Deutschland kann auch anders

Stefan RommelThomas Gaber
06. Juli 201011:49
EM-Finale 2008: Fernando Torres düpiert Philipp Lahm und Jens Lehmann und schießt Spaniens 1:0Getty
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Zwei Jahre nach dem EM-Finale 2008 treffen Deutschland und Spanien im WM-Halbfinale aufeinander (Mi., 20 Uhr im LIVE-TICKER und auf Sky). Beide Teams sind in dieser Zeit höchst unterschiedliche Wege gegangen. Aus nachvollziehbaren Gründen. Doch Spaniens System gerät ins Wanken. Ein Vergleich.

Das Personal

Deutschland

Joachim Löw hat lediglich neun Vize-Europameister im Kader. Zentrale Figuren wie Torhüter Jens Lehmann, Abwehrchef Christoph Metzelder, Abräumer Torsten Frings oder Kapitän Michael Ballack sind aus unterschiedlichsten Gründen nicht (mehr) im Kader.

In der deutschen Startelf stehen nur sechs Vize-Europameister, von denen die Säulen Philipp Lahm, Arne Friedrich, Bastian Schweinsteiger oder Lukas Podolski auch noch ihre Spielpositionen gewechselt haben.

Dazu gesellen sich 14 Neue. Einige waren vor der EM 2008 schon im Blickfeld, andere spielten sich in der Zwischenzeit in Löws Kader und ein paar sogar erst in den letzten Tagen vor der Weltmeisterschaft. Dabei darf aber auch nicht vergessen werden, dass einige Personalentscheidungen auch den Verletzungssorgen vor dem Turnier geschuldet waren.

Trotzdem stellt Deutschland den drittjüngsten Kader aller WM-Teilnehmer und die jüngste Nationalmannschaft seit 76 Jahren. Als Unterbau haben sich die zuletzt ungemein erfolgreichen U-Nationalmannschaften bestens bewährt, aus deren Reservoir Löw fast beliebig schöpfen konnte und das auch tat.

Einige hoffnungsvolle Talente mit großem Potenzial und Ambitionen wie Benedikt Höwedes oder Mats Hummels müssen noch zwei Jahre auf ihr erstes großes Turnier warten.

Von den Neuen haben Manuel Neuer, Mesut Özil, Thomas Müller und Sami Khedira voll eingeschlagen, Jerome Boateng spielt eine immer wichtigere Rolle. Das alles konnte man in der Form vorher nicht erwarten.

Andere wie Serdar Tasci, Dennis Aogo, Jörg Butt und Tim Wiese stehen zwar bei null Spielminuten, sind aber "für das Mannschaftsgefüge unheimlich wichtig", wie Löw immer wieder betont. Anders als noch in Österreich und der Schweiz dringt kein Mucks nach außen - von Lahms angestoßener Kapitän-Diskussion einmal abgesehen.

Innerhalb der Mannschaft herrscht eine große Harmonie, selbst schwierige Charaktere halten sich an die Regeln und ordnen dem Erfolg des Kollektivs alles unter. Ein wichtiger Faktor ist hierfür auch die neue, flachere Hierarchie im Kader.

Mit Ballack hat der letzte Platzhirsch das Feld räumen müssen, das Machtvakuum füllen mehrere Spieler aus, auf und abseits des Platzes.

Spanien

15 Europameister stehen im WM-Kader. Die tragenden Säulen sind die gleichen geblieben, alle Schlüsselspieler der EM 2008 hatten nach dem EM-Titel Lust auf mehr. Torhüter Iker Casillas hat bereits über 100 Länderspiele gemacht, wenngleich die Nummer eins von Real Madrid vor dem Turnier in Testspielen seltene, eklatante Fehler machte und nicht wenige Experten in Spanien Victor Valdes oder Pepe Reina im Kasten sehen wollten.

Von den acht neuen Spielern kommen vier vom FC Barcelona. Valdes als Nummer drei. Innenverteidiger Gerard Pique ist über jeden Zweifel erhaben. Pedro ist Del Bosques Joker und Sergi Busquets hat den Job als Abräumer vor der Abwehr von Marcos Senna übernommen. Senna spielte eine überragende EM und kam auch in den meisten Quali-Spielen zum Einsatz. Doch eine durchwachsene Saison in Villarreal hat ihn den Platz im WM-Kader gekostet.

Busquets dagegen verdrängte bei Barca Yaya Toure und ist bei Del Bosque mittlerweile gesetzt. Auch Santi Cazorla, der in der Quali regelmäßig zum Einsatz kam, fehlt in Südafrika.

Sergio Ramos, Xavi, Andres Iniesta und David Villa, allesamt Stammspieler bei der EM 2008, sind auf ihren Positionen weitgehend konkurrenzlos. In der Abwehr hat Del Bosque viel ausprobiert. Arbeloa, Albiol, Navarro, Juanito, Iraola wurden getestet. Bei der WM spielt wie in Österreich und der Schweiz Carles Puyol in der Innenverteidigung und Joan Capdevila links.

Mit Jesus Navas ist ein dynamischer Spieler für die rechte Außenbahn dabei, der aber nicht ins System passt. Navas ist ein Dribbler, kein Kombinationsfußballer. Fernando Llorente ist der David Güiza der EM. Mit Javi Martinez und Juan Manuel Mata hat Del Bosque zwei aufstrebende Talente nach Südafrika mitgenommen.

Der Kern ist anders als bei Deutschland zusammengeblieben. Das gleiche gilt für die Hierarchie. Casillas ist Kapitän und Wortführer. Busquets und vor allem der herausragend spielende Pique haben die Barca-Achse mit Puyol, Xavi und Iniesta noch vergrößert.

"Wir müssen uns danach richten, was in den Vereinen passiert und gerade ist es der FC Barcelona, der die Spielweise auch in der Nationalmannschaft vorgibt. Es sind gerade die Mittelfeldakteure, die das Spiel einer Mannschaft definieren", sagte Del Bosque Mitte 2009.

Jahrzehntelang war die rote Furie von Neid und Missgunst zwischen Spielern von Real Madrid und Barcelona zerfressen. Früher redete ein Real-Spieler außerhalb des Platzes kein Wort mit einem Barca-Akteur und umgekehrt. Mittlerweile betonen alle das exzellente Verhältnis untereinander.

Staatsheiligtum Raul spielt bei Del Bosque wie unter Vorgänger Luis Aragones keine Rolle.

Deutschland vs. Spanien: Der Spielstil

Deutschland vs. Spanien: Das Umfeld

Der Spielstil:

Deutschland

Die EM 2008 begann im klassisch-deutschen 4-4-2 mit den beiden Sechsern Ballack und Frings, davor im Sturm Gomez/Podolski und Klose. Das 1:2 gegen Kroatien im zweiten Gruppenspiel brachte Löw schon ins Grübeln, weil der Gegner mit seinem 4-5-1 die deutsche Mannschaft schlicht taktisch überrumpelt hatte und Löw darauf keine Antwort wusste.

Erst im Viertelfinale gegen Portugal dachte Löw um und sandte ebenfalls eine veränderte Formation aufs Feld. Mit Simon Rolfes und Thomas Hitzlsperger als Abräumer für Ballack, der mit vielen Freiheiten hinter der einzigen Spitze Klose ausgestattet war und auf den Seiten Podolski und Schweinsteiger.

Im Prinzip war diese Geburtsstunde des 4-5-1 auch der Auftakt zu einer schleichenden Abkehr vom 4-4-2. Vor allem in einigen wichtigen Spielen vertraute Löw immer öfter der Variante mit fünf Mittelfeldspielern, um mehr Balance zwischen Defensive und Offensive zu bekommen.

Kurz vor dem entscheidenden Qualifikationsspiel in Russland fand er dazu in Özil auch den perfekten zentralen Offensivspieler. Jetzt erst entwickelte sich aus der Rohmasse nach und nach die derzeitige Startelf.

Schweinsteigers Wechsel von der rechten Flanke ins defensive Mittelfeld bei den Bayern wiederholte Löw zum erstenmal im Testspiel gegen Argentinien im März. Dazu kam Lahms Rochade von links nach rechts.

Den Feinschliff mit Arne Friedrich in der Defensivzentrale, Müller auf rechts und Badstuber/Boateng links hinten fand Löw quasi in letzter Sekunde. Aus einem statischen 4-4-2 hat der Bundestrainer ein fließendes 4-2-3-1 gebastelt, das im Zweifelsfall auch als 4-5-1 durchgehen kann.

Vor allen Dingen hat er der Mannschaft aber fern aller Spielsysteme eine neue Idee mit auf den Weg gegeben, die in ihrer Ausrichtung sehr an Spanien als Vorbild erinnert. "Ich möchte Mannschaften haben, die guten Kombinationsfußball spielen. Da habe ich ab und zu auch mal nach Spanien geschielt", sagt Löw.

Was sehr auffällt: Löw lässt sich in seiner Spielausrichtung deutlich mehr auf den Gegner und dessen Anlage ein als früher. Gegen England und Argentinien fand er jeweils das genau richtige Rezept, ohne zu groß von seiner Grundidee abweichen zu müssen.

Deutschland ist flexibel, variabel und kreativ, weil Löw sich genau solche Spielertypen ausgesucht hat, die im Ganzen so funktionieren können - und nicht unbedingt die besten Einzelspieler. Ein wenig erinnert Deutschland schon an Spanien, auch wenn es längst nicht so viel Wert auf lange Ballbesitzzeiten legt.

Spanien

Auch hier gibt es elementare Unterschiede zum deutschen Team. Del Bosque sah keine Veranlassung, am erfolgreichen Stil etwas zu ändern. "Was nicht kaputt ist, muss man auch nicht reparieren", sagte Del Bosque nach seiner Einführung als Trainer der Furia Roja. Nach der überragenden WM-Qualifikation mit zehn Siegen in zehn Spielen sagte er: "Es war meine Absicht, dem vorgezeichneten Weg zu folgen. Natürlich habe ich meine eigene Handschrift. Aber es ging dabei nur um Details."

Ballbesitz und Spielkontrolle stehen bei Spanien seit Aragones über allem. Das Angriffsspiel basiert auf ständigen Positionswechseln im Mittelfeld und dem exzellenten Spiel ohne Ball. Das Spiel wird in die Breite gezogen und der Ball so lange in den eigenen Reihen gehalten, bis sich die entscheidende Lücke für den Pass in die Tiefe auftut.

Unter Del Bosque hat die Mannschaft das Spiel gegen den Ball verbessert. Spanien kommt bei der Balleroberung mit sehr wenigen Fouls aus.

Bei der EM 2008 spielte Spanien bis zum Halbfinale im klassischen 4-4-2 mit Xavi und Senna in der Mittelfeldzentrale, Iniesta links, Silva rechts und dem Sturmduo Villa/Torres. Im Halbfinale gegen Russland (3:0) musste Villa nach 34 Minuten verletzt ausgewechselt werden. Aragones brachte Cesc Fabregas und stellte auf 4-5-1 um.

In der Quali kehrte Spanien zum 4-4-2 zurück. Durch die Verletzung von Fernando Torres stellte Del Bosque wieder auf 4-5-1 um und baute mit Alonso und Busquets anstelle des formschwachen Senna die Doppel-Sechs ein. In diesem System spielte Spanien in einem WM-Test Frankreich an die Wand und zauberte gegen Österreich (5:1) und Polen (6:0).

In den ersten WM-Spielen fielen Silva und Backup Navas durch, was Del Bosque dazu veranlasste, den nicht fitten Torres ins Sturmzentrum zu stellen und Villa über links angreifen zu lassen. Villa macht seine Tore, aber Torres ist ein Schatten seiner selbst. Del Bosque opferte einen Mittelfeldspieler, das System geriet ins Wanken.

Spanien verlor in Südafrika seine Dominanz, die Automatismen funktionieren nicht wie gewohnt. Del Bosque hat Torres gegen alle Widerstände durchgesetzt, überlegt aber dem Anschein nach, gegen Deutschland auf ihn zu verzichten und Silva wieder ins Team zu integrieren.

Deutschland vs. Spanien: Das Personal

Deutschland vs. Spanien: Das Umfeld

Das Umfeld

Deutschland

Eins der größten Ärgernisse für Löw. Die letzten beiden Jahre waren gezeichnet von Krisen, Fehden, Tragödien, Streitereien und Zerwürfnissen.

Zuerst der Ballack-Frings-Angriff auf seine Kompetenz, der Kuranyi-Rauswurf, die Zwischenrufe nörgelnder Bundesligatrainer, die Tragödie um Robert Enke, seine angeblich zu einseitigen Nominierungen, erneut das Theater um Frings und die geplatzte Vertragsverlängerung beim DFB mit der mehr als offensichtlichen Abkehr von Präsident Dr. Theo Zwanziger.

Löw hatte mehr Baustellen zu umschiffen als ihm lieb sein konnte. Aber schon vor der WM ging er als heimlicher Gewinner aus allen Kämpfen. Er war im Bezug auf den beinahe alternativlosen DFB am längeren Hebel und gewissermaßen autark in seinem Handeln.

Auch die immer wieder eingestreute Kritik von Größen wie Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß oder Klaus Allofs ließ Löw abblitzen. Er war in einem stürmischen ersten Halbjahr an der Otto-Fleck-Schneise in Frankfurt eine der wenigen Konstanten - wohl wissend, dass auch sein Handeln mit dem erfolgreichen Abschneiden bei der WM steht und fällt.

Derzeit dürfte es aber im deutschen Fußball nicht viele mächtigere Personen geben als Löw, der seine Reputation auf ein hohes Maß geschraubt und allen Angriffen der Kollegen und Medien getrotzt hat.

Spanien

Im Gegensatz zu Löw hat Del Bosque zwei ruhige Jahre als Nationaltrainer Spaniens hinter sich - abgesehen vom Beginn. Ehemalige Nationalspieler wie Torwart-Legende Andoni Zubizareta kritisierten die Lösung Del Bosque. Er sei zu lange raus gewesen aus dem Trainergeschäft.

Del Bosque konnte die Vorurteile schnell widerlegen. Unter ihm baute Spanien die Serie von ungeschlagenen Spielen auf 35 aus und gewann alle WM-Quali-Spiele mit einem Torverhältnis von 28:5. Beim Confed Cup 2009 reichte es aber "nur" zu Platz drei.

Mit den Medien kommt Del Bosque seit jeher gut aus. Zum kauzigen Aragones pflegte die spanische Presse eine tiefe Abneigung. Das macht den Job für Del Bosque einfacher, wenngleich, ähnlich wie in Deutschland, Besserwisser auch in Spanien immer wieder das Wort ergreifen. Ausgerechnet Aragones lässt keine Gelegenheit aus, die Leistungen der Seleccion bei der WM zu kritisieren.

Egal, wie das Turnier für Spanien endet: Del Bosque wird Nationaltrainer bleiben, es sei denn, er geht aus freien Stücken. Der Verband hält zu ihm. Verbandspräsident Angel Villar Mar hatte unmittelbar nach der Auftaktniederlage gegen die Schweiz gesagt: "Was auch passiert: Del Bosque wird als Trainer weitermachen." Geplant ist ein Engagement bis nach der EM 2012.

Deutschland vs. Spanien: Das Personal

Deutschland vs. Spanien: Der Spielstil