Der Nachfolger von Antonio Conte steht fest: Nach der Europameisterschaft wird Giampiero Ventura neuer Trainer der italienischen Nationalmannschaft. Die Squadra Azzurra benötigt dringend einen Umbruch - ist Ventura mit seinen 68 Jahren aber der Richtige dafür?
Wir schreiben das Jahr 2011. Der FC Turin liegt am Boden. Schon wieder ist die Mission Wiederaufstieg missglückt, schon wieder muss man sich mit einem Platz im Mittelfeld der Serie B begnügen. Der einst so ruhmreiche Traditionsklub, der sieben Meisterschaften und fünf Pokalsiege sein Eigen nennen darf, ist endgültig zur Fahrstuhlmannschaft verkommen. Ein Kader, der vor Leihspielern nur so überquillt, und eine Vereinsführung, die Trainer in beängstigender Regelmäßigkeit vor die Tür setzt, sind nur zwei der Symptome, die den Klub plagen. Wie sollte es jetzt weitergehen?
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Wir schreiben das Jahr 2015. Der FC Turin ist auf Wolke sieben. Soeben hat man Athletic Bilbao im gegnerischen Stadion sensationell mit 3:2 aus der Europa League geschossen, nachdem man zu Hause ein 2:2 erkämpft hatte. Noch nie hat eine italienische Mannschaft die Basken im berüchtigten Hexenkessel von San Mames geschlagen - die Turiner schreiben Geschichte. Was war in diesen vier Jahren passiert? Zwei Worte: Giampiero Ventura.
Talente braucht das Land
Der Genuese übernahm den FC Turin am 6. Juni 2011, stieg direkt auf und formte aus dem Klub einen stabilen Erstligaverein mit eigener Identität. Der Kader besteht nun zu einem großen Teil aus jungen, italienischen Kickern, die fest an den Verein gebunden sind - in Italien alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Spieler wie Ciro Immobile oder Matteo Darmian werden für Summen, von denen man zuvor nur träumen konnte, an internationale Top-Vereine verkauft. Mit Andrea Belotti steht nun das nächste italienische Talent im Kader, das allein in der Rückrunde der vergangenen Saison elf Tore erzielte. Nicht wenige hätten den Stürmer gerne im Aufgebot für die EM in Frankreich gesehen.
Darin erkennt man eine der größten Stärken Venturas. Er entdeckt Talent und fördert es wie kaum ein anderer. So formte er in seiner Zeit beim FC Bari Leonardo Bonucci zu einem Defensivspezialisten, der Juventus über 15 Millionen Euro wert war und nun zu Europas besten Verteidigern zählt. Die Liste der Spieler, die unter Ventura den Durchbruch feierten, ist lang. Auch Namen wie Andrea Ranocchia, Alessio Cerci, Kamil Glik oder Bruno Peres befinden sich darauf.
Diese Stärke muss Ventura nach Ende der EM auf die Squadra Azzurra anwenden, denn die Mannschaft befindet sich im Umbruch. Die Goldene Generation, die 2006 den Weltpokal in Berlin in die Höhe reckte, ist Geschichte. Auch Antonio Conte sprach von einem "Generationsproblem", der italienische Fußball bringe einfach kaum noch neue Talente hervor. Schuld daran sind aber vor allem die zunehmende Schwäche der heimischen Liga und der hohe Ausländeranteil von 63 Prozent. Nach der EM wird Ventura den Kader also verjüngen und eine neue Ära in Gang setzen müssen.
"Der Ball muss sich drehen"
Kurioserweise beerbt Ventura Antonio Conte nicht zum ersten Mal. Bereits 2009 übernahm er den FC Bari, nachdem Conte dem Lockruf von Juventus gefolgt war. Der Verein aus Apulien war frischer Aufsteiger, der die Serie A TIM das Jahrzehnt zuvor nur aus dem Fernsehen kannte. Doch Bari und Ventura überraschten die gesamte Liga mit aggressivem Fußball, die junge Mannschaft sprühte vor Spielfreude.
Seine Spielidee und Aufstellung verteidigte der Trainer mit viel Selbstbewusstsein: "Ich habe ein 4-2-4 spielen lassen, auch wenn mir niemand glauben wollte und dann haben sie es einfach 4-4-2 genannt, um sich sicherer zu fühlen. Aber das ist mir egal. Am Ende zählt nur eine Sache: Der Ball muss sich drehen." Bari spielte mit 50 Punkten die beste Saison seiner Geschichte und landete auf dem zehnten Platz.
"Der Ball muss sich drehen." Ein unscheinbarer Satz, eine allgemeingültige Aussage, die nicht einmal einer Erwähnung wert scheint. Doch dahinter steckt nicht weniger als der Leitgedanke des Fußballs von Giampiero Ventura. Im Vaterland des Catenaccio, des starren Spiels, dessen oberstes Credo es stets war, zuallererst kein Gegentor zu kassieren, überraschte der seit 1980 tätige Trainer früh mit seiner Herangehensweise. Das Drehen des Balles bedeutet für ihn die ständige Bewegung des Spiels und der Mannschaft, in eine Richtung: nach vorne.
Im Fußball geht es ihm also vielmehr um die Idee, als um die Aufstellung. Natürlich lehrt er seiner Mannschaft auch bestimmte Laufwege, auf dem Platz sollen die Spieler jedoch nicht wie Roboter ständig dieselben Spielzüge wiederholen. Er vermittelt ihnen eine Idee, gibt ihnen Prinzipien mit und setzt so auf dem Platz einen Mechanismus in Gang, der bei Erfolg spektakulären Fußball verspricht.
Der Trainer der Provinz
Womit man zu einer weiteren Stärke Venturas kommt. Der Italiener impft seinen Teams den Spaß am Fußball ein. Er ist ein nahbarer Mensch, der mit jungen Spielern umgehen und sie motivieren kann. In diese Einstellung reiht sich auch sein berühmtester Spruch ein: "Ich trainiere für die Geilheit. Ich trainiere, damit mir meine Spieler sagen, dass es ihnen Spaß macht, meinen Fußball zu spielen." So müssen seine Mannschaften leidenschaftlich und aggressiv sein, sie müssen rennen, ackern und vor allem Spaß daran haben. Mit diesen Eigenschaften liefen seine Teams vor allem gegen stärkere Teams zu Höchstleistungen auf.
Mit seiner Idee und Einstellung holte Ventura stets das Beste aus seinen Mannschaften heraus. In einigen Städten Italiens wie Venedig, Lecce oder Cagliari wird der Trainer verehrt, weil man unter seiner Ägide oft den besten Fußball der Klubgeschichte sah. Doch liest man die Namen dieser Städte, wird einem unweigerlich der größte Kritikpunkt an Ventura bewusst: Ihm wurde nie ein großer Klub anvertraut.
In seinem Lebenslauf stehen immerhin 19 verschiedene Vereine, doch keiner befindet sich auf der Stufe von Juventus Turin oder Inter Mailand. Den SSC Neapel trainierte Ventura zwar, allerdings nur in der zweiten Liga. Somit trägt der Fußballehrer in Italien stets das Label "Trainer der Provinz" mit sich herum.
Antritt unter Störfeuer
Ventura wird seinen neuen Job definitiv mit ordentlichem Gegenwind antreten. Der Mangel an internationaler Erfahrung wird ihm wohl ständig vorgehalten werden. Außerdem war Ventura nach Roberto Donadoni höchstens die zweite Wahl für den Posten.
Sogar Premierminister Matteo Renzi soll sich laut IlFatto Quotidiano eingeschaltet und dem italienischen Verband nahegelegt haben, lieber Vincenzo Montella als Nationaltrainer zu installieren.
Venturas Philosophie wird in Italien zwar respektiert, doch die Frage bleibt, ob es ihm gelingen kann, sie einer Mannschaft zu vermitteln, die er nur alle paar Monate in wechselnden Konstellationen zu Gesicht bekommen wird. Die Entscheidung für Ventura ist also mutig und riskant zugleich.
Giampiero Ventura im Steckbrief