Nach einer starken letzten Saison findet sich der FC Everton nach Transferausgaben in Höhe von 158 Millionen Euro aktuell nur im unteren Mittelfeld der Premier League wieder. Die Neuzugänge schlagen nicht ein, Trainer Ronald Koeman wurde bereits entlassen und in der Europa League war das Aus schon nach dem vierten Spieltag besiegelt. Die Niederlage gegen Bergamo war da nur noch ein Tropfen auf dem heißen Stein. Dabei kann es eigentlich nicht am Spielermaterial liegen.
"Wir wollen allen zeigen, dass Everton der eine Klub außerhalb der 'Big 6' ist, der den nächsten Schritt macht. Ich denke jeder kann den Unterschied zwischen dieser und letzter Saison sehen, aber das ist nicht innerhalb einer Transferperiode oder einer Saison machbar. Das braucht Zeit."
Mit diesen Worten wurde Ronald Koeman im März auf der Homepage des FC Everton zitiert. Also zu einem Zeitpunkt, an dem Everton unmittelbar hinter den großen sechs Klubs (zweimal Manchester, FC Liverpool, Arsenal, Chelsea und Tottenham) auf Platz sieben der Premier-League-Tabelle stand. Dieser Tabellenplatz wurde dann auch bis zum 38. Spieltag verteidigt. Mit 15 Punkten Vorsprung und lediglich acht Punkten Rückstand auf Mourinhos Manchester United war der blaue Klub aus Liverpool also durchaus "Best of the Rest".
Acht Monate später ist Ronald Koeman weg vom Fenster. Nach mageren acht Punkten aus neun Spielen und dem direkten Abstiegsplatz 18 musste der Holländer seinen Hut nehmen. Keine Zeit, sich weiterzuentwickeln. Keine Zeit, Abgänge zu kompensieren und keine Zeit, Neuzugänge zu integrieren. Keine Zeit, die Menge an Talenten im Kader auf den Profifußball, geschweige denn auf die Premier League einzustellen.
Der Saisonstart hatte es in sich: An den Spieltagen zwei bis fünf traf man auf City, Chelsea, Tottenham und Manchester United - nicht umsonst derzeit die Top 4 der Tabelle. Dass man diese vier Spiele mit nur einem Punkt und 1:10 Toren absolvierte, ist zwar enttäuschend und keiner Mannschaft würdig, die im Sommer ca. 158 Millionen Euro ausgegeben hat.
Man darf aber auch nicht vergessen, dass die fleischgewordene Tormaschine weggebrochen war: Romelu Lukaku hatte in 166 Spielen für die Toffees 87 Tore geschossen, 29 Tore aufgelegt und immerhin 85 Millionen Euro eingespielt. Adäquat ersetzt wurde er trotz der enormen Ablösesumme nicht.
Evertons Krise: Enttäuschende Offensiv-Neuzugänge
50-Millionen-Neuzugang Gylfi Sigurdsson ist keine Sturmkante wie Lukaku, sondern eher ein Zehner, höchstens eine hängende Spitze. Trotzdem wird er oft genug als Flügelspieler eingesetzt, wo seine Qualitäten eher unter- als aufgehen. Mal ein Spiel auf Linksaußen, mal ein Spiel im offensiven Mittelfeld - gedankt hat es Gylfi mit bislang 0 Toren und einem Assist. Erschreckender als der Mangel an Toren ist dabei noch der Mangel an Vorlagen, den der eigentliche Standardspezialist so nicht kennt. Aber selbst nach ruhenden Bällen will ihm nicht viel gelingen.
Generell scheinen die Toffees noch nicht so recht zu wissen, wie sie mit ihrem Personal umgehen wollen. Bestes Beispiel: 30-Millionen-Neuzugang von Ajax Amsterdam und Koemans Wunschtransfer Davy Klaassen. Der Niederländer kommt bislang auf magere vier Einsätze, der letzte beim 2:1 Sieg gegen Bournemouth am sechsten Spieltag. In den letzten drei Ligaspielen stand er nicht mal im Kader.
Koemans Meinung zu Klaassen, als er ihn beim 1:1 gegen Brighton 90 Minuten auf der Bank ließ: "Es gibt keinen Zweifel an seinen Qualitäten. Es gibt so viele Beispiele von Spielern, die in ihrem Land die besten waren, bereit waren für den großen Transfer, und es dennoch hart fanden, sich hier durchzusetzen." Er kenne "größere Stars als Klaassen, die über ein Jahr gebraucht haben um ihre Leistung abzurufen."
Die gleiche Geschichte auf kroatisch? Die gibt's bei Toptalent Nikola Vlasic. Diesen Sommer für zehn Millionen von Hajduk Split gekommen - und gekommen ist er auch bislang auf vier Einsätze in der Premier League und Europa League. Anders als Klaassen konnte er zwar sein Preisschild mit ordentlichen Leistungen rechtfertigen, aber dennoch muss die Frage gestellt werden: Warum hat Ronald Koeman ca. 90 Millionen Euro für drei offensive Mittelfeldspieler verbraten, die sich gegenseitig im Weg zu stehen scheinen? Ganz nebenbei hat man ja auch noch das verletzte Juwel Ross Barkley, der ebenfalls im offensiven Mittelfeld zuhause ist.
Und den verlorenen Sohn.
Sorgenkinder im Kader des FC Everton
Wayne Rooney, nach 13 Jahren bei Manchester United in seine Heimatstadt und zu seinem Heimatklub Everton zurückgekehrt, hat ähnliche Probleme wie Gylfi Sigurdsson. Keine feste Position, mal die einzige, mal die hängende Spitze. Immerhin hat der ablösefreie Veteran fünf Tore in 18 Einsätzen beigesteuert, aber auch er ist nicht der Lukaku-Ersatz, den die Toffees brauchen. Abgesehen davon hat Rooney mit seiner Promille-Fahrt inklusive Strafe genügend andere Sorgen.
Der Einzige, der bislang überzeugen kann, ist Oumar Niasse, der im Winter 2016 für ca. 17 Millionen Euro von Lokomotive Moskau verpflichtet und direkt nach Hull verliehen wurde. In dieser Saison arbeitet er fleißig daran, seine Ablöse zu rechtfertigen: In sieben Einsätzen, schoss er fünf Tore, darunter das wichtige 2:2 gegen Crystal Palace in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit. Außerdem holte er den Elfmeter zum zwischenzeitlichen 1:1 raus, wofür er allerdings wegen einer klaren Schwalbe nachträglich gesperrt wurde. Everton muss also in den nächsten zwei Spielen ohne den Senegalesen auskommen, dessen Tore angesichts der Gegentorflut erst recht unverzichtbar sind.
Evertons Hoffnungsträger: die jungen Spieler glänzen
Zwar ist die Saison bisher eine einzige, blaue Enttäuschung, aber es gibt Einiges an Hoffnung für die Zukunft: Die vielen Spiele im Ligabetrieb, der Europa League und dem Carabao Cup bieten in Verbindung mit einigen verletzten Stammkräften viel Raum für das riesige Talent-Potenzial in Evertons Kader.
Profiteure sind unter anderem Innenverteidiger Mason Holgate (21), Rechtsverteidiger Jonjoe Kenny (20), der für den verletzten Routinier Sheamus Coleman einspringt, Tom Davies (20) und Ademola Lookman (20), der den langzeitverletzten Yannick Bolasie ersetzt.
Als ob das noch nicht genug junges Blut für die Kaderbreite wäre, hat Everton mit Dominic Calvert-Lewin (20) auch noch eines der größten Offensiv-Talente im Kader, das die Premier League zu bieten hat. Der U21-Nationalspieler ist sowohl auf links, als auch in der Spitze einsetzbar und wurde bislang in jeder Ligapartie eingesetzt.
Damit vervollständigt sich die enorme Kaderbreite in der Offensive, die eigentlich nur noch richtig eingesetzt werden muss. Was bislang fehlt ist eine klare Formation, denn die gab es weder unter Koeman, noch gibt es sie unter Interimstrainer Unsworth. 4-1-4-1, 4-2-3-1, 4-3-3 - in der Offensive wurden schon sämtliche Varianten gespielt. Nur die Viererkette in der Defensive bleibt.
Evertons Weg aus der Krise: der Kader braucht Struktur
Mit Neuzugang Keane und Linksverteidiger-Routinier Leighton Baines steht die Viererkette zumindest zur Hälfte konstant. Die andere Hälfte wird in der Innenverteidigung vom Waliser Ashley Williams oder vom 35-Jährigen Kapitän Phil Jagielka komplettiert, die aber vor allem in ihren Leistungen alles andere als konstant sind. Auch Talent Holgate ist schon zu Einsätzen gekommen. Der verletzte Sheamus Coleman wird auf rechts abwechselnd von Cuco Martina und Jonjoe Kenny ersetzt.
Rotation schön und gut, aber dennoch sind die 24 Gegentore keine Überraschung, wenn die Viererkette um den noch nicht integrierten Neuzugang Keane ständig durchgeschüttelt wird.
Es fehlt schlicht und ergreifend die richtige Zusammensetzung. Bleibt abzuwarten, ob und wie sich die millionenschweren Neueinkäufe um Sigurdsson und Klaassen unter dem neuen Trainer besser entwickeln, denn spätestens zur Rückrunde muss in der schnelllebigen Premier League Leistung gebracht werden. Mit der Geduld, die vor allem Ronald Koeman immer wieder gefordert hat, ist schon lange nicht mehr zu rechnen.
Evertons Suche nach dem richtigen Trainer
Die spannendste Frage ist also erstmal, wer der neue Trainer wird, denn vielleicht kommt mit diesem wieder mehr Struktur in den Kader. Sowohl offensiv, als auch defensiv bietet das Team in der Breite und der Spitze die Qualität, um den Anschluss in der Premier League zu finden und normalerweise auch um die EL-Gruppenphase zu überstehen.
Fakt ist, dass die Klubführung nicht mehr mit Interimstrainer Unsworth weiter machen will, denn dieser hat den Kader bislang genauso wenig beisammen bekommen wie Vorgänger Koemann, der ihn zusammen gestellt hat. Lediglich gegen Watford gab es einen Sieg, durch einen Elfmeter in der Nachspielzeit. Ansonsten drei Niederlagen und das 2:2 gegen Schlusslicht Palace. Alternativen wurden mit Sam Allardyce und Marco Silva schon angefragt, aber der eine wollte und der andere durfte nicht.
Schade, denn ein durchgreifender Trainer wäre wahrscheinlich genau das richtige, wo mit Southampton, West Ham und Huddersfield Mannschaften warten, die nichts mehr mit dem harten Auftaktprogramm zu tun haben. Oder Unsworth nutzt die Chance und liefert Punkte, solange noch kein Ersatz gefunden ist.