Der FC Bayern München befindet sich nach dem verlorenen Finale gegen den FC Chelsea in kollektiver Schockstarre. Zum zweiten Mal nach 1999 müssen die Bayern die Grausamkeit des Fußballs verarbeiten. Sie waren verdammt nah dran, sind aber letztlich selbst schuld.
Anatolij Tymoschtschuk wollte nur noch weg. Fehlte nur noch, dass er sich die Ohren zuhielt und losheulte, als er von Thomas Müller angefleht und angeschrien wurde, in Gottes Namen doch bitte seine Bereitschaft zu erklären, als Elfmeterschütze anzutreten.
Es war eine der vielen extremen, bisweilen bizarren Szenen, die sich im Champions-League-Finale 2012 abspielten. Jupp Heynckes suchte mit seiner Trainer-Entourage augenscheinlich händeringend nach den fünf Spielern, die den FC Bayern nach 120 Achterbahn-Minuten doch noch zum ersehnten Titel beim Finale dahoam schießen sollten.
Mehr als vier Feldspieler konnte weder Heynckes, noch Müller, noch sonst irgendjemand überreden. Und so musste Manuel Neuer ran - nicht als Schütze Nummer neun oder zehn, wie üblich für einen Torhüter, sondern bereits als Nummer drei. Heynckes gab hinterher sinngemäß zu, dass eigentlich kein einziger Spieler schießen wollte. Dass Neuer sich erst bei der Bayern-Bank vergewissern musste, dass er als Dritter dran ist, setzte dem absurden Treiben die Krone auf.
35 Torschüsse, 20:1 Ecken
Trotz der kollektiven Versagensangst waren die Bayern auch im Elfmeterschießen im Vorteil, zum gefühlt zehnten Mal in diesem Spiel. Am Ende aber jubelten 17.500 Chelsea-Fans. Bayern-Präsident Uli Hoeneß sprach das aus, was 62.500 Zuschauer im Stadion und weltweit über 200 Millionen am Fernseher dachten: "Ich habe keine Erklärung, warum wir dieses Spiel verloren haben."
35:12 Torschüsse, 20:1 Ecken, 61 Prozent Ballbesitz. Führungstor in der 83. Minute, Elfmeter in der Verlängerung, 3:1-Führung im Elfmeterschießen. Die Bayern hatten bereits neun Finger am CL-Pokal, ließen sich den Henkelpott aber noch entreißen.
Bastian Schweinsteiger vergrub sich unter seinem Trikot, Philipp Lahm wanderte ziellos und apathisch über den Rasen, Arjen Robben weinte sich an der Schulter von Didier Drogba aus.
"Ein absoluter Albtraum"
Fast alle Bayern-Spieler suchten weit vor der Pokalübergabe an den FC Chelsea das Weite. Mario Gomez blieb noch ein bisschen, verlor sich dabei aber irgendwie selbst. Er schüttelte eifrig seine Silbermedaille, drehte den jubelnden Londonern erst den Rücken zu, setzte sich dann mit Blickrichtung Pokalübergabe auf den Rasen und kippte just in dem Moment nach hinten um, als Frank Lampard den Pott in den Münchner Nachthimmel stemmte. Szenen aus einer cineastischen Billigproduktion.
"Das ist ein absoluter Albtraum. Wenn man den Spielverlauf sieht, kommt es einem vor wie ein schlechter Film. Das ist frustrierend und deprimierend. Diese Niederlage zu verdauen, wird sehr schwierig", sagte Sportdirektor Christian Nerlinger.
Rummenigge: "Bitterer, brutaler, überflüssiger"
Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge eröffnete das Bankett, das eher einer Beerdigung glich und das die ersten bereits nach 30 Minuten wieder verließen, mit den Worten: "Ich habe das 1999 erlebt, als wir in Barcelona so dramatisch verloren haben. Das war damals auch unglaublich brutal, aber ich habe den Eindruck, heute Abend ist das irgendwie noch bitterer, brutaler und eigentlich auch überflüssiger. Und das tut unglaublich weh."
Am Sonntagmorgen meldete sich Thomas Müller via Twitter: "Hab kein Auge zugemacht. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass wir dieses Spiel nicht gewonnen haben. Soooooooooooooooooo bitter. Fußball kann so grausam sein!"
Bayern München in kollektiver Schockstarre. Es dürfte eine Zeit dauern, ehe der Verein und vor allem die Spieler dieses traumatische Erlebnis verarbeitet haben. "Wir müssen sehen, wie die nächsten Tage werden. Wie ich diese Niederlage persönlich verarbeite, weiß ich noch nicht", sagte Präsident Hoeneß.
"Nicht nur über die Elfmeter sprechen"
Dass der FC Chelsea mit seiner destruktiven Spielweise den wichtigsten Titel des Vereinsfußballs gewonnen hat, mag ungerecht sein. DFB-Sportdirektor Matthias Sammer sprach gar von einer "Katastrophe für den Fußball", sollte sich der Stil der Blues in Zukunft wieder öfter durchsetzen.
Doch die Bayern haben sich diese grausame Niederlage selbst zuzuschreiben. Sie haben zu wenig aus ihrer Überlegenheit gemacht und es nicht verstanden, Müllers Führungstor über die Zeit zu bringen.
"Wir dürfen die Verantwortung nicht bei Chelsea zu suchen. Und man sollte nicht nur über die Elfmeter sprechen. Wir hatten viele Chancen. Die muss man nutzen, sonst wird man bestraft. Und dann hätten wir die Führung nach Hause bringen müssen", sagte Heynckes.
Eine Ecke genügt Chelsea
Manuel Neuer ergänzte: "Wir hatten mehrere Matchbälle. Da muss man einfach verwerten. Wir hätten doch nur zupacken müssen."
In 120 Minuten gestatteten die Bayern Chelsea nur einen einzigen Eckball, der genügte den Londonern aber, um sich in die Verlängerung zu retten. Zu allem Überfluss drückte Jerome Boateng Torschütze Drogba auch noch mit beiden Händen in den Ball.
Drogba hielt Chelsea nicht nur im Spiel, der Ivorer verwandelte auch den entscheidenden Elfmeter. Nach einem ausgelassenen Jubellauf nahm Drogba erst Schweinsteiger und später Robben in den Arm, um ihnen Trost zu spenden. Eine feine Geste.
"Fußball ist manchmal verrückt"
"Das ist ein guter Tag für Chelsea. Für uns Spieler, für den Verein und unsere Fans", sagte Drogba. Frank Lampard erlebte den "schönsten Tag meiner Karriere" und Trainer Roberto di Matteo kündigte an, in den nächsten Tagen richtig die Sau rauszulassen.
"Wir werden ordentlich feiern. Wir haben hart für diesen Titel gearbeitet", sagte er. "Die Bayern haben ein sehr gutes Spiel gemacht und hatten mehr Chancen. Aber der Fußball ist unberechenbar und manchmal verrückt."
FC Bayern - FC Chelsea: Fakten zum Spiel