In einem hochspannenden EM-Achtelfinale setzte sich Italien mit 2:1 nach Verlängerung gegen tapfere Österreicher durch. Obwohl die Squadra Azzurra zwischenzeitlich arge Probleme hatte, bleibt sie besonders aufgrund von zwei Faktoren einer der großen Turnier-Favoriten. Österreichs Trainer Franco Foda rehabilitiert sich endgültig, ist nun aber in der Bringschuld. Der Krimi in Wembley zeigte außerdem eine wahre und eine möglicherweise falsche Prognose von Joachim Löw. Fünf Thesen zum Spiel.
Kurz nach Abpfiff entluden sich bei Stuttgarts Stürmer Sasa Kalajdzic Frust und Stolz zugleich. Der Frust darüber, so nah dran an der Sensation gewesen zu sein und trotzdem jetzt die Koffer packen zu müssen. Und der Stolz darauf, eben so nah dran gewesen zu sein.
"Es war eines der grausamsten Fußballspiele meiner Karriere und von Fußball-Österreich", stellte Kalajdzic fest. "Bitter und unverdient", sei er gewesen, dieser schmerzhafte K.o. in der Verlängerung gegen den viermaligen Weltmeister, weil das ÖFB-Team aus seiner Sicht "mindestens ebenbürtig oder besser" gewesen sei. Kapitän David Alaba sagte nicht zu Unrecht: "Österreich kann stolz auf uns sein."
Dass es am Ende im überraschend stimmungsarmen Wembley nicht zum ganz großen Wurf reichte, lag besonders an der Bank der Squadra Azzurra, denn den Sieg musste Trainer Roberto Mancini erst noch einwechseln. Dennoch wird man in Österreich Abbitte am so oft und auch berechtigterweise kritisierten Trainer Franco Foda leisten müssen. Bundestrainer Joachim Löw dürfte sich derweil zumindest in einer seiner Thesen bestätigt fühlen.
EM 2021 - Italien vs. Österreich: Löws wahre und falsche These
Roberto Mancini hatte es ja eigentlich geahnt. "Wir wussten, dass wir leiden müssen", erklärte er nach dem Krimi in Wembley gegen aufopferungsvoll kämpfenden Österreicher, die seiner Squadra Azzurra über 120 Minuten nahezu entnervt und an den Rand des Ausscheidens gebracht hatten.
Trotz der mahnenden und warnenden Worte, die sowohl Mancini ("Müssen eine großartige Leistung zeigen") als auch Innenverteidiger Leonardo Bonucci ("Österreich ist eine harte Nuss") vor dem Spiel wählten, traute kaum jemand dem ÖFB-Team zu, diese in der Gruppenphase so überzeugenden Azzurri auch nur ansatzweise gefährden zu können.
Doch das tat die Mannschaft um Trainer Franco Foda eindrucksvoll. Und nicht nur das: Nur zweimal fehlten den in der zweiten Halbzeit phasenweise deutlich besseren Österreichern Zentimeter zur Führung. Bei seinem Kopfball zum vermeintlichen 1:0 stand Marko Arnautovic hauchzart "mit dem Zeh" (Kalajdzic) im Abseits (53.). Ebenso erging es dem Gladbacher Stefan Lainer, als er im Strafraum Matteo Pessinas Ellenbogen elfmeterreif abbekam (75.).
Es fehlte also wahrlich nicht viel zu einer riesigen Sensation bei dieser EM. Dass die Österreicher über weite Strecken der Partie so gut mithielten, bestätigte eine These, für die Bundestrainer Joachim Löw noch vor wenigen Tagen ausgelacht wurde, weil sie so große Ähnlichkeiten mit dem Mantra eines gewissen Rudi Völler anno 2004 hatte.
"Es gibt keine Kleinen mehr", pflegte Völler zu sagen. Und Löw stimmte eben jener Theorie nach dem Zitter-Remis gegen Ungarn zu: "Die sogenannten Kleinen hauen alles rein, sie haben nichts zu verlieren. Man sieht, dass sich andere Mannschaften auch schwer tun." Das bewiesen die Österreicher an diesem Samstagabend in Wembley einmal mehr. "Quod erat demonstrandum", sagt der Lateiner in einem solchen Fall.
Eine andere These Löws könnte sich jedoch als reichlich falsch herausstellen - nämlich jene über den Turnierverlauf von Gewinner-Mannschaften. "Die, die in den ersten ein, zwei Spielen perfekt spielen, haben in den seltensten Fällen ein Turnier gewinnen können", sagte Löw. Eine kleine Spitze an Mannschaften wie die Niederlande, Belgien - und eben auch die Italiener, die nach der Gruppenphase mit überschwänglichem Lob überschüttet wurden.
Gerade weil Italien gegen Österreich "leiden" musste, wie es Mancini ausdrückte, könnte auf die perfekte Vorrunde nun aber auch der perfekte Ausgang des EM-Turniers folgen. "Dieses Spiel war so schwer, wahrscheinlich schwerer als unser Viertelfinale", prognostizierte Mancini. Ausgang offen.
Italien vs. Österreich: Mancini ist der beste Trainer bei der EM
Dass Italien bei dieser EM auch oder gerade nach dem Krimi gegen Österreich zu den großen Favoriten zählt, ist besonders das Verdienst von Mancini selbst. Ohne einen echten Superstar im Kader setzt der 56-Jährige, den sie als Stürmer bei Sampdoria Genua einst "Fantasista" - einen Künstler am Ball - nannten, auf Teamgeist, Lockerheit und Spaß am Spiel.
Das verdeutlichte er bereits in einem offenen Brief an die Tifosi vor dem Start des Turniers: "Vereint unter einem einzigen blauen Himmel spielen wir mit der Verantwortung, eines der stärksten und schönsten Länder der Welt zu repräsentieren. Wir wollen Spaß haben."
Mancini ließ seinen Worten Taten folgen: Damit jeder einzelne Spieler sich als Teil des Ganzen begreift, setzte er bis dato bereits 25 von 26 Spielern ein. Zu sehr nagte an ihm selbst die schmerzhafte Erinnerung an die Heim-WM 1990, als er zwar im Kader stand, jedoch keine Minute zum Einsatz kam. "Bis heute bezeichnet er es als die größte Enttäuschung seiner Karriere, nie an einer WM gespielt zu haben", heißt es in italienischen Medien.
Mancini als Trainer von Italien: Das Gespür für Emotionen und Umstellungen
Diese Enttäuschung ersparte Mancini seinen Spielern und formte so ein starkes Kollektiv. Seine Botschaft ist in der Mannschaft angekommen. So sagte beispielsweise Führungsspieler Marco Verratti: "Wenn wir sagen, dass wir eine Nationalmannschaft für alle sind, dann meinen wir das auch so. Jeder gehört hierher."
Doch Mancini packt seine Mannschaft nicht nur emotional, er hat sie auch bestens zusammengestellt und weiß ihre Vielseitigkeit bestens einzusetzen, um aktiv auf Spielsituationen reagieren zu können. Das stellte er gegen Österreich, als die Azzurri im zweiten Durchgang immer mehr mit dem Rücken zur Wand standen, eindrucksvoll unter Beweis.
Er scheute nicht davor zurück, in Verratti seinen auch gegen Österreich überzeugenden Schlüsselspieler nach gut einer Stunde vom Platz zu nehmen oder ohne den gesetzten Ciro Immobile, der immer für ein Tor gut ist, in die Verlängerung zu gehen. Stattdessen brachte er in Manuel Locatelli und Andrea Belotti noch einmal zwei andere Spielertypen auf den jeweiligen Positionen im Mittelfeld und in der Sturmspitze, dazu noch Federico Chiesa und Matteo Pessina.
Während Locatelli und Belotti jeweils bei den beiden Treffern in der Verlängerung ihre Füße in der Vorbereitung im Spiel hatten, erzielten Chiesa und Pessina die beiden Tore. Ein goldeneres Händchen als das von Mancini hat es bis dato bei der EM noch nicht gegeben.
Italien bei der EM: Nur ein Gegentor und dennoch anfällig
Obwohl Italien mit den 1168 gegentorlosen Minuten in Folge bei Länderspielen gegen Österreich einen neuen Weltrekord aufstellte, ist die Defensive nicht das Prunkstück der Elf von Mancini. Die Squadra Azzurra trägt diesbezüglich eindeutig die Handschrift des Trainers, von dem in England nach wie vor behauptet wird, dass Manchester City unter ihm einen aufregenderen Fußball spielte als unter Pep Guardiola.
Die vielseitige Offensive ist der neue Trumpf Italiens, das Catenaccio war gestern. Große Probleme hatte Italiens Defensive in der Gruppenphase dennoch nicht, auch weil die Schweiz, die Türkei und Wales sie kaum vor komplizierte Aufgaben stellten.
Doch das änderte sich gegen Österreich - gerade in der zweiten Halbzeit und überraschenderweise auch in der Verlängerung, als die Azzurri mit 2:0 in Führung gegangen waren. Louis Schaub und Marcel Sabitzer vor und Michael Gregoritsch nach dem Anschlusstreffer durch Kalajdzic vergaben jeweils Großchancen, die Österreich am Ende trotz des Doppelschlags der Italiener noch ins Elfmeterschießen hätten retten können.
Italien ist in der Defensive gerade in Abwesenheit des verletzten Giorgio Chiellini anfällig - oder zumindest anfälliger als gewohnt.
Italien bei der EM: Verratti rechtfertigt Mancinis Entscheidung
Die ersten zwei Spiele hatte Verratti noch verletzt verpasst. Er hatte zusehen müssen, wie sich Ersatzmann Manuel Locatelli von US Sassuolo mit zwei guten Spielen und zwei Toren gegen die Schweiz zu einer der bisherigen Entdeckungen der Europameisterschaft mauserte. Erst im dritten Spiel konnte Verratti wieder mitwirken - und stand mit einer nominellen B-Elf gegen Wales über 90 Minuten auf dem Platz.
Zwar überzeugte der 28-Jährige, doch es stellte sich die Frage, ob der so verletzungsanfällige Strippenzieher (25 verpasste Pflichtspiele bei PSG in 2020/21) schnell wieder in seinen Rhythmus kommen könne und nicht doch Locatelli starten sollte.
Verratti gab gegen Österreich besonders in der von Italien so dominant geführten ersten Halbzeit die Antwort und entledigte sich aller Zweifel. Vier der zwölf Torschüsse im ersten Durchgang bereitete er vor und leistete sich insgesamt nur drei Fehlpässe. Eine bessere Passquote im Schnitt als Verratti (94,4 Prozent) hat bis dato nur der Belgier Axel Witsel bei dieser EM (97,3 Prozent).
Verratti rechtfertigte Mancinis Entscheidung, auf ihn zu setzen und er gab seinem Trainer das, was man sich von einem Weltklasse-Achter verspricht. Allerdings baute er im zweiten Durchgang gegen physisch immer stärker werdende Österreicher ab. Seine Auswechslung nach einer guten Stunde war daher folgerichtig.
gettyÖsterreich nach der EM: Trainer Franco Foda rehabilitiert sich
Kusshände an die Fans, eine emotionale Ansprache an die Mannschaft vor dem Start der Verlängerung, taktische Courage: So manch ein Anhänger der österreichischen Nationalmannschaft musste in den vergangenen Tagen zweimal hinsehen, um Franco Foda wiederzuerkennen.
Der Trainer des ÖFB-Teams steht seit geraumer Zeit in der Kritik. Nicht, weil die Ergebnisse nicht stimmen würden. Immerhin weist der deutsche Trainer nach 38 Spielen einen starken Punkteschnitt von 1,95 auf. Kritiker unken vielmehr, dass Foda Fußball aus der Defensive heraus denke, seine Spielphilosophie wird oftmals als zu abwartend wahrgenommen.
Der Vorwurf: Foda lege der besten Fußballergeneration Österreichs taktische Fesseln an und vergeude damit ihr unbestritten großes Potenzial. Bestätigungen diesbezüglich kamen sogar schon aus der Mannschaft. So sagte Gladbachs Lainer beispielsweise, er könne "nicht wie im Verein spielen, weil der Trainer damit wohl nicht einverstanden wäre".
Die Beziehung zwischen Foda und der Mannschaft kränkelte vor der EM gewaltig, von Euphorie war auch aufgrund der bis dato schwachen WM-Quali (vier Punkte aus drei Spielen) keine Spur. Und als Foda tatsächlich in den ersten beiden wenig überzeugenden Gruppenspielen gegen Nordmazedonien und die Niederlande aus dem Nichts eine Dreierkette mit David Alaba im Zentrum aufbot, fühlten sich alle Foda-Kritiker bestätigt.
Doch der 55-Jährige zeigte anschließend Mut zu taktischen Veränderungen und gestand sich damit selbst ein, Fehler gemacht zu haben. Gegen die Ukraine wechselte er vom kritisierten 5-3-2-System auf eine 4-3-2-1-Grundordnung mit Alaba auf der linken Seite. Dort wo er sich zwar eher nicht sieht, ihn die meisten Fans und Experten aber als am wertvollsten für die Mannschaft erachten.
Es folgten erst der überzeugende Auftritt gegen die Ukraine im letzten Gruppenspiel und im Achtelfinale dann die starke Leistung im gleichen System mit dem gleichen Mut gegen Mitfavorit Italien. Anschließend hatte Foda nicht zu Unrecht einen kleinen Seitenhieb für die Zweifler übrig: "Alle Kritiker können einmal für zwei, drei Wochen ruhiger sein, dann können sie wieder kritisieren."
Damit die Kritiker dauerhaft schweigen, muss Foda aber nun in der WM-Qualifikation liefern und da weitermachen, wo er mit seiner Mannschaft gegen Italien aufgehört hat. Das Potenzial der Mannschaft ist groß und die Bereitschaft, Fußball neu zu denken, bei Foda ganz offensichtlich doch vorhanden.