"Und so einer will Christ sein"

Jochen Tittmar
03. August 201710:55
Heiko Herrlich ist seit Juli neuer Trainer von Bayer Leverkusengetty
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Heiko Herrlich ist seit Anfang Juli als Nachfolger von Tayfun Korkut Trainer bei Bayer Leverkusen. Herrlich spricht im Interview über den zügigen Abgang von Jahn Regensburg, eine Antwort von Arrigo Sacchi, Mist im Mund und Glauben im Profifußball.

SPOX: Herr Herrlich, Sie sind seit ein paar Wochen erstmals zu Beginn einer Saison als Trainer eines Bundesligisten angestellt. Haben Sie darauf mit Ihrer Familie und Freunden angestoßen?

Heiko Herrlich: Nicht wirklich. Im Moment der Entscheidung hat das ja Konsequenzen für dein komplettes Leben, beruflich wie privat. Ich habe mich gefreut, aber ein Vertragsabschluss ist quasi kein Ziel, sondern der Anfang eines Weges und einer neuen Herausforderung. Für mich bestand daher kein Grund zum Jubeln.

SPOX: Nach dem geschafften Aufstieg in die 2. Liga mit Jahn Regensburg weilten Sie mit Ihrer Familie im Urlaub in Österreich, als Rudi Völler anrief und die Gespräche mit Bayer Leverkusen starteten. Was haben Sie in dem Moment gedacht, als das Telefon läutete?

Herrlich: Ich wusste schon einen Tag zuvor, dass man sich mit mir beschäftigt. Ich habe Signale von Leuten bekommen, bei denen sich Rudi Völler über mich erkundigt hat. Mir war also klar, dass etwas passieren könnte. Im ersten Moment hat mich das natürlich sehr gefreut, andererseits auch nicht komplett überrascht. Die erfolgreiche Arbeit in Regensburg ist registriert worden. Ich dachte aber nicht: Hoffentlich kriege ich den Job jetzt! Es herrschte eher eine Gelassenheit in mir und ich habe abgewartet, was passiert.

SPOX: Keine 72 Stunden später wurden Sie bereits der Öffentlichkeit vorgestellt. Wie haben Sie in dieser kurzen Zeitspanne sicherstellen können, das Für und Wider richtig abgewogen zu haben?

Herrlich: Man spielt als Trainer viele Dinge im Vorfeld durch, nicht nur vor einem Spiel. Ich hatte in Regensburg nach dem Aufstieg keinen gültigen Vertrag mehr. Dass man sich nicht unmittelbar danach bei mir gemeldet und alles daran gesetzt hat, schnell mit mir zu verlängern, kam mir merkwürdig vor. Daher dachte ich in dieser Situation auch mal an die Möglichkeit, was im Falle eines Falles wäre, sollte sich ein anderer Verein für mich interessieren.

SPOX-Redakteur Jochen Tittmar traf Heiko Herrlich im Leverkusener Trainingslager in Zell am Seespox

SPOX: Und was war, als die Situation dann eintrat und es ernst wurde?

Herrlich: Es ist nicht einfach, eine solche Entscheidung endgültig zu treffen. Für einen selbst ist das kein Problem, einen Umzug kann man locker bewältigen. Doch wer denkt da an die Familie und Kinder eines Trainers oder Spielers? Es gibt viele Beteiligte bei einem solchen Gedankenprozess. Es fällt mir nicht leicht, meine Kinder aus ihrem gewohnten Umfeld heraus zu reißen und zu sehen, wie sie sich von Freundschaften lösen müssen. Wie sollen die das verstehen? Man sollte stets abwägen zwischen menschlichen Werten und materiellen Dingen.

SPOX: Man könnte theoretisch auch erst einmal alleine leben und nach einer gewissen Phase der Eingewöhnung überlegen, die Familie dazu zu holen.

Herrlich: Natürlich. Aber auch wenn das erste Jahr super laufen sollte, heißt das nicht, dass es so weiter geht. Schauen Sie sich Claudio Ranieri bei Leicester City an, der nur ein paar Monate nach dem größten Vereinserfolg aufgrund der gestiegenen Erwartungen gehen musste. Das ist verrückt. Wenn eine solche Situation wirklich eintritt, hat man sie zwar bereits voraus gedacht. Es bleibt aber sehr schwierig, in dieser Hinsicht eine richtige Entscheidung zu treffen, weil sie eben von zu vielen Variablen abhängig ist.

SPOX: Sie arbeiten schon seit 2005 als Trainer. Ist es denn erst mit der Zeit Ihr Anspruch geworden, so weit oben wie möglich trainieren zu wollen oder war dieser Gedanke von Beginn an da?

Herrlich: Weder noch. Ich habe es als großes Privileg erachtet, nach meiner aktiven Karriere überhaupt weiterhin im Fußball arbeiten zu dürfen. Daher ist es für mich zweitrangig, ob das eine U17 ist, ein Regionalligist oder ein gestandener Bundesligaklub. Die Leidenschaft, mit Spielern zusammen zu arbeiten, sie besser zu machen und ihnen auch mal in den Hintern treten zu müssen, ist etwas Schönes und eine ständige Herausforderung. Ich verrate Ihnen mal was ...

SPOX: Gerne.

Herrlich: ... mein erster Titel als Trainer mit der U19 von Borussia Dortmund, als wir 2007 gegen Schalke 04 Westfalenpokalsieger im Elfmeterschießen wurden, löste in mir die gleichen Glücksgefühle aus wie der Aufstieg mit Regensburg. In den Gesichtern und Augen der Spieler sah ich diese unbändige Freude, aber auch ein Verzeihen dafür, was ich ihnen als Coach in Anführungszeichen alles angetan habe während der Saison - weil sie gemerkt haben, dass es sich gelohnt hat und ich sie nicht angelogen habe. Das ist für mich das schönste Gefühl, das man als Trainer haben kann.

SPOX: Ihre persönliche Geschichte ist eine besondere, da Sie Anfang des Jahrtausends von einem Hirntumor genesen sind und nur sechs Monate nach der Diagnose Ihr Comeback als Fußballer feierten. Seitdem denkt man bei Ihnen zumeist an dieses Thema, auch an Ihren offenen Umgang mit Ihrem Glauben. Kam Ihnen der Trainer Herrlich da mal zu kurz?

Herrlich: Nein. Arrigo Sacchi hat einmal auf die Frage geantwortet, wie er ohne erfolgreiche Spielerkarriere ein guter Trainer werden konnte: Muss ich ein gutes Pferd gewesen sein, um ein guter Jockey zu werden? Da hat er Recht, denn meine athletischen Fähigkeiten sind jetzt nicht mehr gefragt. Ich kann für die Jungs keinen Zweikampf mehr gewinnen oder ein Tor schießen. Mittlerweile sind andere Qualitäten gefragt, auch wenn es hinsichtlich des Trainerberufs sicherlich nicht schadet, einmal ein gutes Pferd gewesen zu sein.

SPOX: Um im Bild zu bleiben: Welche Eigenschaften aus Ihrer Zeit als Pferd helfen Ihnen aktuell als Jockey?

Herrlich: Das Wissen um die Abläufe. Meine größte Stärke ist das Beobachten, das hat mich schon als Spieler ausgezeichnet. Es gibt Dutzende Dinge, die ich sehe, fühle und beinahe schon rieche, ob in der Kabine oder außerhalb, durch die ich einfach weiß, wie sich die Spieler in der jeweiligen Situation oder nach einer bestimmten Trainingseinheit fühlen, was sie denken, wie sie über dich reden. Ich weiß dank meiner Zeit als Spieler, nun als Trainer damit richtig umzugehen und die entsprechende Überzeugungsarbeit zu leisten.

SPOX: Nach Ihrer Genesung sind Sie dankbarer und demütiger dem Leben gegenüber geworden. Diese Haltung kann man keinem Menschen zu 100 Prozent verständlich machen, wenn man eine solche Situation nicht schon selbst erlebt hat. Inwiefern ist es bedauerlich, dieses Gefühl nicht anderen Menschen in vollem Umfang einimpfen zu können, ohne dass sie dafür existenzbedrohende Situationen durchleben müssten?

Herrlich: Ich weiß genau, was Sie meinen: Man muss Mist im Mund gehabt haben, um zu wissen, wie er schmeckt. Das stimmt auch eindeutig. Andererseits haben viele Menschen und auch Profifußballer ihren persönlichen Rucksack zu tragen. Da haben auch viele unterschiedliche Schicksale erleiden müssen und daher eine ähnliche Demut in sich. Der Großteil ist meiner Erfahrung nach schon ziemlich geerdet. Mir persönlich kommt es darauf an, diese Dankbarkeit und dieses Gefühl vorzuleben.

SPOX: Es bleibt die Frage, ob das wirklich ankommt bei denjenigen, für die eine solche Erfahrung fremd ist.

Herrlich: In Regensburg hatte ich es leichter, das zu transportieren. Ich galt zwar als erfolgreicher Ex-Profi, saß dort aber mit meinem Trainerteam zu fünft in einer Kabine von der Größe einer Garage, Schimmel an der Wand, daneben eine permanent kaputte Dusche mit kaltem Wasser, draußen ein ab Herbst nicht mehr zu benutzender, unebener Trainingsplatz. Da hätte man durchaus meckern können, aber so würde man sich nur runterziehen.

SPOX: Wie sind Sie also vorgegangen?

Herrlich: Ich habe meinen Leuten gesagt: Wir können hier jetzt noch Glasscherben auf den Platz schmeißen und dann sagen: Auch das macht uns nichts aus. Weil wir einfach so motiviert sind, dass wir trotzdem das erste Saisonspiel gewinnen und es uns auch nicht juckt, sollte es nächste Woche noch zehn Grad kälter werden.

SPOX: Die Rahmenbedingungen in Leverkusen müssten Sie demnach begeistern, oder?

Herrlich: Das ist das totale Gegenprogramm. Die meisten kennen es gar nicht anders, als dass ein eigener Koch mitreist und einem die Tasche abgenommen wird. Was ich lehren will ist: Es kann trotzdem denselben Spaß machen, egal ob in Regensburg oder in Leverkusen. Das Ursprüngliche, das die Leidenschaft am Fußball ausmacht, ist nicht der tolle Wellnessbereich. Es ist das Gefühl, sich nach einer Partie in die Augen zu schauen und gemeinsam alles gegeben zu haben. Das ist etwas ganz Besonderes, doch dafür hat man eben auch etwas zu leisten.

SPOX: Aufgrund Ihrer Invalidität gelten Sie für den Rest Ihres Lebens zumindest für die Versicherung und Mediziner offiziell als chronisch krank. Wie sehr beschäftigt Sie das Thema noch?

Herrlich: Alle drei, vier Jahre kommt irgendeiner auf die Idee, ich könnte doch mal wieder ein MRT von meinem Kopf machen lassen. Man gilt nach fünf gesunden Jahren zwar als geheilt, aber ich darf zum Beispiel kein Blut mehr spenden. Ansonsten ist das Thema durch.

SPOX: Halten Sie eigentlich noch Kontakt zu Jorginho, der Sie Anfang der 1990er Jahre in Leverkusen zum ersten Mal in von ihm organisierte Bibelkreise einlud?

Herrlich: Ja. Wenn er in Deutschland ist, meldet er sich immer. Ansonsten schreiben wir uns gelegentlich bei WhatsApp.

SPOX: Können Sie sich noch an Ihre Gedanken erinnern, als Sie Ihren allerersten Bibelkreis verließen?

Herrlich: Ich war zuvor schon ein gläubiger Mensch. Ich war Ministrant und habe als Kind zu Gott gebetet, damit meine Bauch- oder Kopfschmerzen verschwinden. Beim Bibelkreis waren mehrere Leute dabei, die wie Jorginho eine innere Zufriedenheit und ein Gottvertrauen ausstrahlten. Die haben sich allen Mitmenschen gegenüber gleich verhalten. Das hat mich damals schwer beeindruckt, denn ich hatte diese Eigenschaften nicht.

SPOX: Spüren Sie aktuell dieses Gottvertrauen?

Herrlich: Ja, zurzeit spüre ich es sehr und glaube, dass alles seine Richtigkeit hat. Manchmal ist das natürlich weniger ausgeprägt, dann hat man auch Zweifel - gerade wenn einem mitgeteilt wird, dass man als Leistungssportler einen Tumor im Hirn hat. Damals habe ich mir trotzdem gesagt: Lieber Gott, wenn das dein Weg für mich ist, dann ist es halt so - auch wenn er mir nicht gerade gefällt. In manchen Situationen versteht man auch erst im Nachhinein, warum das richtig war oder ist.

SPOX: Sie arbeiten seit zwölf Jahren als Trainer und damit zusammen mit einer Spielergeneration, die sich bisweilen als eigene Marke inszeniert oder ein auffälliges Äußeres zur Schau trägt. Wie gläubig schätzen Sie die heutige Spielergeneration ein?

Herrlich: Sehr, mehr als meine Generation. Sie suchen nach Werten. In Regensburg hatten wir vier, fünf Christen, die regelmäßig in die Kirche gehen oder Bibelkreise besuchen. Bei anderen hat man gemerkt, dass sie sich für den Glauben interessieren und spüren, dass es etwas Höheres und Wichtigeres als einen selbst gibt. Ab und zu habe ich dann auch vor der Mannschaft aus der Bibel vorgelesen. Auch hier in Leverkusen gibt es Spieler, die Bibelkreise besuchen und ihren Glauben leben.

SPOX: Gibt es etwas, das Sie problematisch in der Beurteilung von Christen finden, die ihren Glauben offen leben?

Herrlich: Nein, nur wird man an mancher Stelle belächelt. Wir sind ja aber auch nicht fehlerfrei. Ich bete zwar jeden Tag dafür, dass ich mich verbessere und bitte um Vergebung für alles, was ich gesagt oder getan habe und mich von Gott trennt. Ich weiß aber auch, dass der Schiedsrichter, den ich aufgrund einer Entscheidung im Spiel anschreie, nicht mit Absicht falsch entschieden hat. Nichtgläubige stecken einen dann oftmals schnell in eine Schublade und sagen: Und so einer will Christ sein.

SPOX: Sie sind als Trainer dafür verantwortlich, aber auch darauf angewiesen, dass in der Zusammenarbeit alle Rädchen ineinander greifen und Zufriedenheit herrscht. Wenn das nicht funktioniert, ist meist der Trainer derjenige, der gehen muss. Beschäftigt Sie so etwas oder wäre selbst ein vorzeitiges Aus in Leverkusen unproblematisch?

Herrlich: Diese Analogie akzeptiere ich so, aber eine Freistellung wäre nie unproblematisch für mich. Ich identifiziere mich mit dem Verein und möchte das Vertrauen in mich zurückzahlen. Sollte es eines Tages zu einer solchen Entscheidung kommen, weiß ich aber auch, dass ein Verein immer über einem Trainer stehen wird - und das ist auch absolut richtig.