Der FC Watford steht zum zweiten Mal in seiner Vereinsgeschichte im FA-Cup-Finale - am Samstag geht es gegen Manchester City (18 Uhr live auf DAZN und im LIVETICKER). Bei der ersten Finalteilnahme 1984 durchlebte der Verein gerade seine spannendste Zeit. Trainer Graham Taylor führte Watford unter Präsident Elton John innerhalb von sechs Jahren von der vierten Liga bis nach Europa. Er schwor auf zwischenmenschliche Geschlossenheit und feinsten Kick'n'Rush, der auf pseudo-mathematischen Berechnungen beruhte.
Sie hatten es tatsächlich geschafft. Sie, das waren Präsident Elton John und Trainer Graham Taylor. Dieser fußballverrückte Musiker und dieser Trainer-Novize hatten den FC Watford innerhalb von nur sechs Jahren tatsächlich von einem unbedeutenden Viertligisten zu einem Spitzenklub der ersten Liga gemacht. Zu so einem Klub, der mal eben nach China eingeladen wird, um dort die Massen zu begeistern.
Und dann kam Watford im Sommer 1983 eben nach China und begeisterte die Massen. Vor 80.000 Chinesen besiegten die Hornets die lokale Nationalmannschaft mit 3:1 und dann wurde gefeiert. Weniger der Sieg über die Chinesen - klar, es war immerhin ein Nationalteam, aber immer noch das chinesische - nein, nicht der Sieg an sich wurde gefeiert, sondern vielmehr der sagenhafte Aufstieg des FC Watford, dieses erstaunlichen Klubs aus dieser wenig erstaunlichen Kleinstadt im Nordwesten Londons. Knapp 80.000 Leute wohnten damals in Watford, unter anderem natürlich auch Rita, Grahams Ehefrau.
Und sie war es auch, die dem ganzen Gefeiere schließlich ein Ende setzte, so erzählt man es sich zumindest. Elton John und Taylor feierten also in China und wohl auch noch im Flugzeug und torkelten irgendwann aus dem Taxi in den Vorgarten von Taylors Haus in Watford. Das an sich wäre wohl schon laut genug gewesen, aber um sicher zu gehen, sang das musikalisch lediglich zur Hälfte begabte Duo auch noch Weihnachtslieder. Rita wachte der Legende nach jedenfalls auf und holte Ehemann und Vereinspräsidenten ins Haus.
imagoWatfords unfassbare Reise begann 1976
Die beiden schliefen dann wohl gemeinsam ihren Rausch aus, wie sie schon so vieles gemeinsam getan hatten. Die unfassbare Reise begann 1976, Elton John hatte gerade den FC Watford gekauft. Seinen FC Watford, den Klub, den er von klein auf unterstützte und dem er nun, als er jemand war, etwas zurückgeben wollte. Die finanziellen Ressourcen konnte er selbst geben, den fachlichen Input aber nicht. Dafür holte sich das musikalische Naturtalent sein Fußballer trainierendes Gegenstück.
21 war Taylor, als er seinen ersten Trainerkurs abschloss, 27 als er seinen FA-Trainerschein machte. Jünger tat das bis dahin keiner. Als er ein Jahr später verletzungsbedingt seine wenig ruhmreiche aktive Karriere beenden musste, wurde er Trainer des FC Lincoln. Klar, der jüngste im englischen Ligensystem. Während Elton John Nummer-eins-Hits sang, sammelte Taylor Erfahrungen im Trainerberuf.
1977 war Taylor 32 und der Erstligist West Bromwich Albion an seinen Diensten interessiert, doch Taylor gab sie dem Viertligisten FC Watford. Elton John hatte ihn überredet. Der Musiker hatte von der ersten Liga fabuliert und auch von europäischen Nächten. Taylor hatte eigentlich nicht wirklich geglaubt, was er hörte, aber er war schon irgendwie gefesselt von dem Projekt.
Denn auch das Niemandsland des Ligensystems hat seine Reize und Vorteile, das wusste auch Taylors künftiger Stürmer Luther Blissett: "Wenn du ganz unten bist, hast du mehr Anlauf für den Sprung nach oben." Also Anlauf. Und los. Aufstieg in die dritte Liga, 1978. Aufstieg in die zweite Liga, 1979. Immer weiter. Aufstieg in die erste Liga, 1982. Zweiter Platz in der ersten Liga, 1983. Europäischer Fußball und FA-Cup-Finale, 1984.
gettyImmer gegen die ganze Stadt
Es war ein Siegeszug, der seinesgleichen suchte und einer, der auf klaren Prinzipien basierte. Fußballerischen und zwischenmenschlichen. Taylor hatte Ideen, wofür sein Verein stehen sollte und wie seine Mannschaft spielen sollte, und diese Ideen setzte er auch um. Allen Widerständen zum Trotz.
"Unsere Gegner denken bei Spielen an der Vicarage Road immer, sie haben es mit der ganzen Stadt zu tun", sagte Taylor mal stolz und fühlte sich sicherlich auch ein kleines bisschen bestätigt. Er sah es von Beginn an als seine Aufgabe an, Klub und Stadt zu einen und ein großes Miteinander zu schaffen.
Ausgehen musste das natürlich vom Klub selbst. Vom Präsidenten, dem Trainer und den Spielern. Die kickenden Angestellten besuchten Schulen, Krankenhäuser, Restaurants und Pubs in Watford. Lange Anreisen hatten sie dafür ohnehin nicht: Die Spieler durften höchstens 30 Meilen vom Stadion an der Vicarage Road entfernt wohnen. Örtliche Nähe schuf zwischenmenschliche.
Taylor selbst liebte es, sich auf den Straßen mit den Fans zu unterhalten und auch Elton John war bei so gut wie jedem Heimspiel im Stadion. Der Verein richtete eine Familien-Tribüne ein und zu Ostern wurden für die Kinder kleine Überraschungen auf den Tribünen versteckt. "Der Fußball braucht seine Wurzeln und einen engen Bund mit den Fans", sagte Taylor. In Watford wurde dieser Bund gelebt.
Watfords Taktik: Mathematisches Draufdreschen
So sanft und liebevoll mit den eigenen Fans umgegangen wurde, so rustikal und grob mit dem Ball. Hoch und weit nach vorne, feinster Kick'n'Rush. Draufdreschen, hieß das Motto. In Watford war Draufdreschen aber nicht gleich Draufdreschen. Draufdreschen war hier Mathematik. Damals, in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, erhielt die Mathematik Einzug in den englischen Fußball. Ein Trio machte sich auf, den Fußball zu entschlüsseln.
Da wäre Charles Reep, ein ehemaliger RAF-Leutnant und hobbymäßiger Fußball-Analyst. Charles Hughes, ein Trainer ohne Profi-Hintergrund dafür aber mit akademischer Ausbildung. Und eben Graham Taylor, der als Watford-Trainer mit Reep und Hughes im Austausch stand. Relativ zeitgleich machten sie sich Gedanken darüber, Fußballsiege mathematisch zu errechnen. Wer dabei von wem inspiriert wurde, ist so unklar wie umstritten.
Alle drei kamen bei ihren Berechnungen jedenfalls zum gleichen Schluss: Die meisten Tore fallen nach Aktionen, die aus weniger als drei Pässe bestehen, weshalb es die zielführendste Spielweise sei, so schnell wie möglich zum Abschluss zu kommen. Sie alle übersahen dabei aber den Umstand, dass die Wahrscheinlichkeit zu treffen mit der Anzahl an vorangegangenen Pässen steigt. Sie rechneten mit absoluten Zahlen, nicht mit relativen. Ein mathematischer Fehler, der den zweiten Bildungsweg Hebamme wählte. Er wurde zur Geburtshilfe des systematischen Kick'n'Rush.
gettyMit Reachers zum POMO
Die Berechnungen der Pseudo-Mathematiker wurden immer obskurer. Es ging etwa um einen ominösen POMO, den "Point of Maximum Opportunity". Ein imaginärer Punkt im Strafraum, der mit den langen Bällen anvisiert werden sollte, um höchste Erfolgschancen auf Treffer zu gewährleisten. Es ging auch um sogenannte Reachers, erstrebenswerte lange Bälle, die im Angriffsdrittel landen. 202 Reachers schaffte Watford mal gegen Chelsea und darauf war man sehr stolz. Rekord, nickten die Fußball-Mathematiker anerkennend. Über 90 Prozent aller Treffer Watfords unter Taylor fielen nach weniger als drei vorangegangenen Pässen. Einsame englische Spitze.
Kurios an den fehlerhaften Berechnungen war, dass der Spielstil trotzdem funktionierte. Denn Watford hatte das ideale Personal dafür. Nigel Callaghan etwa, der von den Flügeln im 4-4-2 präziseste Flanken schlug. Luther Blissett, der die Flanken verwertete. Und John Barnes, der beides tat. Es wurde hoch gepresst und nach Ballgewinn geradlinig das gegnerische Tor anvisiert.
In Europa wurde Watfords Taktik entschlüsselt
"Er hat uns im Training genau erklärt, warum seine Methoden funktionieren und wir haben ihm geglaubt", sagte sein ehemaliger Spieler Brian Talbot. Präsident Elton John lobte "Weisheit und Genius" von Taylor. "Jahrzehnte bevor es iPads gab, nutzte er statistische Analysen", erinnerte sich Ex-Spieler Lee Sinnott, "er war seiner Zeit voraus."
Watford marschierte also durch das Ligensystem und landeten schließlich 1983 lediglich von Liverpool geschlagen auf dem zweiten Platz der ersten Liga. Das bedeutete die Qualifikation für den UEFA Cup und war gleichzeitig die Grenze für Watfords Kick'n'Rush.
In der heimischen Liga versuchten Watfords Kontrahenten, den Stil der Hornets zu kopieren, um so dagegenzuhalten. Vergeblich. Die Kopien waren schlechter als das Original. "In Europa haben wir aber gegen Mannschaften gespielt, die sich zurückgezogen haben, kurze Pässe gespielt und den Ball gehalten haben", sagte Taylor. Formel entschlüsselt.
Gegen Sparta Prag schied Watford schließlich aus. "Wenn wir den Ball verloren haben, haben wir ihn nicht mehr zurückbekommen", klagte Taylor. Es war wie Kinder gegen Erwachsene. Und es war bis heute Watfords letzter europäischer Auftritt. Das FA-Cup-Finale der Saison 1983/84 ging gegen Everton verloren.
gettyGraham Taylor ging und kam wieder
Mit einer Taktik, die einfacher kaum sein könnte; mit einer Stadt, die geschlossen hinter dem Klub stand; mit einem Präsidenten, der seinen Traum lebte und einem Trainer, der Prinzipien hatte, wurde Watford vom viertklassigen Niemand zum zweitbesten Team Englands.
Nach zehn Jahren verließ Taylor Watford 1987, um Aston Villa und auch mäßig erfolgreich das englische Nationalteam zu trainieren. 1996 kam er zurück und führte die mittlerweile in die dritte Liga durchgereichten Hornets erneut in die erste Liga. Ganz so schön wie damals war es aber nicht mehr.
"Meine erste Amtszeit in Watford waren wahrscheinlich die zehn glücklichsten Jahre meines Lebens", sagte Taylor mal und meinte damit wohl die Erfolge gleichermaßen wie die große Gemeinschaft, die manchmal dafür sorgte, dass in benebelter Vertrautheit im Sommer Weihnachtslieder gesungen wurden. Ob man sich jetzt nun daran erinnert oder auch nicht.