Knut Reinhardt absolvierte zwischen 1991 und 1999 insgesamt 170 Bundesligaspiele für Borussia Dortmund und gewann mit dem BVB zwei Meisterschaften, die Champions League und den Weltpokal. Der 45-Jährige stand auch beim legendären Halbfinal-Rückspiel 1998 gegen Real Madrid auf dem Feld, das durch den sogenannten "Torfall von Madrid" in die Geschichtsbücher einging. Reinhardt spricht im Interview über die kuriosen Umstände der damaligen Partie im Santiago Bernabeu. Zudem erklärt er, wieso er nach dem Karriereende Lehrer an einer Dortmunder Grundschule wurde und weshalb ihn das Leben außerhalb der glitzernden Fußball-Welt besonders glücklich macht.
SPOX: Herr Reinhardt, am 1. April 1998 kam es vor dem Halbfinal-Hinspiel zwischen Real Madrid und Borussia Dortmund zum berühmten Torfall von Madrid. Sie standen damals 90 Minuten auf dem Feld: Haben Sie beim Warmmachen mitbekommen, wie das Gehäuse umgestürzt ist?
Knut Reinhardt: Nein. Als die ganze Sache anfing, waren wir auch schon wieder in der Kabine. Es sollte ja gleich der Anpfiff erfolgen.
SPOX: Wie lange kam Ihnen die 76-minütige Pause vor?
Reinhardt: Ewig lang. Wir wurden ständig vertröstet, dass es bald losgehen würde. Dann hieß es, das Spiel wird abgebrochen. Kurz darauf fand es dann doch statt. Es musste ja eigentlich so oder so gespielt werden: Wir hatten rund 6000 Dortmunder Anhänger dabei, deren Maschinen für die Rückfluge quasi schon bereitstanden. Es war ein ewiges Hin und Her.
SPOX: Wie hat die Mannschaft die Zeit in den Katakomben verbracht?
Reinhardt: Ganz unterschiedlich: Einige haben sich entspannt auf die Massagebank gelegt, andere haben sich in der Dusche gedehnt oder unterhalten. Für uns Spieler und auch Trainer Nevio Scala war es unglaublich schwierig, die Spannung hoch zu halten beziehungsweise wieder aufzubauen, als es dann wirklich losging.
Der Torfall von Madrid: "Noch nie hätte ein Tor einem Spiel so gut getan"
SPOX: Haben Sie sich auch irgendwie verarscht gefühlt?
Reinhardt: Wir haben zumindest im Leben nicht daran gedacht, dass so etwas möglich ist. Ein Klub wie Real Madrid muss doch ein Ersatztor haben! Der reichste Verein der Welt schafft es nicht, innerhalb von einer Viertelstunde ein zweites Tor aufzubauen - eigentlich ein Unding. Im Nachhinein bin ich aber froh, dabei gewesen zu sein. Eine solche Situation wird wohl nie wieder auftreten.
SPOX: War es überhaupt möglich, die Konzentration in einer solch langen Pause aufrecht zu erhalten?
Reinhardt: Wir waren ursprünglich natürlich auf den Punkt konzentriert und wollten auch endlich spielen. Durch die Verzögerung war es fast schon abzusehen, dass die Luft auch irgendwann draußen ist. Das Problem war ja auch, dass der gesamte Tagesablauf zuvor abgestimmt war. Wir haben das letzte Mal um 16 Uhr gegessen und später gingen uns dann in der Kabine die Bananen aus. Wir hatten alle Hunger. Der ganze Rhythmus war durcheinander.
SPOX: Es war also unmöglich, den Ärger über die Vorkommnisse in positive Energie zu bündeln? Das Spiel wurde recht chancenlos mit 0:2 verloren.
Reinhardt: Wir wollten nach diesem Theater natürlich erst recht gewinnen, aber es war an dem Tag wohl einfach nicht möglich. Real war ja auch richtig gut. In diesem Jahr begegnen sich beide Teams auf Augenhöhe, damals war Madrid aber noch einen Tick stärker als Dortmund. Ich denke, wenn damals beide Teams unter regulären Bedingungen und in Topform aufeinander getroffen wären, hätten wir wohl auch verloren.
SPOX: Wann haben Sie mitbekommen, dass Marcel Reif und Günther Jauch daraus während der Fernsehübertragung eine kleine Comedy-Veranstaltung gemacht haben?
Reinhardt: Nach dem Spiel habe ich mit Freunden telefoniert, die die gesamte Übertragung gesehen haben. Da wurde mir das ganze Ausmaß der Berichterstattung erstmals bewusst. Ich bewundere die beiden, wie sie die Zuschauer vertröstet und bei Laune gehalten haben. Ich habe im Nachhinein auch Ausschnitte davon gesehen und fand das schon beeindruckend.
SPOX: War Ihnen damals schon klar, dass dies Ihr letztes von 14 CL-Spielen wird? Sie waren zu diesem Zeitpunkt ja sonst eher Reservist.
Reinhardt: War es das wirklich?
SPOX: Ja.
Reinhardt: Okay. Ich war eben schon sehr verletzungsanfällig und habe zuvor bereits nur selten gespielt. Es gab damals schon die ersten Anzeichen, dass ich das über Jahre hinweg nicht mehr durchhalten werde.
Seite 2: Reinhardt über sein Leben als Grundschullehrer in einem sozialen Brennpunkt
SPOX: Nach einem Abstecher zum 1. FC Nürnberg beendeten Sie im Jahr 2000 Ihre Karriere und begannen ein Lehramtsstudium an der Universität Dortmund. Am 1. Februar 2009 starteten Sie offiziell in den Schuldienst. Wie einfach wäre es denn für Sie als Ex-Profi gewesen, im Fußballgeschäft zu bleiben?
Reinhardt: Das ist schwerer, als es sich zunächst anhören mag. Die Profivereine sind ja keine Sportvereine mehr wie noch vor 20 Jahren, sondern richtige Wirtschaftsunternehmen. Da braucht man schon eine gewisse Qualifikation, um dort einzusteigen. Ich hatte damals Kontakt zum BVB, die Gespräche waren aber nicht so konkret, dass es schon um eine genaue Funktion ging.
SPOX: Die Idee, als Ex-Profi ein Studium zu beginnen, ist dennoch sehr ungewöhnlich. Wieso haben Sie diesen Weg eingeschlagen?
Reinhardt: Ich wollte etwas machen, das mich ausfüllt und glücklich macht. In meinem letzten Karrierejahr habe ich trotz meiner Verletzungen noch einmal versucht, im Leistungssport zu bleiben. Mein Körper hat mir aber signalisiert, dass das nicht mehr möglich sein wird. Somit musste ich mir etwas Neues suchen und hatte Zeit, mir genügend Gedanken zu machen. Ich hatte auch das Glück, dass ich neben meinen Eltern auch viele Freunde besitze, die mich beraten haben. Heute bin ich wirklich froh, dass ich die Entscheidung getroffen habe, in den Lehrerberuf einzusteigen.
SPOX: Hatten Sie von der sterilen Fußballbranche auf gewisse Weise auch einfach die Schnauze voll?
Reinhardt: Es ist schon eine Glitzer- oder Traumwelt. Für mich ist das aber längst eine Schein-Welt. Als Profifußballer lebt man, gerade heute noch sehr viel mehr, in ganz anderen Sphären als wir es damals taten. Es ist sehr schwierig, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren, wenn man diese Welt einmal verlassen hat oder verlassen muss. Man glaubt, man hat eine gewisse Position erreicht, doch in Wirklichkeit hat man gar keine erreicht. Daran scheitern auch viele Existenzen. Das ist der Preis, den der Beruf mit sich bringt. Erst recht in dieser Zeit, in der die Medien überall sind, die Spieler keine Privatsphäre mehr haben und es sich nicht erlauben können, auch mal etwas Blödsinn zu treiben.
SPOX: Was hat Ihnen persönlich an diesem Konstrukt nicht mehr gefallen?
Reinhardt: Es ist so viel bis ins letzte Detail kommerzialisiert. Als ich aufgehört habe, haben sich viele Leute von mir abgewandt, die mich eigentlich nur als Fußballspieler gesehen haben. Da werden plötzlich zwischenmenschliche Störungen sichtbar, die zuvor im Verborgenen lagen.
SPOX: Wie hat Ihr persönliches Umfeld denn eigentlich reagiert, als Sie sich für das Lehramtsstudium entschieden haben?
Reinhardt: Die haben natürlich erst mal lachen müssen und sich gedacht: ‚Was macht der denn jetzt da?' Es ist auch anormal. Die meisten, die aus dem Sport kommen, bleiben ja auch dort. Mich hätte es aber nicht weitergebracht, wenn ich noch ein oder zwei Jahre gespielt hätte.
SPOX: Wie fällt jetzt mit etwas Abstand dazu Ihr Fazit des Studiums aus?
Reinhardt: Es war natürlich alles andere als einfach. Gerade in der Hinsicht, dass ich quasi aus dem Nichts ein Ziel anvisiert habe, das inklusive Referendariat sieben Jahre entfernt ist. Das Studium hat mich viel Geld gekostet, daneben habe ich eine Familie mit vier Kindern. Das war eine harte Zeit, in der mir ehrlich gesagt auch ein paar Mal die Tränen über das Gesicht gelaufen sind.
SPOX: Wie schwer war es, sich plötzlich wieder ans Lernen zu gewöhnen?
Reinhardt: Auch das war nicht einfach, ich war nervlich oft am Ende. Nachts, wenn die Kleinen im Bett waren, habe ich die Bücher rausgeholt und gepaukt. Ich wollte anfangs am Ende eines Semesters acht Klausuren schreiben, um zügig voran zu kommen. Letztlich habe ich vier geschafft und mir den Mut zur Lücke angeeignet, weil mir die Zeit einfach gefehlt hat (lacht).
SPOX: Sie haben an der Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund ein Praktikum sowie das Referendariat absolviert und sind dort nun sozusagen der prominenteste Lehrer. Wie wurden Sie in der Anfangszeit von den Kollegen wahrgenommen? Sie standen ja doch oft im Mittelpunkt.
Reinhardt: Ich kann ja nichts dafür, dass ich schon ein Leben vor dem Lehrerberuf hatte. Es gibt immer mal wieder Anfragen von Medien, da Fußball einfach ein Thema und mein Werdegang eher ungewöhnlich ist. Das tut mir auch Leid gegenüber den Kollegen und Kolleginnen, die allesamt richtig tolle Arbeit abliefern und nicht so sehr im Blickpunkt stehen. Das habe ich eigentlich nicht so gerne. Mittlerweile wissen die Kollegen aber, dass das nicht von meiner Seite provoziert wird.
SPOX: Die Grundschule befindet sich in der Dortmunder Nordstadt, einem sozialen Brennpunkt und auch ein Ort, den manche Ihrer Berufskollegen wohl eher meiden würden. Wieso haben Sie sich freiwillig dafür entschieden?
Reinhardt: Zur Veranschaulichung: In Dortmund leben 70 Prozent der Kinder im Norden. Dort herrscht eine Arbeitslosenquote von 20 bis 25 Prozent. Wir haben an unserer Schule 83 Prozent Ausländerquote und bringen 27 verschiedene Nationen unter einen Hut. Es ist für mich nicht schlimm, unter diesen Umständen zu arbeiten. Im Gegenteil: Ich habe mich damals für diese Schule entschieden, da ich während meiner Ausbildung gesehen habe, wie dort gearbeitet wird.
SPOX: Wie?
Reinhardt: Wir haben keine Bücher, wir bereiten im Team den Unterricht vor und jeder kann sich mit seinen Stärken einbringen. Die vielen Kulturen bringen auch sehr viel Gutes mit in unsere Gemeinschaft. Es ist eine immens große Aufgabe, die Kinder stark zu machen und auf das Leben vorzubereiten. Es kommt einfach etwas bei rum. Stand heute bin ich einfach froh, sagen zu können, dass ich einen Super-Beruf habe, der mich glücklich macht. Wir sind an der Schule wie ein Fußballverein, arbeiten im Team und so kann ich gewisse Werte aus meiner Fußballerzeit auch in den schulischen Alltag mitnehmen.
SPOX: 13 Jahre nach Ihrem Karriereende: Wie sehr unterscheiden sich die Werte Ihres aktuellen von dem ehemaligen Leben als Fußballprofi?
Reinhardt: Da gibt es schon große Diskrepanzen. Man ist innerhalb des Universums, im dem man sich als Fußballer aufhält, 24 Stunden Profikicker. Es gibt darin einige Dinge, die sehr wichtig erscheinen, für das eigentliche Leben jedoch völlig unwichtig sind.
SPOX: Nennen Sie bitte einmal ein Beispiel.
Reinhardt: Nun ja, ob die Minibar auf dem Hotelzimmer im Trainingslager knarrt oder nicht oder ein bestimmtes Fernsehprogramm im TV fehlt, darüber hat man sich früher schon deutlich eher aufgeregt (lacht).
SPOX: Sie treten in Ihrer Freizeit aber schon noch selbst ab und an gegen den Ball, oder?
Reinhardt: Ich würde es gerne tun, aber ich habe mir vor zwei Jahren beim Badminton einen Kreuzbandriss zugezogen. Seitdem beschränkt sich das auf meine Tätigkeit als D-Jugendtrainer beim Hombrucher SV, einem kleinen Dortmunder Vorortklub. Dort spielt auch mein Sohn.
SPOX: Haben Sie ihm die linke Klebe vererbt?
Reinhardt: Er ist in jedem Fall schon mal Linksfuß und ich finde, er hat auch viel Talent. Wenn ich wüsste, dass er mal Fußballprofi wird, würde ich den Lehrerberuf sofort an den Nagel hängen (lacht).
Knut Reinhardt im Steckbrief