Martin Rafelt im Interview: "Es wird über Taktik geredet, aber nicht zu Ende gesprochen"

Jochen Tittmar
25. Februar 202111:58
Martin Rafelt war drei Jahre lang als Co-Trainer bei Hajduk Split beschäftigt.SPOX
Werbung

Martin Rafelt begann einst als Blogger für das Taktik-Portal spielverlagerung.de, ehe er seine eigene Trainerkarriere startete und ein Buch über Jürgen Klopps Fußball-Philosophie schrieb. Plötzlich erhielt er ein Angebot des kroatischen Traditionsvereins Hajduk Split.

Im Interview mit SPOX und Goal spricht Rafelt über ein überraschendes Treffen mit dem damaligen Mainz-Coach Thomas Tuchel, den Aspekt Taktik in der Berichterstattung und seinen ersten Trainerjob im Jugendfußball.

Der 30-Jährige äußert sich zudem zu seinem Wechsel in den Profibereich, einer irren Schiedsrichter-Entscheidung in Kroatien und seiner Zukunft.

Herr Rafelt, Sie haben nach dem Abitur begonnen, sich immer mehr mit Fußball zu beschäftigen. 2011, da waren Sie noch Student der Wirtschaftswissenschaften und Statistik, gehörten Sie zu den Gründungsmitgliedern des Taktikblogs spielverlagerung.de. Woher kam dieses besondere Interesse für taktische Zusammenhänge?

Martin Rafelt: Ich habe seit frühester Kindheit immer Fußball gespielt, aber von Taktik hat man damals ja nicht viel mitbekommen. Dann hatte ich zwischen Abitur und Zivildienst ein paar Monate frei und viel Zeit, um mich ausgiebig mit Fußball zu beschäftigen. Aufgrund eines Knorpelschadens konnte ich in dieser Zeit fast ein Jahr lang nicht selbst kicken, daher war das meine Ersatzbeschäftigung. Zeitgleich wechselte Jürgen Klopp zum BVB. Er hat mich schon in Mainz sehr beeindruckt, weil er Fußball so erklärte, dass man hinterher schlauer war. Entsprechend habe ich mich gefreut, als er zu meinem Lieblingsverein kam. Sein Engagement in Dortmund habe ich vom ersten Tag an extrem eng verfolgt und parallel dazu alles aufgesaugt, was mit Fußballtaktik zu tun hatte. Der Blog "Zonal Marking" von Michael Cox war damals beispielsweise im Kommen sowie die Bücher von Christoph Biermann.

Praktischerweise wohnten Sie aufgrund des Studiums bereits in Dortmund, haben dieses aber nicht abgeschlossen. Weil Fußball immer wichtiger für Sie wurde?

Rafelt: Genau. Es war ein fließender Übergang: In meinem zweiten Studienjahr haben wir spielverlagerung.de gegründet und ich habe immer mehr Fußball gemacht, was sehr viel Zeit gefressen hat. Auf diese Leidenschaft habe ich mich schließlich konzentriert und sehr viele Artikel geschrieben. Dabei kam auch ein bisschen Geld herum. Unsere ersten Einnahmequellen waren eigens publizierte Vorschauhefte für die EM und WM und die Arbeit für das ZDF. Wir haben Artikel für deren Website geschrieben und die Champions-League-Berichterstattung auf dem dortigen Second-Screen-Angebot kommentiert. Das war quasi eine statistische und taktische Analyse parallel zum Spiel.

Martin Rafelt traf Thomas Tuchel bei einer Trainer-Weiterbildung des niederländischen Verbands wieder.

Bereits ein halbes Jahr später folgte die erste ernsthafte Begegnung mit dem Profibereich. Das Mainzer Trainerteam um Thomas Tuchel sichtete nach einem Spiel gegen den FC Bayern, im dem sich der FSV gut geschlagen hatte, die Medien. Man wollte herausfinden, ob verstanden wurde, wie die Mainzer dem Rekordmeister taktisch begegnet sind. Wie überraschend kam das?

Rafelt: Das war definitiv eine große Sache für uns und kam sehr unerwartet. Wir wurden per Mail kontaktiert und da hieß es nur: Kommt doch mal vorbei, wir würden uns gerne mit euch treffen. Wir sind dann zu dritt nach Mainz gefahren. Auch Rene Maric, heute Co-Trainer von Marco Rose bei Borussia Mönchengladbach, war dabei. Was genau passieren würde, war sehr unklar für uns. Man sagte, man müsse mal schauen, ob Tuchel überhaupt Zeit habe. Auf der Hinfahrt dachten wir deshalb, dass wir da nur kurz Videoanalyst Benjamin Weber, der zu uns Kontakt aufnahm, treffen, ein bisschen plaudern und wieder abhauen.

Und wie war's schließlich?

Rafelt: Wir haben einfach über Fußball gequatscht. Sie wollten wissen, was wir selbst im Trainerbereich machen. Rene hat erzählt, welche Übungen er mit seiner U11 in Österreich macht. (lacht) Es ging auch um einen Artikel von mir über Swansea City, den ich mit "Als schwaches Team spielerisch siegen" überschrieben hatte. Darin analysierte ich deren Sieg gegen Manchester City. Swansea war 2011 sensationell in die Premier League aufgestiegen und spielte als kompletter Außenseiter einen 65-Prozent-Ballbesitzfußball mit Leon Britton im Mittelfeld, der die höchste Passquote in Europa aufwies.

Am Ende war das Ergebnis, dass ihr für die Mainzer Gegnerscouting betreiben solltet.

Rafelt: Stimmt, so haben sie uns dann eingebunden. Das haben wir so eineinhalb Jahre gemacht. Sie waren zwar zufrieden und sagten auch, dass sie die Artikel auf unserer Website weiterhin zum Gegnerscouting nutzen werden. Doch sie haben den Fokus dann sehr stark darauf gerichtet, was und wie sie selbst gerne spielen lassen und ihre Mannschaft entwickeln wollen und haben den Gegner quasi innerhalb dieses Prozesses selbst gescoutet.

Tuchel forderte euch auch auf, einen Essay über generelle Ideen, was man im Fußball verändern könnte, zu schreiben. Wie kam das?

Rafelt: Er hat das in einem Interview vor Jahren auch einmal öffentlich erwähnt. Er hat sich mit uns getroffen, um einen kreativen Blick von außen dafür zu bekommen, was man im Fußball noch entwickeln und weiterspinnen könnte. Ich denke, bei unserem Treffen hat er gemerkt, dass wir viele Gedanken und Ideen haben. Er hat uns daher beauftragt, einfach mal alles aufzuschreiben und ihm zu schicken. Seine Ansage war: Das darf auch gerne komplett abgefahren sein.

Sind Sie seitdem in Kontakt geblieben?

Rafelt: Nicht wirklich, nur vereinzelt hatten wir noch Kontakt. Tuchel habe ich 2016 beim niederländischen Verband wiedergetroffen. Das war eine Trainer-Weiterbildung, bei der ich einen Vortrag gehalten habe, mit so Leuten wie Edwin van der Sar und Bert van Marwijk im Publikum. Tuchel hatte am Ende der Veranstaltung die Keynote. Da haben wir dann ein bisschen gequatscht. Ich hatte in der Woche darauf mit den beiden Mannschaften, die ich damals trainiert habe, zwei entscheidende Saisonspiele: ein Spitzenspiel und ein Abstiegsduell. Er hat mir ein paar kurze Videobotschaften aufgenommen, um meinen Spielern viel Glück zu wünschen.

Haben die Schreiber von spielverlagerung.de versucht, weitere Rückmeldungen aus dem Profibereich zu bekommen, um sozusagen zu überprüfen, ob das alles stimmt, was sie schreiben?

Rafelt: Das Treffen mit den Mainzern war unser Schlüsselmoment, da wir bis dato vollkommen im luftleeren Raum gearbeitet haben. Wir hatten natürlich schon das Gefühl, dass stimmt, was wir schreiben. Für mich waren die Pressekonferenzen von Klopp immer eine gute Referenz, wenn er dann genau davon erzählt hat, was auch mir im Spiel aufgefallen ist. Man darf nicht vergessen: Über Fußballtaktik und Formationen zu reden und zu schreiben war damals überhaupt nicht etabliert. Wir bekamen regelmäßig zu hören, wir würden einen auf wichtig machen, Taktik sei gar nicht wichtig, das wäre alles nur Zufall und nicht so geplant. Wir waren daher schon auf der Suche nach einer Art objektiver Referenz. Aus Mainz quasi von ganz oben gesagt zu bekommen, ihr habt das alles richtig analysiert, was wir gegen Bayern gemacht haben, war eine wichtige Bestätigung.

spielverlagerung.de wurde teils für die umständliche Sprache verlacht, die immer wieder neue und nie gehörte Wortschöpfungen kreierte. Hat man diese Sprache schlicht auch deshalb benutzt, weil eben Taktik zuvor kaum einmal so ausführlich beschrieben wurde?

Rafelt: Teils wurde uns vorgeworfen, wir würden absichtlich so schreiben, um schlau zu wirken. Das war sicher Unsinn. Tatsächlich haben wir meistens versucht, es so verständlich wie möglich zu machen. Das ist uns ganz einfach oft nicht gut gelungen. Die meisten von uns hatten keine journalistische Ausbildung und auch keine journalistische Herangehensweise. Wir wollten Fußball diskutieren. Es gab außerdem keine Referenzpunkte. Neue Wörter wurden deshalb kreiert, weil es kaum eine etablierte Fußballsprache für taktische Zusammenhänge gab. So klangen die Sachen manchmal komplizierter, als sie tatsächlich waren. Außerdem waren wir noch nicht auf dem Verständnislevel, um die Dinge so konkret zu benennen, wie wir es heute könnten. Es wurde immer dann am kompliziertesten, wenn wir nicht detailliert genug waren. Heißt: Je mehr wir zusammengefasst haben, desto komplizierter war es zu verstehen.

Inwiefern nervte einen das auch gewissermaßen persönlich, wie taktische Inhalte in der öffentlichen Berichterstattung meist analysiert wurden?

Rafelt: Das war anfangs schon der Fall. Eigentlich wird ja ziemlich oft über Taktik geredet, aber es wird nicht zu Ende gesprochen. Wenn es heißt, Team A hatte keinen Plan B, dann ist das eine taktische Behauptung - mit der Aussage, Team A hätte seine Taktik wechseln müssen. Doch es geht dann nicht in die Tiefe und bespricht, was überhaupt Plan A war, wieso der nicht funktioniert hat und welcher Plan B funktionieren würde. Behauptungen dieser Art gab und gibt es ständig. Sie werden aber eben nur in den Raum geworfen und nicht weiter diskutiert.

Der Aspekt Taktik ist in der Öffentlichkeit auch deshalb so unterrepräsentiert, weil es oft heißt, Fußball müsse Unterhaltung sein. Jürgen Klopp dagegen zeigte während seiner Arbeit beim ZDF bei der WM 2006 und der EM 2008, dass auch Taktik unterhaltsam aufbereitet werden kann. Wie denken Sie darüber?

Rafelt: Es ist klar, dass sich nicht die gesamte Vorberichterstattung zu einem Länderspiel des DFB-Teams um taktische Aspekte drehen kann. Dennoch gibt es ja genug Möglichkeiten, Informationen unterhaltsam zu präsentieren. In jedem Spiel gibt es dutzende taktische Narrative, die auch für die breite Masse sehr interessant sein können. Die fallen aber unter den Tisch, weil niemand darauf achtet.

Fällt Ihnen ein prägnantes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ein?

Rafelt: Kürzlich bei Leverkusens Sieg gegen Dortmund war Bayer in den ersten fünf Minuten des Spiels komplett unterlegen. Dann ließ Peter Bosz Manndeckung über das gesamte Feld spielen und die restliche Halbzeit lief nur noch für Leverkusen. Das erzählt aber keiner, weil man es nicht merkt oder nicht genau hinguckt. Das Problem ist, dass dafür schlichtweg die Kompetenz fehlt und man sie sich erst aneignen müsste. Dass solche Beobachtungen aber nicht unterhaltsam seien, scheint mir eher eine bequeme Ausrede zu sein. Ich glaube aber, da werden mittlerweile auch Fortschritte gemacht.

Im Jahr 2016 haben Sie ein Buch mit dem Titel "Vollgasfußball - die Fußballphilosophie des Jürgen Klopp" veröffentlicht. Was gab den Ausschlag dafür?

Rafelt: Seit 2008 hatte ich quasi jedes Spiel und jede PK des BVB gesehen, habe sehr viele Partien analysiert und die öffentlichen Diskussionen verfolgt. Ich habe parallel zu den öffentlichen Narrativen wie "Dortmund ist schlechter, weil Nuri Sahin nicht mehr dort spielt" aus meiner Beobachtung heraus meine eigenen Narrative entwickelt. Dabei hat sich so viel Information angesammelt, die mir einen Einblick gaben, wie komplex eine Mannschaftsentwicklung und der Leistungsaufbau über einen langen Zeitraum ist. Daher dachte ich, dass ich das einfach mal aufschreibe, meine Artikel ausbaue und daraus ein Buch mache.

Haben Sie Klopp einmal kennengelernt und vom ihm Feedback dazu bekommen?

Rafelt: Nein, weder noch.

Sie sprachen vorhin davon, auch selbst Mannschaften trainiert zu haben. Das fing im März 2015 an, bis Dezember 2017 waren Sie Jugendtrainer beim FSV Witten. Hatten Sie schon zuvor versucht, irgendwo eine Mannschaft zu übernehmen?

Rafelt: Nein, aber das hätte ich tun sollen. Deshalb bin ich mit dem Buch auch nicht gänzlich zufrieden, da ich den allergrößten Teil davon geschrieben habe, bevor ich selbst trainiert habe - und das merkt man dem Buch an. Es ist eher narratives Storytelling, aus der Trainerperspektive fehlen dem Buch konkrete Dinge oder sind falsch gewichtet. Ich hatte nicht den Einblick, was wie selbstverständlich ist im Fußball - woran muss man eigentlich arbeiten, damit es am Ende funktioniert? Mir war die Hierarchie, wie man zu bestimmten Leistungsfacetten kommt, damals nicht so bewusst wie jetzt.

Wie entstand es, dass Sie in Witten loslegten?

Rafelt: Mir war zuvor schon klar, dass ich gerne als Trainer arbeiten will. Ich war nur nie jemand, der einfach mal etwas macht, um zu sehen, ob er es kann. Ich wollte lieber das Gefühl haben, etwas richtig gut zu können. Deshalb habe ich Fußball lange nur beobachtet. Als ich dann als Trainer begann, merkte ich relativ schnell, dass das vielleicht nicht die beste Herangehensweise war. Gerade in der Anfangsphase habe ich extrem viel herumprobiert, aber dadurch konnte ich auch sehr schnell dazulernen.

Was haben Sie in der Praxis in Witten genau gelernt?

Rafelt: Extrem viele Details: Wie man die Idee, die man hat, konkret umgesetzt. Wie ich Spieler anspreche. Wie ich ihnen Sachen beibringe und wie nicht. Wie eine Trainingsgestaltung aussieht, wie ich die Übungen leite. Wie ich eine Mannschaftsansprache mache und ein Team über einen längeren Zeitraum führe. Welche Dinge man voraussetzen kann und welche nicht und woran man wie stark arbeiten muss. Gerade im Jugendfußball ist es beispielsweise ein Klassiker, dass die Spieler noch nicht gelernt haben, wie man das große Feld und die Tiefe hinter sich verteidigt. So etwas lässt sich schwer herausfinden, wenn man nur die Bundesliga analysiert.

Wieso ging es in Witten zu Ende?

Rafelt: Weil ich im März 2017 das Angebot von Hajduk Split erhielt. Dort hätte ich bereits im Sommer beginnen sollen, doch kurz vor dem Umzug hatte ich mich noch recht schwer verletzt. Im Januar 2018 bin ich dann nach Kroatien gezogen.

Martin Rafelt (r.) beim FSV Witten, seiner ersten Station als Trainer.

Haben Sie stets den Plan verfolgt, letztlich im höherklassigen Fußball zu landen?

Rafelt: Höchstens langfristig. Mir ging es am Anfang darum, mich als Trainer auszuprobieren und zu finden. Ich hatte ja null Erfahrungswerte und wusste nicht, ob ich das gut kann. Ich wusste, was man auf dem Feld tun müsste, hatte aber keine Thesen dazu, wie ich das den Spielern beibringe und auf eine Mannschaft übertrage. Das war mir auch bewusst.

In Split wurden Sie Co-Trainer von Mario Despotovic, einem in Neuss aufgewachsenen Kroaten. Der hatte Sie zuvor zusammen mit Maric nach Kanada eingeladen, wo er als Trainer und Sportdirektor beim FC London in Ontario arbeitete. Wie kam der erste Kontakt zustande?

Rafelt: Mario und Rene waren damals im Austausch, dann wurde er Mitglied in einer unserer Chatgruppen zum Thema Coaching. Warum er ausgerechnet dann auch mich nach Kanada eingeladen hat, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Er kannte mich nur von dem Zeug, das ich so in die Gruppe geschrieben habe und wollte mich wohl einfach mal kennenlernen.

Was haben Sie in Kanada gemacht?

Rafelt: Für eine Woche wurden Trainer aus aller Welt eingeladen. Prominentester Vertreter war Marcel Lucassen. Er war zuletzt Direktor Entwicklung beim FC Arsenal, arbeitete lange Zeit für den DFB, hat viele Weltmeister trainiert und ist seit 30 Jahren im Geschäft. Es gab acht Trainingseinheiten pro Tag und die komplette Zeit davor und danach wurde über Fußball geredet. Es war für mich sehr beeindruckend, sich mit solchen Leuten auf Augenhöhe auszutauschen. Mario und ich fanden dort einen Draht zueinander. Ein halbes Jahr später wechselte er zur U19 von Hajduk, suchte noch einen Co-Trainer und hat mich gefragt.

Wie überraschend kam dieses Angebot für Sie?

Rafelt: Total überraschend. Mein allererster Gedanke war: Ich will doch gar nicht auswandern. (lacht) Dann habe ich ein, zwei Tage darüber nachgedacht und gemerkt, dass ich diesen riesigen Schritt zum größten Verein Kroatiens nicht ablehnen kann. Zumal mir die Rolle gut gefiel und ich wusste, dass ich von Mario extrem viel lernen kann. Ich war wohl der erste Nicht-Kroate, der dort jemals in der Akademie gearbeitet hat.

Martin Rafelt arbeitete bei Hajduk Split unter Cheftrainer Mario Despotovic.

Wie sah Ihr Start bei Hajduk aus?

Rafelt: Im Herbst 2017 lud mich Mario zunächst für eine Woche ein, um mir alles anzusehen. Ich sollte auch auf Initiative der jeweiligen Trainer dabei helfen, zwei Akademiemannschaften auf Spiele gegen Dinamo Zagreb vorzubereiten. Es gab mir natürlich ein gutes Gefühl, dass sich auch andere Leute als Mario an meiner Meinung interessiert zeigten. Ich bin abends angekommen und am nächsten Tag ging es los: ab zum Verein, Laptop anschalten, Dinamo anschauen, Ideen mit den Trainern diskutieren.

Wie liefen die Partien?

Rafelt: Die U15 spielte mit einem Plan, den ich so halb vorgeschlagen hatte - und hat dann einen goldenen Jahrgang von Dinamo mit 1:0 besiegt. Mir wurde gesagt, dass die seit neun Jahren kein Spiel mehr verloren hatten. Bei unserer U19 hatte ich vorgeschlagen, ein asymmetrisches Aufbausystem zu spielen. Mittlerweile ist das ja gar nicht mehr so außergewöhnlich, aber für die anderen war das bestimmt schon ein bisschen wie: Jetzt kommt da dieser komische Typ aus Deutschland und schlägt eine Formation vor, die eigentlich gar keine ist. Das haben wir dann gespielt und ich war entsprechend nervös. Ich hätte ja als Depp dagestanden, wenn das in die Hose gegangen wäre. Die Spieler haben das aber zum Glück super umgesetzt, nach einer Viertelstunde stand es schon 3:0 für uns. (lacht)

Wie sahen Ihre Aufgabengebiete bei Hajduk schließlich genau aus?

Rafelt: Primärer Job war der Posten als Marios Co-Trainer bei der U19, nach einer Saison dann bei der zweiten Mannschaft. Ich habe gemeinsam mit dem Cheftrainer eigentlich alles gemacht: Trainingsplanung und -leitung, Gegner- und Videoanalyse, Spielvorbereitung, Scouting und so weiter. Wir haben beispielsweise jede Woche mit allen Spielern, die gespielt haben, individuelle Videoanalysen gemacht. In der Akademie war ich parallel dazu zunächst als "Head of Analysis" eingebunden, was so aussah, dass die Trainer auf mich zukommen konnten, wenn sie Unterstützung und meine Ideen wollten. Weiterhin habe ich mich immer mehr auch mit grundsätzlichen und theoretischen Themen beschäftigt, die langfristiger angelegt waren. Wir hatten in der Praxis zunehmend das Gefühl, dass wir unser Fundament noch verbessern wollen.

Inwiefern?

Rafelt: Wir hatten zwar einen funktionierenden Arbeitsprozess, in vielen Teilbereichen aber auch viele alternative Ideen. Zuweilen war es schwierig zu entscheiden, welcher Ansatz am vielversprechendsten ist - methodisch wie auch taktisch. Deshalb waren wir nie hundertprozentig zufrieden mit uns selbst. Mario ist als Trainer auch sehr ambitioniert und reflektiert und will sich ständig weiterentwickeln. Viel Arbeit bestand daraus, uns zu hinterfragen und zu überprüfen, ob wir Dinge optimal angehen, was wir noch verändern und verbessern können. Ich denke, da haben wir in den drei Jahren große Fortschritte gemacht und unser ganzes Fußballverständnis noch einmal besser strukturiert. In der letzten Saison war ich dann neben dem Job auf dem Platz noch "Head of Tactical Planning", womit wir versuchen wollten, die Akademie sportlich-inhaltlich weiterzuentwickeln. Beispielsweise haben wir an einem Projekt gearbeitet, um die individuelle Förderung der Spieler zu verbessern und klar zu organisieren.

Rund drei Jahre lang arbeitete Martin Rafelt bei Hajduk Split.

Wie schnitt die U19 denn in der ersten Saison ab?

Rafelt: Wir haben mit einem recht jungen und ausgedünnten Jahrgang nach einer guten Saison am letzten Spieltag die Meisterschaft verspielt. Zwischenzeitlich lagen wir zehn Punkte vorne. Im entscheidenden und letzten Auswärtsspiel lief es dann auch noch sehr kurios, um es mal so zu umschreiben.

Was war los?

Rafelt: Nach einer Ecke in der 89. Minute spielte derselbe Verteidiger im Strafraum erst Hand und trat direkt danach unseren Stürmer beim Abschluss um. Er ging dann auch tatsächlich zum Schiedsrichter und gab beide Vergehen zu, aber der ließ weiterspielen. Hätten wir den fälligen Elfmeter verwandelt, wären wir Meister gewesen.

Bitter. Und wie war es bei der zweiten Mannschaft?

Rafelt: Hajduk B spielt in der 2. Liga. Da die 1. Liga nur aus zehn Klubs besteht, mussten wir uns also mit vielen Jugendspielern unter den 20 besten Mannschaften des Landes bewegen. Als wir im Winter übernahmen, wurde die halbe Startelf gerade abgegeben. Wir mussten dann die Mannschaft mit vielen Jungs aus der U19 neu aufbauen. Nach einer Unentschieden-Serie zu Beginn hat sich das Team sehr gut an den Seniorenbereich angepasst. Wir waren über die letzten zehn Spiele dann die zweitbeste Mannschaft der Liga und haben die Hinrundenplatzierung gehalten.

Wie lief es in der zweiten Saison?

Rafelt: Wir lagen lange auf Platz zwei. Dann wurden viele der Leistungsträger in die erste Mannschaft geholt, manche verliehen oder auch verkauft. Innerhalb eines halben Jahres haben wir 18 Spieler nach oben abgegeben, was natürlich nicht ohne Weiteres auszugleichen war. Als die Saison wegen Corona abgebrochen wurde, waren wir Sechster. In der laufenden Saison ging's mit vielen neuen Nachwuchsspielern in den Abstiegskampf, wo wir trotz mehreren Quarantäne-Pausen zunehmend stabiler geworden sind. Die Herausforderung war die ganze Zeit vor allem, viele Spieler gleichzeitig an den Seniorenfußball heranzuführen. Die Anzahl der Spieler, die wir nach oben abgegeben haben, war entsprechend der wichtigere Erfolg als die Liga-Ergebnisse.

Während Ihrer Zeit herrschte im gesamten Klub eine hohe personelle Fluktuation. Auch Despotovic und Sie mussten Hajduk kurz vor Weihnachten verlassen. Wie blicken Sie nun in die Zukunft?

Rafelt: Mal schauen. Es stehen ein paar interessante Dinge im Raum, aber noch nichts, worüber man öffentlich sprechen könnte. Derzeit schreibe ich wieder ein paar Artikel, arbeite an einem Buch weiter, tausche mich aus und bilde mich weiter. Mit Tobias Escher starten wir demnächst ein neues Podcast-Projekt, wo wir ein bisschen über Floskeln und Phrasen im Fußball sprechen. Ich hoffe aber, dass es möglichst bald wieder auf den Trainingsplatz geht.

Sie waren nun Co-Trainer, Chefcoach, hatten leitende Funktionen inne - welche Rolle ist Ihnen künftig am liebsten?

Rafelt: Ich sehe mich auf jeden Fall auf dem Platz und in der direkten Zusammenarbeit mit den Spielern. Theorie und Analyse bringen am Ende des Tages nichts, wenn sie bei den Jungs nicht ankommen. Ich arbeite gerne auch innerhalb des Vereins, um den Gesamtprozess zu verbessern und neue Ideen anzustoßen, aber die Praxis ist mir wichtiger und bei Hajduk ging das gut Hand in Hand. Daher sehe ich mich weiter in erster Linie als Co-Trainer. Ich würde auch gerne weiter mit Mario zusammenarbeiten, weil es für einen Co-Trainer schon wichtig ist, dass man eine gute gemeinsame Linie mit dem Cheftrainer hat, um effektiv und erfolgreich zu arbeiten. Und er ist ja quasi deutscher Muttersprachler.

Mit Maric in Gladbach, Eduard Schmidt in St. Gallen und Philipp Pelka bei Holstein Kiel sind neben Ihnen weitere Schreiber von spielverlagerung.de mittlerweile im Profibereich angekommen. Wie denken Sie darüber?

Rafelt: Das ist schon toll zu beobachten. Rene und Philipp haben ja im Januar in einer Woche zweimal die Bayern besiegt. So etwas ist schon ziemlich geil und da blickt man auch ein bisschen stolz zurück. Ansonsten denke ich, dass wir nicht so wahnsinnig darüber sinnieren, wo wir herkamen und jetzt sind. Man wächst auch nach und nach hinein und gewöhnt sich ein Stück weit daran. Wenn mir 2012 jemand gesagt hätte, dass ich einmal in einer Profiliga trainiere, die Matchpläne mache, man da Spiele gewinnt, hätte ich schon gesagt: Oha, geil! Doch das fällt ja nicht vom Himmel, sondern man hat im Alltag permanent Aufgaben und Probleme zu bewältigen und kommt Schritt für Schritt dorthin. Dabei wird es stückweise zur Normalität. Eine langweilige Antwort, ich weiß. (lacht)