Nach der Blamage bei der WM 2010 hat es in Frankreich einen radikalen Schnitt im Kader der Nationalmannschaft gegeben. Trainer Laurent Blanc setzt auf neue Gesichter. Vor dem Testspiel gegen Deutschland am Mittwoch stellt SPOX zusammen mit einem Experten der französischen Sporttageszeitung "L'Equipe" jene zwölf Spieler der Equipe Tricolore vor, die in Südafrika nicht mit dabei waren - und nun unterschiedliche Rollen einnehmen.
Keine andere Nationalmannschaft der großen europäischen Nationen hat seit der WM 2010 einen solch strukturellen Wandel hinter sich wie das französische Team.
An der Seitenlinie wurde Raymond Domenech durch Laurent Blanc ersetzt. Nach der Meuterei der Spieler in Südafrika setzte der neue Selectionneur auf frisches Blut und begnadigte im Laufe seiner Amtszeit nur einige der WM-Fahrer - darunter Patrice Evra, Franck Ribery, Eric Abidal oder Florent Malouda, die alle im Kader für das Freundschaftsspiel am Mittwoch gegen Deutschland stehen (20.30 Uhr im LIVE-TICKER).
Blanc muss in Bremen verletzungsbedingt auf die beiden Angreifer Karim Benzema und Loic Remy verzichten. Bacary Sagna ist kurz nach der Rückkehr von seinem Wadenbeinbruch noch kein Thema, auch Arsenal-Teamkollege Laurent Koscielny fehlt im Aufgebot.
Dort finden sich jedoch auch zwölf Spieler, die seit der desaströs verlaufenen Weltmeisterschaft ihre Chance genutzt haben, ganz neu nominiert wurden oder wie im Falle von Louis Saha nach längerer Abwesenheit ins Nationalteam zurückkehren.
SPOX beleuchtet diese Akteure etwas genauer und nimmt dabei auch das Castrol EDGE Ranking, die Weltrangliste für Fußballer, als Referenzgröße zur Hilfe (So kommt das Ranking zustande). Damien Dubras, der als Kenner der Equipe Tricolore für die französische Sporttageszeitung "L'Equipe" arbeitet und die Nationalmannschaft seit Jahren begleitet, liefert zudem seine Einschätzungen zu den Spielern im Fokus.
ABWEHR
Mathieu Debuchy(26, OSC Lille), Castrol EDGE Ranking: Platz 232
Der "Terminator", wie ihn die englische Presse einst getauft hat, befindet sich auf dem absteigenden Ast. Vor anderthalb Jahren stand Debuchy schon auf dem Sprung in die Premier League, unter anderem der FC Liverpool war sehr interessiert. Seitdem stagniert Debuchy aber. Zwar holte er mit Lille in der letzten Saison das Double, auf internationalem Parkett in der Champions League konnte er aber kaum auffallen und schied in der absolut machbaren Gruppe mit Inter, ZSKA Moskau und Trabzonspor aus. In der Nationalmannschaft ist der 26-Jährige eher ein Mitläufer ohne große Chance auf einen Stammplatz. Sein Debüt gab er erst im Herbst 2011 gegen Albanien und bangt um seine Nominierung für die EM.
L'Equipe-Experte Damien Dubras: "Debuchy wird rechts in der Viererkette sehr wahrscheinlich keine große Rolle spielen - sofern er überhaupt mit zur EM fahren darf."
Philippe Mexes(29, AC Milan), Castrol EDGE Ranking: Platz 1007
Nach sehr langer Verletzungspause meldet sich Mexes wieder eindrucksvoll zurück. Dabei konnte er nach seinem Wechsel von der Roma nach Mailand erst seit ein paar Wochen zeigen, was für ein guter Innenverteidiger er ist. Eine Knieverletzung machte den Start bei Milan für Mexes ganz schwer, im Prinzip war er nur im MilanLab in Milanello am Schuften und nicht auf dem Platz. Seit Ende Oktober ist Mexes aber wieder da und hat sich seit Dezember in Milans Innenverteidigung zu einer verlässlichen Größe entwickelt. Am Wochenende hätte es im Spitzenspiel gegen Juve beinahe zu seinem ersten Saisontor gereicht. In der Equipe tricolore dürfte der 29-Jährige in dieser Form seinen Stammplatz in der Innenverteidigung sicher haben. Trainer Laurent Blanc jedenfalls hat Mexes dick auf dem Zettel - auch für das Kapitänsamt.
L'Equipe-Experte Damien Dubras: "Mexes ist ein Stratege, dazu bullig und kompromisslos im Zweikampf. Blanc hat ihn als Chef der Abwehr erkoren. Allerdings ist ungewiss, ob er nach seiner langen Verletzungspause wieder jene körperliche Stabilität auf den Platz bringen kann wie früher."
Adil Rami(26, FC Valencia), Castrol EDGE Ranking: Platz 210
Der heimliche Abwehrchef. Zwar hat er "erst" 16 Einsätze für Frankreich auf dem Buckel, bildet zusammen mit Mexes aber ein verlässliches Pärchen im Abwehrzentrum. Von Ex-Coach Raymond Domenech wurde Rami in letzter Sekunde noch aus dem WM-Kader vor knapp zwei Jahren gestrichen - unter Blanc wurde der 26-Jährige dann aber schnell zum absoluten Stammspieler. Mit dem Wechsel von Lille zum FC Valencia hat Rami in den letzten Monaten einen weiteren großen Schritt nach vorne gemacht. Neben seinen Defensivstärken ist Rami zudem bei Standards richtig torgefährlich - auch Bayer Leverkusen musste das beim 1:3 in der CL-Gruppenphase im Mestalla erfahren.
L'Equipe-Experte Damien Dubras: "Er hat in Valencia eine gute Entwicklung genommen und ist neben Mexes in der Innenverteidigung gesetzt. Ein wuchtiger Spieler, der stark in der Luft ist."
Mamadou Sakho(22, Paris SG), Castrol EDGE Ranking: Platz 156
Ein Vorzeigeobjekt gelungener Sozialisation und Integration. Sakho ist im Osten von Paris aufgewachsen, in einem Stadtteil mit vielen Schwarzafrikanern und Einwanderern. In der Jugend fiel er immer wieder durch Undiszipliniertheiten und Eskapaden auf, schaffte es bei PSG aber dennoch in den Profikader und macht seit vier Jahren eine traumhafte Entwicklung durch. Bei den Hauptstädtern ist Sakho in der Innenverteidigung gesetzt, war zeitweise trotz seiner jungen Jahre schon Aushilfskapitän. In dieser Saison hat er bis auf eine kleine Verletzungsphase alle Spiele für PSG bestritten. Im Nationalteam noch ein wenig außen vor, da ihm die internationale Erfahrung fehlt. Blanc betonte aber bereits, dass Sakho in Zukunft eine dominantere Rolle einnehmen wird.
L'Equipe-Experte Damien Dubras: "Das Riesentalent in der Abwehr! Mit 22 schon Kapitän bei PSG, ehrgeizig und willensstark. Sakho hat noch einen Vorteil: Er ist der einzige Linksfuß unter den potenziellen Innenverteidigerkandidaten. Nur sieht Blanc Rami und Mexes und unter Umständen auch Abidal noch knapp vor Sakho. Zur EM wird er aber trotzdem mitfahren und dort wichtige Erfahrungen sammeln."
Hier geht's zum Mittelfeld - von Amalfitano bis Martin
Hier geht's zum Sturm - von Gameiro bis Saha
MITTELFELD
Morgan Amalfitano (26, O. Marseille), Castrol EDGE Ranking: Platz 271
Der einzig "echte" Neue im Kader für das Spiel gegen Deutschland. Amalfitano spielt erst seit einem Jahr auf absolutem Toplevel. Vor seinem Wechsel zu OM war er in Lorient eine der Säulen der Mannschaft, hat jetzt in Marseille den nächsten Schritt gemacht und den Sprung in die Nationalmannschaft gepackt. Dabei war Amalfitano vor drei Jahren noch ein Nobody der Ligue 2, bei CS Sedan schaffte er als Mittelfeldspieler das Kunststück, in 126 Spielen kein einziges Tor zu erzielen.
L'Equipe-Experte Damien Dubras: "Amalfitano ist der Beweis, dass man es mit harter Arbeit bis ganz nach oben schaffen kann. Er ist ein klassischer Spieler für die rechte Außenbahn, lebt von seiner Einsatzbereitschaft, gibt keinen Ball verloren. Jetzt bekommt er seine Chance - ich denke, er wird sie nutzen."
Yohan Cabaye (26, Newcastle United), Castrol EDGE Ranking: Platz 350
Der Wechsel im Sommer weg aus der Heimat und raus in die weite Fußballwelt war durchaus ein Wagnis für den 26-Jährigen. Cabaye ist in der Nähe von Lille aufgewachsen und hat dort auch die Jugendmannschaften der Akademie durchlaufen, mit 17 in der zweiten Mannschaft debütiert und später den Sprung zu den Profis geschafft. Der Wechsel nach Newcastle in die Premier League hätte auch ein ausgewachsener Kulturschock werden können, Cabaye arrangierte sich aber recht schnell. Der feine Techniker ist Teil der neuen Doppelsechs und ein wendiger, äußerst cleverer Spieler. Dazu gefährlich bei Standards.
L'Equipe-Experte Damien Dubras: "Cabaye hat in Newcastle nochmal einen Sprung gemacht und wäre eigentlich ein Kandidat für die Stammelf. Aber: Blanc sieht es nicht so gerne, wenn im defensiven Mittelfeld gegen körperlich starke Gegner die Präsenz fehlt. Hier hat Cabaye noch Defizite. Deshalb hängt sein Einsatz auch immer ein wenig von der Spielanlage des Gegners ab."
Yann M'Vila (21, Stade Rennes), Castrol EDGE Ranking: Platz 473
Noch so ein Vorzeigeobjekt französischer Jugendausbildung: M'Vila durchlief alle Jugend-Nationalmannschaften von der U 15 bis rauf zur U 21 und feierte dann vor der WM 2010 fast schon zwangsläufig sein Debüt in der A-Nationalmannschaft. Domenech strich ihn aber in letzter Sekunde doch noch aus dem Kader. Bei Blanc ist M'Vila dagegen fest gesetzt. Schnell wurden Vergleiche mit Patrick Vieira gezogen, der einen ähnlich robusten, aber doch auch eleganten Spielstil pflegte. In den letzten beiden Jahren verfünffachte sich sein Marktwert von vier auf 20 Millionen Euro, neben zahlreichen englischen Klubs war auch Real Madrid am erst 21-Jährigen dran. Momentan sollen sich Milan und Inter um M'Vila balgen.
L'Equipe-Experte Damien Dubras: "Er ist der neue Boss im französischen Mittelfeld. M'Vila besitzt strategisches Geschick und eine tolle Aura. Die Vergleiche mit Vieira sind sehr gewagt, aber eine gewisse Ähnlichkeit unverkennbar."
Marvin Martin (23, FC Sochaux), Castrol EDGE Ranking: Platz 594
Das Hirn der Equipe tricolore. Martin ist bisweilen schon zu mannschaftsdienlich und als Zehner in einigen Situationen auch nicht egoistisch genug. Letzte Saison war er der beste Vorlagengeber der Ligue 1, am Ende standen sagenhafte 19 Assists zu Buche, was Sochaux in die Europa League führte. Auch deshalb gab es die Nominierung zum Young Player of the Year Award. Seit zwei Jahren spielt Martin auf einem konstant hohen Niveau, auch wenn es in dieser Saison nicht mehr ganz so gut läuft. Vor einiger Zeit wurden Gerüchte laut, wonach Borussia Dortmund am 23-Jährigen interessiert gewesen sei.
L'Equipe-Experte Damien Dubras: "Martin bringt alles mit, was ein Spielmacher braucht. Aber: Der Druck in Frankreich auf ihn ist enorm, nicht wenige vergleichen ihn mit Zidane. Damit muss er erstmal klarkommen. Für die EM ist er aber absolut gesetzt."
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STURM
Kevin Gameiro (24, Paris SG), Castrol EDGE Ranking: Platz 49
Kam vor der Saison für elf Millionen Euro aus Lorient und steht derzeit bei zehn Saisontoren für die Hauptstädter. Bezeichnete seine Saison bei PSG kürzlich als durchschnittlich. Trotz seiner ordentlichen Torquote fehlt ihm hin und wieder die Ruhe vor dem Kasten. Gameiro muss sich vor allen Dingen beim Spiel mit dem Rücken zum Tor verbessern. Durch den wieder genesenen Guillaume Hoarau hat sich der Konkurrenzkampf im Verein für Gameiro noch einmal verschärft, der 24-Jährige strotzt derzeit nicht unbedingt vor Selbstvertrauen. Umso wichtiger für den wendigen und schnellen Stürmer, dass Blanc weiterhin auf ihn setzt: "Er braucht uns jetzt", sagte der Nationalcoach zu seiner Nominierung. Blanc berief ihn erstmals kurz nach der WM, seitdem kam er acht Mal zum Einsatz (1 Tor). Vor Jahren lehnte Doppelstaatsbürger Gameiro einen Einsatz für die portugiesische Nationalelf ab.
L'Equipe-Experte Damien Dubras: "Gameiro ist ein scheuer Typ, der nicht gerne in der Öffentlichkeit steht. Auf dem Platz manchmal seltsam blockiert, vergibt dann auch größte Chancen fahrlässig. Ist in der Hierarchie deutlich hinter Giroud anzusiedeln und deshalb ein Wackelkandidat für die EM-Nominierung. Seine Chancen stehen allenfalls bei 50 Prozent."
Olivier Giroud (25, HSC Montpellier), Castrol EDGE Ranking: Platz 93
Giroud tingelte noch vor fünf Jahren mit dem FC Istres durch die dritte französische Liga. Wechselte dann zum FC Tours eine Klasse höher und schaffte dort den Durchbruch, als er 2010 Torschützenkönig der Ligue 2 (21 Treffer) und zum besten Spieler der Liga gewählt wurde. Nach seinem Transfer zu Montpellier stand der 25-Jährige kurz davor, bei Celtic Glasgow zu unterschreiben. Führt derzeit mit dem HSC nicht nur die Tabelle der Ligue 1, sondern auch mit 16 Buden die Torschützenliste an. Angeblich soll der FC Bayern auf den Linksfuß aufmerksam geworden sein, der in Größe (1,92 Meter) und Statur Mario Gomez ähnelt, jedoch deutlich kopfballstärker ist. Bekam im vergangenen November erstmals und folgerichtig einen Anruf von Blanc und wurde gegen die USA und Belgien jeweils eingewechselt. Steht beim Nationalcoach aufgrund seiner kontinuierlich nach oben verlaufenden Entwicklung hoch im Kurs.
L'Equipe-Experte Damien Dubras: "Giroud explodiert in dieser Saison förmlich. Er ist ein harter Arbeiter und echter Brecher, der aber auch mit dem Rücken zum Tor etwas mit den Zuspielen anzufangen weiß. Dazu ist er beidfüßig und extrem kopfballstark. Der komplette Stürmer - und trotzdem: Er wird bei der EM kaum über eine Jokerrolle hinaus kommen, sollte Blanc im gewohnten 4-2-3-1 spielen. Dann kommt er an Benzema einfach nicht vorbei."
Jeremy Menez (24, Paris SG) Castrol EDGE Ranking: Platz 275
Über Sochaux und Monaco landete der jüngste Hattrick-Torschütze der Ligue 1 2008 beim AS Rom. Dort schaffte er es trotz seiner leichtfüßigen und technisch hochwertigen Spielweise nicht, dauerhaft Konstanz in seine Leistungen zu bekommen. Seine Vielseitigkeit - der 24-Jährige kann alle offensiven Mittelfeldpositionen bekleiden sowie als Außenstürmer eingesetzt werden - wurde ihm dadurch zum Verhängnis. Nach nur sieben Toren in 84 Partien ging es vor der Saison für den PSG-Fan nach Paris. Dort ist er rechts in der Offensive unumstrittener Stammspieler und mitverantwortlich für die starke Saison der Hauptstädter. Durchlief alle Jugendnationalmannschaften und wurde 2004 mit der U 17 Europameister. Stand erstmals Anfang 2008 im A-Kader, bestritt aber erst unter Blanc nach der WM 2010 sein erstes Spiel für Frankreich.
L'Equipe-Experte Damien Dubras: "Menez ist ein Spieler für die rechte Offensivseite, auf der das Pendant zu Ribery noch gesucht wird. Menez ist schnell und kraftvoll, eigentlich eine gute Besetzung für den Flügel. Aber: Sein Spiel ist recht egoistisch. Wenn er den Ball einmal hat, will er ihn nur schwer wieder hergeben. Dazu kommt, dass Blanc Menez' enge Freundschaft zu Ribery und Benzema mit Argwohn betrachtet und eine Grüppchenbildung fürchtet."
Louis Saha (33, Tottenham Hotspur), Castrol EDGE Ranking: Platz 239
"Ich habe sieben Leben", sagte der Stürmer mit einem Schmunzeln nach seiner ersten Nominierung seit September 2010. Die Gründe dafür sind einfach: Da Remy und Benzema verletzt passen müssen, besteht im Sturm ein Engpass. Darüber hinaus befindet sich Saha derzeit in bestechender Form. Am letzten Tag der Wintertransferperiode wechselte der gebürtige Pariser von Everton zu den Spurs und erzielte dort in 131 Minuten Spielzeit schon drei Treffer. Hatte in der Nationalelf durchgehend einen schweren Stand, da er sich aufgrund von zahlreichen Verletzungen und anschließender Formschwankungen nie wirklich für mehr als die aktuell 19 Länderspiele aufdrängen konnte. Zur Illustration: Saha hat bei seinen Einsätzen seit der WM 2006 nie mehr als 25 Minuten für die Equipe tricolore auf dem Platz gestanden.
L'Equipe-Experte Damien Dubras: "Seine Rückholaktion für das Spiel gegen Deutschland dürfte einmaligen Charakter haben. Blanc hat ihn nominiert, weil Benzema und Remy verletzt sind und er eine Alternative brauchte. Für die EM ist Saha ziemlich sicher kein Thema."
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Frankreichs Gruppe D bei der EM 2012