ausgebildete Spieler in unseren Teams weiterentwickeln."

Regelmäßige Spielzeit bei BVB und FCB ein seltenes Gut

Die erbitterte Konkurrenzsituation innerhalb der beiden ersten Mannschaften verhindert aber in Fällen, die keine Ausnahmeerscheinungen wie aktuell Youssoufa Moukoko oder Musiala darstellen, ein Exempel wie jenes des vergleichsweise geringer talentierten Schmelzer vor knapp 13 Jahren.

"Deswegen ist es bei einem Verein wie dem FC Bayern schon schwieriger, sich als Talent zu etablieren und regelmäßig Spielzeit zu bekommen", sagt Sauer. Ricken pflichtet bei: "Qualität und Erwartungshaltung sind im Profibereich beim BVB extrem hoch. Wir haben große Ziele und entsprechende Qualität in unserem Kader. Umso besser müssen wir im Jugendbereich ausbilden, damit Spieler von dort ganz oben eine Chance haben können, um regelmäßig zu spielen."

Gewiss ein nobles Ziel, schließlich ist der Übergangsbereich vom Junioren- in den Seniorenfußball seit jeher besonders sensibel. "Der Übergang an sich ist so schwer, weil beispielsweise die defensive Qualität im Profi- überhaupt nicht mit der im Nachwuchsbereich zu vergleichen ist", sagt Wolf. "Das heißt, die Spieler haben große Probleme, mit ihren Lösungen noch durchzukommen, da dort viel mehr wegverteidigt werden kann. Das sind echte Hürden, die man überwinden muss."

Darum ist der Übergang zu den Profis so schwer

Auch die Faktoren Glück und Timing spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Nicht nur, aber besonders Müller profitierte beim FCB im richtigen Moment von einem Trainer wie Louis van Gaal, der ein Faible für junge Talente hatte und sich nicht scheute, sie frühzeitig einzusetzen. Müller war zu diesem Zeitpunkt gesund, sein Talent deckte viele der bei den Profis benötigten Facetten ab und er konnte sofort liefern - zum damaligen Zeitpunkt allesamt wichtige Knackpunkte für seine weitere Förderung.

Verlässt man einmal den Local-Player-Gedanken, ist die Quote an Spielern, die in München wie in Dortmund (siehe die genannten Beispiele oben) in den Profibereich gebracht werden, durchaus beträchtlich - beim BVB über die vergangenen Jahre gesehen sogar noch etwas bemerkenswerter als bei Bayern. "Vielleicht ist der normalere Weg eben der, über die U19 zu gehen, womöglich noch ein, zwei Jahre in der U23 zu spielen und dann erst in den Profibereich zu kommen. Doch wie immer ist auch in diesen Fällen von allen Seiten ein Stück Geduld gefragt", sagt Ricken.

Zwar bleibe es an beiden Standorten das Hauptaugenmerk, Spieler in jedem Jahr für die eigene Profimannschaft zu entwickeln. Gelingt das nicht im ersten Schritt oder überhaupt nicht, bleibe es laut Sauer die "klare Zielsetzung", dass ein "hoher Anteil unserer Spieler im Leistungsbereich am Ende des Tages mit Fußball den Lebensunterhalt verdienen" können soll.

Ein Blick auf das gesamte BVB-Trainingszentrum in Dortmunder Stadtteil Brackel.IMAGO / Hans Blossey

Quintessenz: "Am Ende entscheidet nur die Qualität"

In den Jahrgängen 1996 bis 2003 sind das beim FCB "etwa sieben Spieler und 25 Prozent pro Jahrgang", sagt Sauer, der durch den Aufstieg der U23 in die 3. Liga mit einem Anstieg dieser Zahlen rechnet. Auch gehe seit der Eröffnung des FC Bayern Campus der Trend in der zweiten Mannschaft mehr Richtung Heimatspieler, was nicht unbedingt absehbar war, da man sich zuvor doch immer mal wieder bei anderen Bundesligisten bediente.

Wie realistisch ist unter Berücksichtigung dieser zweifelsfrei komplexen Gemengelage nun also der Ruf nach einem leistungsstarken Local Player in der Profimannschaft von Bayern und Dortmund? Die Einschätzungen der drei Verantwortlichen gehen in ein und dieselbe Richtung.

Sauers eingangs erwähnte Auswertung zeige, "dass es heute nicht unrealistischer ist wie vor zum Beispiel 20 Jahren". Auch Ricken beziffert die Chance für den einzelnen Spieler "als schon sehr hoch". Die Quintessenz, gleichermaßen eine Banalität, liefert Wolf: "Es kommt immer darauf an, wie gut er ist. Am Ende entscheidet nur die Qualität."