Huhs, Fischerhüte und die Folgen

Nino Duit
31. März 201715:37
Wales erreichte bei der EM in Frankreich das Halbfinale, Island das Viertelfinalespox
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Island und Wales waren die Überraschungen der Europameisterschaft in Frankreich. Die Mannschaften begeisterten mit erfolgreichem und mitreißendem Fußball, die Fans mit außergewöhnlichen Jubelschreien und Kopfbedeckungen. Auswirkungen hatte das Turnier sowohl auf die nationalen Tourismus- und Kino-Branchen, als auch auf das Selbstverständnis von Fußballern und Fans. Zwei kleine Nationen durchleben spannende Monate.

Ende Dezember 2016 wurde vor 662 Zuschauern im walisischen Stadion The Rock ein Weltrekord aufgestellt. The News Saints aus dem Dorf Llansantffraid-ym-Mechain gewannen bei den Cefn Druids mit 2:0 und somit das 27. Pflichtspiel hintereinander - mehr Dreier in Folge hatte zuvor noch kein Erstligist gefeiert. Weltweit. Mittlerweile beträgt der Vorsprung von TNS 23 Punkte, der Titel ist ihnen nicht mehr zu nehmen.

Den Titel sicher hat auch ein paar hundert Meilen weiter nördlich FH Hafnarfjördur, denn in Island endete die Saison bereits im Oktober. Hafnarfjördur aus einem Reykjaviker Vorort ließ dem ersten Verfolger UMF Stjarnan, dessen Stadion bei entspanntem Schlender-Gang knapp 25 Minuten Fußweg von dem des Rivalen entfernt liegt, keine Chance. Den Europa-League-Qualifikationsplatz drei sicherte sich KR Reykjavik, knapp vor Fjölnir Reykjavik und Valur Reykjavik. Bitter endete die Saison hingegen für die Absteiger Fylkir Reykjavik und Throttur Reykjavik. Reykjaviker Stadt-Meisterschaften unter nationalem Deckmantel.

975 Menschen besuchten die Spiele der Urvalsdeild in der zurückliegenden Saison im Schnitt. Wenn der Trainer der isländischen Nationalmannschaft Heimir Hallgrimsson also sagt, "ich finde, wir sollten ein Ausverkauft-Schild am Flughafen anbringen", hat das nichts mit dem heimischen Ligabetrieb zu tun - der Zuschauerschnitt ging im Vergleich zur zurückliegenden Saison gar um 132 Personen zurück. Fußball-Provinz pur.

Tatsächlich hat Hallgrimssons Wunsch nach einem "Ausverkauft-Schild" mit den Auswirkungen der sagenhaften EM der isländischen Nationalmannschaft in Frankreich zu tun. Trotz Tristesse in den heimischen Fußballligen durchlebt Island gerade genau wie das zweite EM-Sensationsteam Wales spannende Monate - die Monate nach dem größten Erfolg der nationalen Fußball-Geschichte. Sie sind geprägt von gesellschaftlichen und fußballerischen Auswirkungen.

Vulkanische Ausbrüche und Film-Erfolge

Mit Huh-Schreien eroberten die bärtigen isländischen Fans im Sommer Frankreich und mit schnörkellosem Fußball schalteten die bärtigen isländischen Fußballer unter anderem England aus. Geführt hat das neben dem Viertelfinal-Einzug auch zu einem Ansturm auf die Tourismus-Website visiticeland.com - die Zugriffe verdoppelten sich an den Tagen nach dem Achtelfinal-Sieg gegen England. "Eine bessere Werbung für Island hätte man nicht kaufen können", sagte Nationaltrainer Hallgrimsson.

Emotionale Ausbrüche riefen eine weltweite Sehnsucht nach vulkanischen hervor, wie es sie in Island so regelmäßig gibt. Um knapp 30 Prozent wuchs der isländische Tourismus im vergangenen Jahr. Der Fußball diente als perfekte Werbung, aber auch als eine, die über das Ziel hinausschoss. Es kommen zu viele Touristen, sagt Hallgrimsson: "Wir zerstören die Natur indem wir sie mit Menschen überfrachten."

Islands EM-Erfolge überfüllen also Nationalparks und Wanderpfade, Wales' hingegen Kinos. Mit grün-gelb-roten Fischerhüten eroberten die dauersingenden walisischen Fans im Sommer Frankreich und die Spieler befolgten das Lieblingslied der Anhänger fast bis zum Ende, sie scheiterten erst im Halbfinale an Portugal: "Don't take me home, please don't take me home! I just don't wanna go to work, I wanna stay here and drink all the beer! Please don't, please don't take me home!"

Und nun wurde die ganze Geschichte eben verfilmt. "Don't take me Home", lautet der passende Titel des Streifens, der Fans Monate nach dem Triumphzug durch Frankreich aus ihren Homes lockt und Richtung Kinos pilgern lässt. Tagelang waren die Vorstellungen ausverkauft und das erstaunlicher Weise nicht nur in Cardiff, Swansea und Llansantffraid-ym-Mechain, sondern auch in England.

Melange aus Nostalgie und Neugierde

Es ist ein spezieller Gefühlszustand, dem die isländische und walisische Bevölkerung gerade ausgesetzt ist. Eine Melange aus Nostalgie aber auch Neugierde ob der Zukunft, denn die Zeit ist auch im Fußball unerbittlich: Sie schreitet voran. Trotz der alles überstrahlenden Erinnerungen kämpfen auch Island und Wales gerade um die Qualifikation für die WM in Russland. Aktuell belegen beide Nationen den dritten Gruppenplatz: Wales hinter Irland und Serbien, Island hinter Kroatien und der Ukraine.

"Die Fans sind sehr optimistisch und erwarten den Playoff-Platz zwei von der Mannschaft", sagt Vidir Sigurdsson von der bedeutendensten isländischen Zeitung Morgunbladid gegenüber SPOX und erzählt von der gestiegenen Erwartungshaltung im Land: "Es wird mehr verlangt als früher und das ist letztlich auch normal." Die zurückliegenden Erfolge haben Hunger auf weitere Erfolge ausgelöst.

Aber nicht nur in Reykjavik herrscht weiterhin fußballerischer Futterneid, sondern auch in Cardiff. "Die ganze Nation hat von den Erfolgen gekostet und ist auf den Geschmack gekommen", sagt Chris Wathan, einer der führenden Fußball-Journalisten Wales', im Gespräch mit SPOX, "der Druck auf das Team ist dadurch gestiegen." Jahrzehntelang war Wales' Fußball-Nationalteam im eigenen Land berüchtigt für sein stets "ruhmreiches Scheitern", erzählt Wathan.

Etliche Qualifikationskampagnen seit der WM 1958 (dem einzigen Turnier, an dem Wales bis zur EM in Frankreich teilnahm) endeten knapp - und aus walisischer Sicht meist tragisch. "Es gab immer irgendwelche Ausreden, bis die aktuelle Mannschaft kam und all das abgeschüttelt hat", sagt Wathan, "sie hat eine spezielle Mentalität."

Walisische Nachwuchshoffnungen

Gelebt wird diese spezielle Mentalität auch weiterhin, denn das erfolgreiche EM-Team ist zusammen geblieben, kein Schlüsselspieler zurückgetreten. Angeführt wird die Mannschaft weiterhin von Kapitän Ashley Williams (32) sowie den beiden Stars Aaron Ramsey (26) und Gareth Bale (27). "Die Mannschaft ist zwar bereits erfahren aber trotzdem noch sehr jung", sagt Wathan.

Für das anstehende Qualifikationsspiel gegen Irland hat Trainer Chris Coleman neben dem EM-Stamm zwei Nachwuchshoffnungen nominiert: Die Offensivspieler Harry Wilson und Ben Woodburn, beide vom FC Liverpool. Speziell die Einberufung des erst 17-jährigen Woodburn, dessen "technische Fähigkeiten" Coleman explizit lobte, sorgte laut Wathan für Begeisterung bei den Fans, hätte sich der gebürtige Engländer doch auch für die Three Lions entscheiden können.

Woodburn wird stattdessen Nationalspieler einer Fußball-Nation, die mehr respektiert wird als je zuvor. "Seit der erfolgreichen EM sind Wales' Gegner defensiver eingestellt", sagt Wathan, das Team müsse deshalb "Glauben und Geduld" entwickeln. Eigenschaften, die von den Fans nach drei Remis hintereinander nur teilweise gelebt werden. "Die Hardcore-Fans, die das Team schon seit Jahren unterstützen und all die Enttäuschungen ertragen mussten, können die aktuelle Situation richtig einschätzen", sagt Wathan, "bei den Anhängern, die erst seit der EM dazu gestoßen sind und die nur den Erfolg kennen, herrscht dagegen etwas Frustration."

Vergrößert hat sich jedenfalls das allgemeine Interesse am Nationalteam. Die Zahl der Fans, die zu den Auswärtsspielen reisen, steigt stetig und die Spiele im heimischen Cardiff City Stadium sind reihenweise ausverkauft.

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Isländische Ruhepol-Verabschiedungen

Im Reykjaviker Nationalstadion Laugardalsvöllur, das mit 15.000 Plätzen ein knappes Zwanzigstel der Bevölkerung fasst, herrschte bei den Heimspielen seit der EM laut Journalist Sigurdsson eine "großartige Atmosphäre". Die Partie gegen den aktuellen Tabellenführer Kroatien im Juni wird "Monate vorher ausverkauft sein", sagt Sigurdsson.

Wales erreichte bei der EM in Frankreich das Halbfinale, Island das ViertelfinalespoxAuflaufen werden dann wohl seine Namensvetter und EM-Helden Gylfi (Kapitän/Mittelfeldspieler) und Ragnar (Innenverteidiger). Ähnlich wie die walisische Nationalmannschaft blieb auch die isländische nach der erfolgreichen EM zusammen. Verlassen haben das Team lediglich zwei erfahrene Ruhepole: Stürmer-Routinier Eidur Gudjohnsen und Lars Lagerbäck, einer der beiden gleichberechtigten Trainer.

Seit der EM hat also sein Ex-Kollege Heimir Hallgrimsson das alleinige Sagen. Während einige der EM-Helden zuletzt mit Verletzungen zu kämpfen hatten, führte der gelernte Zahnarzt Hallgrimsson im Team-Verbund keinerlei Operationen durch, nicht einmal die eine oder andere Krone hat er geschliffen. "Hallgrimsson lässt mit der identischen taktischen Ausrichtung wie bei der EM spielen", sagt Journalist Sigurdsson, "an der Philosophie hat sich nichts geändert."

Wohl aber am Selbstverständnis der Mannschaft. "Das Ziel des Teams ist es, die Gruppe zu gewinnen", weiß Journalist Sigurdsson und Tormann Hannes Halldorsson sagt: "Die Ansprüche im Team sind gestiegen. Wir sind keine Underdogs mehr und werden von außen auch anders wahrgenommen."

Wie im Sommer damals

Mit ihren EM-Auftritten haben sich Wales und Island europaweiten Respekt verschafft - und müssen deshalb auch lernen, mit Schikanen umzugehen, die ihnen deshalb eben gestellt werden. Mit defensiv orientierten Gegnern etwa oder auch Musizier-Verboten.

"Sie versuchen alles, um uns Fans so leise wie möglich zu halten und unsere Stimmung zu zerstören", klagte der Trompetenspieler der walisischen Supporters Band The Barry Horns entrüstet gegenüber lokalen Medien, nachdem der Band vor dem anstehenden Auswärtsspiel in Dublin von den Gastgebern verboten wurde, Instrumente ins Stadion zu bringen: "Wir gehen aber trotzdem hin und genießen die Zeit." Genau wie im Sommer damals, damals in Frankreich.

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