Jan Wouters gehört zu den erfolgreichsten niederländischen Fußballspielern aller Zeiten. Anfang der 1990er Jahre spielte Wouters zwei Jahre lang beim FC Bayern München. Im Interview spricht der Niederländer, der heute seinen 60. Geburtstag feiert, über den Wechsel nach München, ein berühmtes Foul an Paul Gascoigne, seinen Ruf als Raubein und die Gründe für die Schwächephase des holländischen Fußballs.
Das Interview erschien erstmals am 19. Juni 2017
SPOX: Herr Wouters, Sie spielten zwischen Herbst 1991 und Winterpause 1993 für den FC Bayern München. Zuvor standen Sie beim FC Utrecht und Ajax Amsterdam unter Vertrag. Wie ist der FCB damals auf Sie aufmerksam geworden?
Jan Wouters: Ich bin 1986 zu Ajax gegangen und habe dort für sechs Jahre unterschrieben. Doch nach vier Spielzeiten ist bei mir der Drang, einmal im Ausland spielen zu wollen, immer größer geworden. 1988 gab es mal etwas mit Neapel, aber über Gerüchte ist das kaum hinausgegangen. Also habe ich mit Ajax verabredet, dass mir keine Steine in den Weg gelegt werden, sollte ein vernünftiges Angebot kommen. Ungefähr ein halbes Jahr später hat mich der damalige Bayern-Trainer Sören Lerby angerufen. Wir kannten uns aus der Eredivisie.
SPOX: Wie ging es weiter?
Wouters: Er meinte, er suche einen Spielertypen wie mich. Einen robusten Mittelfeldspieler, der auch mal dazwischen haut. An einem Samstag rief er an, kurz darauf saß ich in München im Hotel Vier Jahreszeiten mit Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge zusammen bei den Verhandlungen. Und am Mittwoch war ich schon Bayern-Spieler.
SPOX: Gab es damals im Ausland auch andere Optionen für Sie?
Wouters: Fast zur selben Zeit hatte ich auch ein Angebot vom FC Arsenal. Der Verein war damals allerdings noch eine andere Nummer als heute, die Bayern aber nicht. Der Klub übte einen großen Reiz auf mich aus, dazu passte die Bekanntschaft zu Lerby perfekt.
SPOX: Wer waren in München Ihre ersten Ansprechpartner in der Mannschaft?
Wouters: Zu Beginn waren es Alan McInally und Raimond Aumann, später kam noch Markus Schupp hinzu. Zu ihnen hatte ich am meisten Kontakt und sie haben mir anfangs viel geholfen, auch wenn die Sprache natürlich kein großes Problem für mich war und das schon vieles erleichtert hat. Mit Aumann lag ich auf einem Zimmer, daraus ist eine bis heute anhaltende Freundschaft entstanden.
SPOX: Wie sind Sie in München grundsätzlich zu Recht gekommen, es war ja immerhin Ihre erste Auslandstation?
Wouters: Die Bayern waren sehr gut organisiert, man hat sich im Verein wunderbar um neue Spieler und ihre Familien gekümmert. Einmal waren wir mit der Mannschaft unter der Woche im Restaurant Käfer essen. Meine Familie war zeitgleich in München, da meine Frau Geburtstag hatte. Ich habe Uli Hoeneß gefragt, ob ich überhaupt mitkommen müsse. Er meinte, dass Anwesenheitspflicht bestünde, sagte aber: Bring' doch einfach deine ganze Familie mit! Das habe ich dann auch getan und konnte so beides ohne große Sorge verknüpfen. Später habe ich erfahren, dass Uli auch für meine Familie gezahlt hat. Bei solchen Dingen war er immer unheimlich menschlich.
SPOX: Wie groß war damals die individuelle Freiheit als Profifußballer im Vergleich zu dem, was Sie aus Ihrer Heimat gewohnt waren?
Wouters: Es war genauso diszipliniert, aber trotzdem viel lockerer. Ich glaube, im Vergleich dazu brauchen Niederländer eher die kurze Leine. (lacht) Wenn wir mit Ajax vor den Spielen im Hotel schliefen, war jeder spätestens um 23 Uhr im Bett. In München haben wir uns alle unten vor dem Fernseher getroffen und man konnte sogar ein Bier trinken. Auch am Spieltag selbst war nur das gemeinsame Mittagessen angesetzt, Aufstehen und Frühstück konnte jeder individuell regeln. Ich konnte es erst kaum glauben, das kam für mich sehr überraschend. In Holland wäre niemand auf eine solche Idee gekommen.
SPOX: Unter Lerby beendete der Rekordmeister die Saison 1991/1992 nur auf dem zehnten Platz. So schlecht platziert waren die Bayern seitdem nie mehr. Nach Lerby kam Erich Ribbeck und man wurde wieder Meister. Warum funktionierte es nicht unter Lerby?
Wouters: Die Qualität der Spieler war einfach zu schwach. Das Niveau war höher, als manch einer zu leisten imstande war. Hinzu kamen viele junge und unerfahrene Spieler wie Mehmet Scholl, Brian Laudrup, Michael Sternkopf oder Stefan Effenberg. Ihnen und auch dem gesamten Kader hat die Reife gefehlt. Das hat sich in dieser Saison deutlich gezeigt.
SPOX: Sie sind in München auf dem Platz immer mit großem Kampfgeist vorangegangen, aber auch verbal in Erscheinung getreten. Als Präsident Franz Beckenbauer und sein Vize Karl-Heinz Rummenigge bei einem Trainingsspiel mitkicken wollten, sollen Sie gesagt haben: "Ihr alten Säcke habt hier nichts zu suchen!"
Wouters: Dieser Satz ist so nie gefallen. Es war Freitag, der Tag vor dem nächsten Bundesligaspiel. In Holland haben wir dann immer viele taktische Dinge einstudiert, da war wichtige Arbeit angesagt und es ging ordentlich zur Sache. In München aber stand plötzlich Rummenigge auf dem Platz und hat mitgespielt. Das war auch kein alter Sack, sondern ein ziemlich guter Kicker. (lacht) Für mich war das aber komisch, denn ich wollte auch im Training immer unbedingt gewinnen und wusste nicht, wie ich mich gegenüber Rummenigge verhalten solle. Auch Ribbeck hat ab und zu mitgespielt. Für mich war das aber kein Spaß-Kick, sondern purer Ernst.
SPOX: Zu Ribbeck sollen Sie 1992 während einer Spielersitzung gesagt haben: "Trainer, Sie sind der einzige in diesem Raum, der keine Ahnung hat."
Wouters: Das stimmt. Es war eine taktische Besprechung. Ribbeck hat etwas erklärt und ich habe dann meine Meinung dazu geäußert, da ich überzeugt war, dass wir die diskutierte Situation auf eine andere Weise besser lösen könnten. Damit war er natürlich nicht ganz einverstanden und dann habe ich diesen Satz zu ihm gesagt. Das war aber eine einmalige Sache, mit ihm konnte man sonst immer gut reden. Ich weiß auch gar nicht mehr, was die Mitspieler dazu gesagt haben und ob wir dann im Spiel auch tatsächlich meinen Lösungsansatz verfolgt haben. Ich weiß aber, dass ich von Anfang an gespielt habe, also glaube ich, dass wir es auf meine Weise umgesetzt haben. (lacht)
SPOX: Weshalb haben Sie den Verein nach zwei Jahren wieder verlassen und sind zurück nach Holland zu PSV Eindhoven gewechselt?
Wouters: Wir haben eigentlich schon Gespräche über eine Vertragsverlängerung in München geführt. Leider sind jedoch meine Eltern sehr krank geworden. Ich bat daher den Verein, mich wieder in meine Heimat zu verkaufen. Ich kam aus München zurück und eine Woche später ist meiner Mutter verstorben. Mein Vater starb nur fünf Wochen später.
SPOX: Kurz nach Ihrem Abgang übernahm Beckenbauer als Trainer, am Ende der Spielzeit 1993/1994 wurden die Bayern deutscher Meister - und Sie damit auch.
Wouters: Das stimmt, aber leider bin ich Meister ohne Schale. Ich hielt sie nie in den Händen, das fand ich immer sehr schade. Hätte ich gewusst, dass meine Eltern innerhalb von sechs Wochen versterben, wäre ich in München geblieben. Allerdings hatte mich Hoeneß am Saisonende angerufen und zur Meisterfeier eingeladen. Ich sei ja auch ein Teil der Mannschaft gewesen, sagte er. Dass ein solch großer Verein an diese kleinen Dinge denkt, war für mich außergewöhnlich. Leider konnte ich nicht dabei sein, da in Eindhoven noch die Saison lief.
SPOX: Sie sind 1988 Europameister mit der niederländischen Nationalmannschaft geworden und haben dabei für die Superstars Marco van Basten und Ruud Gullit im Mittelfeld abgeräumt. Wie denken Sie an diese Zeit zurück?
Wouters: Mir hat diese Rolle im Hintergrund gefallen. Ich hätte nicht mit van Basten oder Gullit tauschen wollen, sie standen ja permanent im Fokus. Wenn aber auf dem Platz etwas angepackt oder irgendetwas verändert werden musste, waren Ronald Koeman und ich diejenigen, die den Ton angaben. Wir gehörten zu den Vertrauten von Trainer Rinus Michels, das war eine Art Mannschaftsrat. Die Mischung in der Truppe war damals einfach perfekt.
SPOX: Wie groß war daran auch der Verdienst von Michels?
Wouters: Zu meiner Zeit hatte er die Zügel fest in der Hand. Wir haben uns mit ihm über die Taktik ausgetauscht, er hat uns zugehört. 1974 stand er noch im Ruf, extrem streng zu sein. 1988 aber konnte er auch locker sein. Wir hatten gehörigen Respekt vor ihm. Wir wussten alle, dass wir die Grenze nicht übertreten durften, da es sonst bitter für uns geendet wäre. (lacht)
SPOX: Während Ihrer gesamten Karriere hat Sie der Ruf als harter Knochen begleitet. In Anlehnung an den niederländischen Sänger Lee Towers wurden Sie später auch "Lee Wouters" genannt. Wie kam das zustande?
Wouters: Das weiß man in Deutschland nicht: Lee Towers macht beim Singen immer eine Bewegung, die wie ein Ellbogenschlag aussieht. Damit spielte man auf den Zweikampf zwischen Paul Gascoigne und mir an.
SPOX: Der fand 1993 statt. Gascoigne musste anschließend eine Maske tragen. Die Niederlande lag in dieser Partie gegen England 0:2 zurück, kam aber noch zum Ausgleich - und brachte England damit um die Teilnahme an der WM in den USA. War das damals Absicht?
Wouters: Nein, auf keinen Fall. Ich hatte mir nicht gedacht, dass ich ihm im nächsten Duell eine mitgebe. Wir lagen 0:2 zurück, ich war etwas gefrustet. Schon in der Jugend gab es immer mal wieder solche Episoden. Mein Vater hat damals zu mir gesagt: Du bist doch verrückt, so kannst du dich nicht verhalten. Ich wusste selbst, dass das eigentlich nicht in Ordnung war. Und trotzdem ist es wieder passiert.
SPOX: Englische Medien bezeichneten Sie anschließend als "holländischen Rowdy", Sie standen tagelang unter Beschuss.
Wouters: Das war nicht angenehm. Ich stand bei den nächsten Spielen mächtig unter Druck, alle Augen waren auf mich gerichtet. Am meisten Angst hatte ich nach dem Gascoigne-Foul vor der Reaktion meines Vaters. Ich habe ihn gleich am nächsten Tag schon gesehen, bereits im Auto auf dem Weg zu ihm war mir bange. 'Ich schäme mich für dich", hat er gesagt. Andererseits war er aber auch mächtig stolz, dass wir uns für die WM qualifiziert haben. (lacht)
SPOX: Hat Ihnen denn dieser Ruf als Raubein geschmeichelt?
Wouters: Ja. Ich war gerne der harte Hund, das war meine Art zu spielen. Sobald ich auf dem Platz stand, ist etwas mit mir passiert. Ich hatte einen unglaublich großen Siegeswillen. Der war auch größer als mein Talent, ohne ihn wäre ich nie so weit gekommen. Er war allerdings auch dafür verantwortlich, dass ich als Spieler Dinge getan habe, auf die ich nicht besonders stolz bin. Das waren eben emotionale Momente im Spiel, da konnte ich einfach nicht immer vernünftig reagieren.
SPOX: Woher kamen die physische Robustheit, die Härte, der Kampfgeist?
Wouters: Ich kann es mir selbst auch nicht richtig erklären. Ich habe acht Geschwister - und bin der Jüngste. Wie häufiger in größeren Familien ist der Jüngste derjenige, der am meisten verwöhnt wird und der vieles nachgetragen bekommt. So war es auch bei mir. Wir hatten nicht viel Geld und wenn etwas aufgeteilt werden musste, bin ich immer sehr gut weggekommen. (lacht) Ich kann nur sagen, dass meine Mutter sehr leidenschaftlich am Seitenrand war, wenn sie ein Spiel von mir gesehen hat.
SPOX: 1990 sind Sie als Typ Wadenbeißer Hollands Fußballer des Jahres geworden. Wie zum Teufel haben Sie das bei all den technisch begnadeten Konkurrenten geschafft?
Wouters: Ich war nicht nur der Kämpfer, sondern konnte auch ganz passabel Fußball spielen. In diesem Jahr sind wir mit Ajax Meister geworden, es lief sehr gut für mich. Ich gebe zu, dass mich die Ehrung überrascht hat. Es gab ja ziemlich hochkarätige Konkurrenz, allein schon aus der niederländischen Nationalelf. Normalerweise gewinnen die Spieler mit den meisten Toren. Aber ich habe selbst Romario, der zu dieser Zeit für Eindhoven spielte, abgehängt.
SPOX: Worauf sind Sie stolzer: Den Europameistertitel, den Gewinn des UEFA-Cups 1992 mit Ajax oder die Ernennung zum Fußballer des Jahres?
Wouters: Auf den Fußballer des Jahres. Die beiden anderen Titel machen mich auch stolz, aber Fußballer des Jahres in meiner Heimat zu werden, das war für mich der Höhepunkt. Auch deshalb, weil ich niemals damit gerechnet habe.
SPOX: In Eindhoven wurden Sie 1996 noch einmal Pokalsieger, im selben Jahr beendeten Sie dann Ihre aktive Karriere - und stiegen direkt in Ihrer Heimatstadt beim FC Utrecht als Co-Trainer ein. In dieser Funktion arbeiten Sie seitdem hauptsächlich, auch wenn Sie zwischenzeitlich immer mal wieder als Interimstrainer übernommen haben. Wird es den Cheftrainer Jan Wouters künftig nicht mehr geben?
Wouters: Nein. Wenn ich für ein paar Wochen übernommen habe, sagte ich meinen Klubs immer: Sucht einen Cheftrainer, ich bleibe es nicht. Den Grundstein für diese Haltung legte ein bisschen mein Einstieg ins Trainergeschäft. 1997 ging ich als Jugendtrainer zu Ajax, ein Jahr später wurde ich dort bereits Cheftrainer. Das war deutlich zu früh, ich hatte noch keinerlei Erfahrung. Mir wurde dabei aber klar, dass mir die Rolle im Hintergrund auch als Trainer besser gefiel. Ich beschäftige mich einfach lieber auf dem Platz mit den Spielern, als all diese unterschiedlichen Verpflichtungen eines Cheftrainers wahrnehmen zu müssen.
SPOX: 2001 sind Sie mit Dick Advocaat zu Glasgow Rangers nach Schottland gegangen und insgesamt fünf Jahre geblieben - Ihre längste Station als Trainer.
Wouters: Advocaat wollte eine Saison bleiben und hat mich gefragt, ob ich ihn nicht begleiten möchte. Mich hatte die Lust gepackt, doch nach einem halben Jahr wurde er bereits wieder entlassen. Dann kam Alex McLeish. Mit ihm hat es auf Anhieb gut geklappt, die Zusammenarbeit war über all die Jahre wirklich hervorragend. Ich glaube, diese Flexibilität zeichnet mich als Co-Trainer auch aus. Hinzu kam die schottische Mentalität, die hat mir sehr gefallen. Das waren zum Großteil Arbeiter mit einem guten Humor. Das machte es für mich leicht.
SPOX: Anschließend waren Sie kurze Zeit Co-Trainer der Elftal, arbeiteten in Eindhoven und wieder bei Utrecht, bis Sie 2015 zu Kasimpasa nach Istanbul gingen und dort Nachwuchskoordinator wurden. Was hat Sie dorthin verschlagen?
Wouters: Shota Arveladze hat bei Ajax unter mir gespielt und war dort Cheftrainer. Er fragte mich, ob ich mir dieses Abenteuer vorstellen könne. Da die Erfahrung in Schottland bereits ungeahnt toll war, habe ich zugesagt. Das Jobprofil hatte mich gereizt, das war mal etwas anderes. Ich wurde Leiter der Jugendabteilung und habe vor allem die einzelnen Trainer aus- und weitergebildet. Ich zeigte ihnen, welche Trainingsinhalte man mit den unterschiedlichen Altersklassen angehen oder in welchen Umfängen trainiert werden kann. Ich habe also etwas Holland in die Türkei gebracht. Das würde man dort heute offensichtlich kritischer sehen. (lacht)
SPOX: Nach einer Saison in der Türkei sind Sie dem Ruf der Heimat gefolgt und haben bei Feyenoord als Co-Trainer unterschrieben. Wieso ging es so schnell wieder zurück nach Holland?
Wouters: Der Verein hat unter Cheftrainer Giovanni van Bronckhorst einen neuen, ambitionierten Weg eingeschlagen. Wir wollten nach 1999 mal wieder Meister werden. Giovanni ist noch ein Trainer mit wenig Erfahrung. Da ich das von mir selbst kannte weiß ich, wie wichtig es ist, ein erfahrenes Trainerteam zusammen zu stellen. Diese Aufgabe klang fast perfekt für mich.
SPOX: Das mit der Meisterschaft hat ja geklappt. Van Bronckhorst gehört zur neuen niederländischen Trainer-Generation um Philipp Cocu, Frank de Boer oder Ronald Koeman. Wie schätzen Sie diese Trainer ein?
Wouters: Die jeweiligen Ausprägungen und Spielphilosophien sind bisweilen unterschiedlich, aber sie alle einen Einflüsse der Generation vor ihnen: Rinus Michels, Johan Cruyff, Louis van Gaal. Ich denke, sie sind auch ein bisschen wissenschaftlicher aufgestellt und als Trainer auf jeden Fall enorm talentiert. Ronald Koeman macht in England zum Beispiel einen fantastischen Job.
SPOX: Obwohl neue Trainer nachkommen, ist die Nationalelf so schwach wie lange nicht mehr. Auch die einst so vorbildliche Jugendarbeit durchläuft eine Krise. Woran mangelt es in Ihren Augen?
Wouters: Wir haben in der Ausbildung den Fehler gemacht, die meisten Situationen immer fußballerisch-spielerisch lösen zu wollen. Wir haben beispielsweise Verteidiger ausgebildet, die richtig gut kicken, aber nicht gut verteidigen können. Wir haben bei Abwehrspielern zu großen Wert auf das Aufbauspiel gelegt und nicht auf das, was die eigentliche Kernkompetenz sein müsste. Auch das Thema Mentalität wurde meiner Ansicht nach vernachlässigt. Das hat sich mit den Jahren immer mehr verselbständigt. Der aktuellen Spieler-Generation fehlt das Talent, die herausragende individuelle Qualität, die wir in fast jedem vorherigen Jahrzehnt aufweisen konnten. Holland fehlt sozusagen ein zweiter Arjen Robben, der ein Spiel alleine entscheiden kann - solche Spieler hatten wir zuvor in jeder Generation. Jetzt müssen wir wohl warten, bis die nächsten herausragenden Talente geboren werden. (lacht)
SPOX: Bis heute fest verankert im holländischen Fußball ist die 4-3-3-Identität. Hat man zu unflexibel auf die fußballerischen Entwicklungen der letzten Jahre reagiert?
Wouters: Ja, auf lange Sicht gesehen war es ein Fehler. Wir hatten jedoch zuvor immer sehr gute Außenstürmer, die große Stärken im Eins-gegen-eins besaßen und das System spielen konnten. Van Gaal hat vor der WM 2014 eingesehen, dass wir nicht stark genug für das 4-3-3 waren und hat auf ein 5-3-2 gesetzt. Dafür wurde er viel kritisiert, doch am Ende behielt er Recht und ist Dritter geworden. Diese Flexibilität brauchen wir künftig noch stärker, sie muss ganz normal werden.
SPOX: Es gibt den Ausspruch: 'Was sagt ein niederländischer Trainer nach einer Niederlage? Wir haben verloren, aber wir haben mehr Chancen kreiert.'
Wouters: Solche Sätze habe ich so oft gehört - und ehrlich gesagt auch schon selbst geäußert: ‚Wir haben gut gespielt, aber wir haben nicht gewonnen.' Immerhin verändert sich diese Mentalität gerade ein wenig. Den meisten wird nun klar, dass der Erfolg über allem steht und man dafür auch von gewissen Grundsätzen abrücken muss. Ist der Erfolg da, kann man sich im zweiten Schritt darum kümmern, einen schöneren Fußball zu spielen - aber nicht umgekehrt.
SPOX: Wieso ist das 4-3-3-Paradigma noch immer so sehr verankert?
Wouters: Weil Holländer sehr eigensinnig und von sich selbst überzeugt sind, glaube ich. (lacht)
SPOX: Die wichtigste Frage zum Schluss, Herr Wouters: Aus Ihrer Zeit in München kannte man Sie mit einem prächtigen Schnauzbart. Nun gibt's Haare weder auf dem Kopf, noch auf der Oberlippe. Was ist los?
Wouters: Da es bei mir oben mittlerweile komplett kahl ist, dachte ich mir vor Jahren, ich schaue mal, wie es ohne Schnauzer aussieht. Ich habe ihn dann am Vereinsgelände abrasiert und bin nach Hause gefahren. Meine Frau hat mich zunächst ganz normal begrüßt. Ich habe sie gefragt, ob ihr nichts auffalle. Daraufhin hat sie es erst bemerkt. Daher dachte ich mir: Dann eben ohne Schnauzer.