Dietmar Beiersdorfer vom FC Ingolstadt im Interview: "Dann ist man auch beim Memory nur zu 35 Prozent bei der Sache"

Jochen Tittmar
11. April 202208:36
Beiersdorfer war von 2002 bis 2009 und von 2014 bis 2016 beim HSV.getty
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Nach fast fünf Jahren ohne Anstellung im Profifußball wurde Dietmar Beiersdorfer im November 2021 Geschäftsführer Sport und Kommunikation beim Zweitligisten FC Ingolstadt 04. Das überraschte, schließlich arbeitete der 58-Jährige zuvor bei Schwergewichten wie dem HSV und Zenit St. Petersburg.

Im Interview mit SPOX und GOAL spricht Beiersdorfer über seine lange Auszeit, die Belastung seines Berufs und Niederlagen beim Memory.

Der ehemalige Bundesligaprofi erzählt zudem von seinem Aufenthalt in Russland, den Einfluss des Gazprom-Chefs und erklärt, warum er die 1. Liga nicht für langweilig hält.

Herr Beiersdorfer, Anfang November 2021 haben Sie nach rund fünf Jahren ohne Anstellung im Profifußball beim FC Ingolstadt 04 unterschrieben. Jetzt sind Sie fünf Monate im Amt - mussten Sie sich erst wieder an das zeitintensive Pensum dieses Jobs gewöhnen?

Dietmar Beiersdorfer: Nein, ich habe mich schnell wieder an den alten Pulsschlag gewöhnt und ihn auch irgendwo gesucht. Für mich ist Fußball sieben Tage die Woche, so habe ich es gelernt und so muss es auch sein. Das kriege ich nicht mehr heraus. Es hat mir auch gefehlt. Ich habe schnell festgestellt, dass es mir großen Spaß macht, wieder tagtäglich mit Menschen an Projekten zu arbeiten und Strategien zu entwickeln.

Sie haben in der Zeit außerhalb des Fußballs Beratungsmandate für sportnahe Unternehmen sowie Startups übernommen und sich weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Was haben Sie sich gerade zu Beginn der neuen Freizeit gegönnt, um Abstand gerade von dem turbulenten Engagement beim HSV zu gewinnen?

Beiersdorfer: Ich bin relativ viel mit der Familie weggefahren und habe ein paar sehr schöne Urlaube verbracht. Wir waren mehrere Wochen an der Westküste der USA und haben uns auch den Indian Summer an der Ostküste angeschaut, waren auf Island oder in der Türkei, dem Heimatland meiner Frau. Es war toll, viel Zeit mit meiner Tochter verbracht und sie auf dem Weg durch die ersten Schuljahre begleitet zu haben. Ich habe mich wirklich gut erholt und mit einem völlig anderen Rhythmus gelebt als zuvor.

Wenn man wie Sie so viele Jahre am Stück in einer exponierten Rolle gearbeitet hat und daraufhin über einen längeren Zeitraum ausscheidet, reflektiert man das Vergangene dann alleine oder haben Sie sich dafür professionelle Hilfe geholt?

Beiersdorfer: Nein, das habe ich nicht. Ich brauchte erst einmal ausreichend Abstand von meiner alten Tätigkeit, die sehr intensiv und innig war. Das benötigt einfach Zeit. Irgendwann kommen die Dinge automatisch wieder hoch, die man damals anders gesehen hat oder heute anders entscheiden würde. Ich habe sie aber nicht mit irgendeiner Unterstützung abgearbeitet, sondern Zug um Zug und dabei das Meiste mit mir selbst ausgemacht, aber auch mit Freunden oder Leuten aus der Branche darüber gesprochen.

SPOX-Redakteur Jochen Tittmar traf Dietmar Beiersdorfer zum Gespräch in Ingolstadt.spox

Haben Sie in Ihrer Pause gemerkt, dass das Leben außerhalb des Fußballs eventuell sogar lebenswerter ist?

Beiersdorfer: Also wenn ich mir die Bilder vom Ende meiner zweiten HSV-Zeit anschaue - heute sehe ich frischer aus. (lacht) Ich kann dieses Hoch und Runter in der Branche nach fast 40 Jahren ja aber einordnen und abstrahieren. Der Sport ist eben ganz oft nicht berechenbar. Es gibt unheimlich viele Einflussfaktoren, die Entscheidungen in unterschiedliche Richtungen lenken können und mit denen man permanent umgehen muss. Beeinflussen kann man sie allerdings nur bis zu einem bestimmten Grad.

Inwiefern haben Sie in dieser Phase erst so richtig realisiert, wie groß der Druck war, der zuvor auf Ihnen lastete?

Beiersdorfer: Ich habe noch vor Augen, wie ich 2002 im Gespräch mit dem HSV über die Stelle als Sportdirektor und Vizepräsident war. Da gab es ein Vorbereitungsspiel und es kamen 40.000 Zuschauer ins Stadion. Damals habe ich das ganz anders wahrgenommen und mir gesagt: Für all diese Leute sollst du dich jetzt auch mitverantwortlich zeigen? Das wird schon hart. Ich habe den Druck später aber nie als Belastung empfunden. Belastet haben mich eher Dinge wie: Ist das nun der richtige Trainer oder Spieler für unseren Klub?

Max Eberl hat bei Borussia Mönchengladbach die Reißleine gezogen, weil er aufgrund der Anstrengungen und Entbehrungen des Berufs erkrankt ist. Wie nah waren Sie schon einmal an einem solchen Punkt?

Beiersdorfer: Es gab mit Sicherheit immer wieder Phasen, in denen ich am Anschlag oder darüber war. Am Ende kommt es darauf an, wie tief man sich emotional mit dem Job auseinandersetzt. Je tiefer diese Emotionalität ist, desto schwerwiegender ist die Gefahr, in Situationen zu geraten, in denen man mental und körperlich erschöpft ist. Ich habe immer versucht, es so zu leben, dass ich den Druck nicht so bewusst spüre. So war es für mich gerade anfangs leichter, in die Rolle und ihre Aufgaben hineinzuwachsen. Ich habe immer mehr nach innen gewirkt, weil es mir nicht so wichtig war, was nach außen scheint.

Ist es überhaupt möglich, von einem solch öffentlichen Beruf auch einmal wirklich abzuschalten?

Beiersdorfer: Wenn man so stark in die verschiedenen Themen involviert ist, gibt es ganz wenige Zeiten, in denen man sich einmal richtig herausnehmen kann - auch weil einen die Themen nicht wirklich loslassen. Phasen zum Abschalten hat man dann kaum. Die Belastung ist schon erheblich und man kann sie ganz selten vor der Haustüre einfach abstreifen. Dann ist man auch beim Memory nur zu 35 Prozent bei der Sache und verliert oft. (lacht)

Inwiefern haben Sie sich nun auch bewusst für einen kleineren und familiären Klub wie den FCI entschieden, bei dem weniger Leute mitreden und wo nicht alles öffentlich kommentiert wird?

Beiersdorfer: Das hatte natürlich seinen Reiz. Ich habe hier aber vor allem die Möglichkeit, inhaltlich zu arbeiten und gemeinsam eine in die Zukunft gerichtete Strategie zu entwickeln. Wir haben infrastrukturell sehr gute Voraussetzungen. Ich sehe mich in der Lage, einer der Köpfe zu sein, die dies alles Stück für Stück nach vorne treiben. Mit der Zeit haben sich auch mein Anspruch und die Arbeitsinhalte ein bisschen geändert. Das hat gar nichts mit Motivation zu tun, die hat bei mir keineswegs abgenommen. Eher mit einer gewissen Erfahrung, so dass man sich mit einigen Sachen nicht mehr so stark auseinandersetzen will, weil man weiß, wie wenig zielführend sie sind.

Ganz anders als in Ingolstadt ging es bei Zenit St. Petersburg zu, wo Sie von August 2012 bis Juli 2014 Sportdirektor waren. Der Verein wurde vom russischen Staatskonzern Gazprom alimentiert und hat zu Ihrer Zeit enorm hohe Summen für Transfers ausgegeben. Wie anders war das Arbeiten dort?

Beiersdorfer: Ich konnte lange Zeit total unter dem Radar arbeiten, weil mein Engagement erst Monate später bekannt wurde. Mir war das auch ganz recht, da viel zu tun war. Insgesamt war es schon komplett anders, in jeglicher Hinsicht.

Können Sie das konkretisieren?

Beiersdorfer: Zum Beispiel waren die Mitarbeiter im Klub einerseits sehr herzlich, hilfsbereit und wissbegierig. Andererseits aber auch überrascht, wenn man sie miteinbezogen oder nach ihrer Meinung befragt hat. Damit konnten sie anfangs gar nicht richtig umgehen, weil sie es gewohnt waren, dass eine klare Hierarchie mit klaren Vorgaben herrscht. Sie wachsen einfach in einem anderen System auf, an das sie sich anpassen müssen.

Dietmar Beiersdorfer: Seine Stationen als Funktionär

VereinFunktionAmtszeit
Hamburger SVVorstand Sport2002-2009
Red Bull GmbHHead of Global Soccer2009-2011
Zenit St. PetersburgSportdirektor2012-2014
Hamburger SVVorstandsvorsitzender/Direktor Profifußball2014-2016
FC Ingolstadt 04Geschäftsführer Sportseit 11/2021

Es sollen auch einmal Spielerverträge ohne Ihr Wissen verlängert worden sein.

Beiersdorfer: Diese Dinge waren unter anderem auch aufgrund der Sprache ein wenig aufgeteilt zwischen den internationalen und nationalen Spielern. Besonders die russischen Nationalspieler hatten einen hohen Stellenwert und Kontakt zur Spitze der Hierarchie. In der Tat wurden der Trainer und ich einmal überrascht, als ein Spieler ohne unser Zutun verliehen wurde.

Wie reflektieren Sie heute, besonders natürlich im Angesicht des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, dass Russland in den vergangenen Jahren immer stärker diktatorische Züge angenommen hat?

Beiersdorfer: Es war für mich als Expat auch aufgrund der Sprachbarriere schwer, intensive Einblicke in die russische Gesellschaft zu bekommen. Wir, also meine Familie und die italienischen Trainer um Luciano Spalletti, waren in einer geschlossenen Wohnanlage untergebracht. Daher haben wir uns die meiste Zeit in unserer Blase aufgehalten. Natürlich waren wir trotzdem oft Essen, in der Stadt unterwegs oder auf dem Trainingsgelände und in der Akademie. Grundsätzlich habe ich dort von diesen Zügen nichts gespürt, sondern viele tolle und offene Leute getroffen. Man darf in traurigen Tagen wie diesen auf keinen Fall alle Menschen, die die russische Staatsbürgerschaft besitzen, unter dem Aggressor subsumieren.

Von August 2012 bis Juli 2014 war Dietmar Beiersdorfer Sportdirektor von Zenit St. Petersburg.imago images

Wie groß war der Einfluss von Gazprom bei Zenit?

Beiersdorfer: Gazprom hat schon eine Rolle gespielt, klar. Es kam vor, dass Gazprom-Chef Alexei Borissowitsch Miller nach Heimspielen in der Kabine vorbeischaute. Er ist ein mächtiger Mann, das hat man am Verhalten aller russischen Mitarbeiter gespürt. Er war auch bei den Spielern ein angesehener Gast, weil er durchaus ab und zu die Prämien angepasst hat.

Wenn Sie aktuell noch bei Zenit angestellt wären, hätten Sie dann auch Ihr Amt niedergelegt wie es beispielsweise die Trainer Markus Gisdol und Daniel Farke getan haben?

Beiersdorfer: Natürlich.

Wie blicken Sie denn nach all Ihren Erfahrungen und nun der langen Zeit außerhalb des Geschäfts auf gesamtheitliche Entwicklungen im Fußball: Ist die Bundesliga, gerade auch durch die neun Meistertitel des FC Bayern in Serie, langweiliger geworden?

Beiersdorfer: Auch ich wünsche mir als Fußballfan in jedem Jahr bis zum Schluss spannende Titelrennen, das ist klar. Doch diese Frage stellt sich für mich nicht groß. Was wäre dann die Konsequenz - soll ein Salary Cap nur für Bayern München verhängt werden?

Zuletzt wurde an einigen Stellen dafür plädiert, Playoffs um die Meisterschale einzuführen.

Beiersdorfer: Davon halte ich nichts. Gerade in jetzigen Zeiten ist die Wettbewerbsfähigkeit eines Klubs nicht ausschließlich von der Kaderzusammenstellung sowie den Planungen vor und den Leistungen während einer Saison abhängig. Es sind auch andere Faktoren dazugekommen. Playoffs würden die Arbeit über eine Gesamtstrecke konterkarieren, vom langfristigen Leistungsgedanken und der Belohnung für kontinuierlich gute Arbeit wegführen.

Beiersdorfer war von 2002 bis 2009 und von 2014 bis 2016 beim HSV.getty

Schadet aber eine solche Dominanz, die es in anderen Ländern freilich ebenfalls gibt, nicht dem Wettbewerb?

Beiersdorfer: Es ist durch Wechsel im Management oder auf Spielerseite ja die Möglichkeit gegeben, Mannschaften besser zu machen und damit in diese Phalanx einzubrechen. Man muss auch Respekt zollen, wenn man einen Klub über viele Jahre oben an der Spitze halten kann. Auch wenn man wie Bayern München zweifelsfrei mehr Möglichkeiten als andere hat, ist es kein Selbstläufer, über die Jahre eine Kultur zu entwickeln, die erfolgreich ist. Zumal es auch mit größeren finanziellen Mitteln nicht unbedingt leichter sein muss, weil man auf diesem Niveau ja auch Spieler verliert und neue Spieler integrieren muss. Das sieht immer alles so leicht aus. Sich nach oben zu arbeiten ist schon schwer, dort zu bleiben aber eine echte Kunst.

Manche sehen einen Hebel in einem neuen Verteilungsschlüssel bei den Fernsehgeldern - auch, damit es für Aufsteiger leichter ist, sich in der Bundesliga zu etablieren.

Beiersdorfer: Es ist schon so, dass die Unterschiede von unten nach oben riesengroß sind. Trotzdem ist es für die Vereine leichter, die Dinge zu adaptieren und sich einer höheren Liga anzupassen. Schwieriger ist dagegen, wenn es von oben nach unten geht. Dann ist man einen ganz anderen Schlüssel gewohnt, um seinen Klub aufzustellen und muss völlig andere Erlöse und Rahmenbedingungen handhaben. In solchen Fällen ist es für Vereine vermehrt schwerer geworden, dies mit ihrer eigenen Erlös- und Kostenstruktur im Griff zu behalten - speziell in Zeiten der Pandemie. Das wird dann leider oftmals auf den Rücken vieler Mitarbeiter ausgetragen und damit geht mitunter Vertrauen in den Klub - intern wie extern - verloren. Genau dieses Vertrauen ist es, das jeder Verein dringend braucht, um sich sportlich und als Fixpunkt für Stadt und Region kontinuierlich zu entwickeln.