Raffael ist seit Jahren Leistungsträger und Publikumsliebling bei Borussia Mönchengladbach, befand sich in dieser Saison aber lange in einem Formtief. Im SPOX-Interview spricht der 32-Jährige über seine Kindheit, sein enges Verhältnis zu seinem Bruder Ronny und Lucien Favre sowie über weniger glückliche Stationen seiner Karriere. Außerdem bewertet er den bisherigen Saisonverlauf und blickt in die Zukunft.
SPOX: Raffael, Sie sind in Fortaleza im Norden Brasiliens aufgewachsen. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit?
Raffael: Wenn ich an die Zeit zurückdenke, habe ich nur ein Bild im Kopf, nämlich das, wie ich auf der Straße mit meinen Freunden Fußball spiele. Jeden Tag, es gab immer nur Fußball.
SPOX: Ihr Vater war auch Fußballprofi. Welchen Einfluss hatte das auf Sie?
Raffael: Er war sehr viel unterwegs. In Brasilien gehst du zwei oder drei Tage vor den Spielen ins Hotel, um dich zu konzentrieren. Das ist dort ganz normal. Deswegen haben wir ihn zu Hause natürlich häufig vermisst.
SPOX: Was haben Sie fußballerisch von ihm gelernt?
Raffael: Er hatte einen sehr guten Schuss. Den habe ich mir immer ganz genau angeschaut und versucht, die Technik nachzuahmen. Und ich glaube, manchmal wenn ich den Ball richtig gut treffe, kann sich mein Schuss auch sehen lassen.
SPOX: Wenn wir bei einem guten Schuss sind, müssen wir natürlich über Ihren ein Jahr jüngeren Bruder Ronny sprechen. Wie war Ihr Verhältnis in der Kindheit?
Raffael: Das war sehr eng. Wir waren rund um die Uhr zusammen, sind immer gemeinsam von Fortaleza nach Sao Paulo zu unserem Verein geflogen. Und wir waren die ganze Zeit auf der Straße, um zu kicken. Aber wir haben immer gegeneinander gespielt.
SPOX: Warum?
Raffael: Wenn wir zusammen gespielt hätten, hätte es keine Chance für die anderen gegeben. (lacht) Ich hatte meine Mannschaft, er seine und dann waren die Spiele meistens spannend.
SPOX: War damals der harte Schuss seine große Stärke?
Raffael: Ja, das war Wahnsinn. Er hatte schon als kleines Kind einen sehr harten Schuss, einen guten Pass, einfach sehr viel Talent.
spoxSPOX: Ihre Heimat haben Sie schon mit elfeinhalb Jahren verlassen, um auf eine Fußballschule in Bahia zu gehen. Wie kamen Sie zu dieser Entscheidung?
Raffael: Ich hatte immer im Kopf, dass ich Fußballprofi werden möchte. Deswegen habe ich meine Eltern gebeten, mir zu ermöglichen, nach Bahia zu gehen, um diesen Traum zu verfolgen. Natürlich waren sie zuerst nicht begeistert, aber sie haben gesagt: 'Wenn das ist, was du möchtest, dann müssen wir das machen.'
SPOX: Aber war dieser Schritt als Kind nicht enorm schwierig?
Raffael: Auf jeden Fall. An den ersten drei Tagen waren meine Eltern noch dabei, aber danach war ich komplett alleine. Ich habe jeden Tag durchgeweint und wollte unbedingt nach Hause.
SPOX: Was hat Ihnen geholfen, diese Zeit durchzustehen?
Raffael: Meine Freunde. Wir waren ja alle in der gleichen Situation, alle waren alleine, nicht nur ich. Wir haben gemeinsam geweint und uns gegenseitig dabei geholfen, das durchzustehen. Mit der Zeit ist es immer besser geworden.
SPOX: Mit 18 haben Sie den nächsten großen Einschnitt gemacht und sind in die Schweiz zum FC Chiasso gewechselt. Wie waren die ersten Eindrücke von Europa?
Raffael: Das war wie ein Schock.
SPOX: Inwiefern?
Raffael: Plötzlich bist du in der Schweiz, weit weg von zu Hause. Und dann ist es auch noch so kalt in Europa. Ich komme aus einer Stadt in Brasilien, in der es kalte Tage nicht gibt. Niemals. In Fortaleza ist es das ganze Jahr heiß. Deswegen hat mir vor allem das Wetter zugesetzt. Die ersten Wochen waren sehr schwierig für mich, aber ich habe mich daran gewöhnt und es lief sportlich immer besser.
SPOX: So gut, dass Sie sich nach zwei Jahren bei Chiasso dem FC Zürich und damit das ersten Mal Lucien Favre anschlossen. Wie kam der Kontakt zustande?
Raffael: Sein Sohn Loic war damals bei Bellinzona und wir haben gegeneinander gespielt. Ich habe ein sehr gutes Spiel gemacht. Danach hat er zu seinem Vater gesagt: 'Bei Chiasso spielt ein guter Spieler, ein Brasilianer, pass auf den auf.' Und dann hat er Kontakt zu mir aufgenommen.
SPOX: Wie war das Kennenlernen?
Raffael: Er war von Anfang an sehr herzlich zu mir. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Er hat viel mit mir gesprochen und mich gefragt, wie es mir geht - körperlich, aber auch persönlich. Er hat sich sehr um mich gekümmert und mir in Einzelgesprächen erklärt, welchen Plan er mit mir hat. Wir haben häufig Einheiten gemacht, in denen er mich individuell gefördert hat.
SPOX: Was genau ist denn das Besondere an der Zusammenarbeit mit ihm?
Raffael: Er macht einfach alles gut. (lacht) Ich mag seine Idee vom Fußball. Er will immer nach vorne spielen. In jeder Situation, egal was passiert, soll seine Mannschaft eine spielerische Lösung finden. Das macht mir am meisten Spaß. Nicht einfach den Ball nach vorne schlagen, sondern miteinander spielen - darauf legt er enorm viel Wert und das versucht er, seinen Mannschaften zu vermitteln.
SPOX: Wie würden Sie Ihr persönliches Verhältnis nach so vielen gemeinsamen Jahren beschreiben?
Raffael: Sehr, sehr gut. Für mich ist Favre ein Vater geworden. Ich habe ihm beinahe meine ganze Karriere in Europa zu verdanken.
SPOX: 2008 sind Sie ihm zu Hertha BSC gefolgt. Wie lief das ab? Kam der Verein auf Sie zu oder hat Favre Sie direkt angesprochen?
Raffael: Er hat mich tatsächlich persönlich gefragt. Ich hatte zu dieser Zeit auch andere Angebote, der FC Zürich wollte mich nach Russland verkaufen. Aber ich habe mich dagegen gewehrt. Wegen Lucien wollte ich unbedingt nach Berlin. Sie dürfen nicht unterschätzen, wie viel es für einen Fußballer ausmacht, wenn er den Trainer kennt und gut mit ihm zusammenarbeiten kann. Außerdem war die Stadt reizvoll. Und Deutschland ist in Europa noch einmal eine andere Hausnummer als Russland. Ich wollte unbedingt in die Bundesliga.
gettySPOX: In der Stadt Berlin haben Sie sich sehr wohl gefühlt.
Raffael: Ich habe noch immer gute Kontakte dorthin. Meine beiden Söhne sind in Berlin geboren. Dort gibt es einfach alles und man kann alles machen: Essengehen, Ausgehen, Spazieren, Berlin hat eine große Geschichte und die Leute dort sind sehr offen. Berlin ist eine faszinierende Stadt.
SPOX: Nach dem Abstieg 2010 mit der Hertha gab es Gerüchte, dass Sie den Verein wieder verlassen könnten. Am Ende sind Sie jedoch geblieben und mit in die 2. Liga gegangen. Was hat den Ausschlag gegeben?
Raffael: Mein Bruder ist gekommen. (lacht) Ich habe zum Verein gesagt: 'Wenn mein Bruder kommt, bleibe ich, wenn nicht, gehe ich.' So einfach war das. Dass es dann wirklich geklappt hat, war super. Ich hätte ehrlich gesagt nie geglaubt, dass ich einmal im Profibereich mit Ronny zusammenspielen würde. Dass wir dann zwei Jahre zusammen in einem Verein waren, war die Erfüllung eines Kindheitstraums. Ob im Training oder im Spiel - er weiß, wie ich denke, wohin ich den Ball möchte. Ronny und ich haben einen gemeinsamen Geist.
SPOX: Das Zusammenspiel war so erfolgreich, dass Sie direkt wieder in die Bundesliga aufgestiegen sind. Warum haben Sie die Hertha nach dem erneuten Wiederabstieg 2012 dann endgültig verlassen und sind zu Dynamo Kiew gewechselt?
Raffael: Ich wollte nicht noch einmal in der 2. Liga spielen. In dieser Zeit ist Kiew auf mich zugekommen. Der Klub hat mir das Projekt vorgestellt und das klang sehr spannend. Sie wollten viele gute Spieler verpflichten, ich konnte in der Champions League spielen - und das war ein großer Traum für mich.
SPOX: So richtig angekommen sind Sie aber nie. Sie waren nur ein halbes Jahr im Verein ...
Raffael: Fünf Monate sogar nur. Vor Ort sind viele Dinge anders gelaufen, als sie mir versprochen wurden.
SPOX: Und zwar?
Raffael: Ich hatte sehr gute Gespräche mit dem Trainer geführt. Aber nach einem Monat ist er entlassen worden. Und der neue Trainer war komplett anders. Er hatte eine andere Idee und ich war nicht sein Spieler. Dazu war ich in der Anfangszeit verletzt und habe es nie geschafft, mich zu integrieren. Außerdem hat sich meine Familie in Kiew nicht wohl gefühlt. Es hat einfach von Anfang bis Ende nicht gepasst.
SPOX: Also haben Sie das Kapitel nach kürzester Zeit wieder beendet und sind auf Leihbasis zu Schalke gewechselt. Ein halbes Jahr bevor Sie zum dritten Mal dem Ruf von Lucien Favre gefolgt und zu Borussia Mönchengladbach gegangen sind ...
Raffael: Favre hatte auch schon angerufen, als ich noch in Kiew war. Aber Schalke war schneller, hatte bereits konkretere Vorstellungen und ein Angebot abgegeben. Deswegen bin ich dort hingegangen. Schalke war eine Bauchentscheidung.
SPOX: Richtig rund lief es auf Schalke nicht.
Raffael: Am Anfang war es schwierig, weil ich nach meiner Verletzung aus der Zeit in Kiew noch nicht 100 Prozent fit war. Also musste ich mich erst einmal darauf konzentrieren, fit zu werden - und das im Winter, in dem ich mich sowieso nicht am besten fühle. Aber als ich fit war, habe ich gespielt und wir haben unser Ziel erreicht. Ich würde nicht so ein negatives Fazit ziehen. Das halbe Jahr war sicherlich kein Misserfolg für mich.
SPOX: Dennoch sind Sie im Sommer dann dem Ruf von Favre gefolgt und zur Borussia gewechselt, zu einer besonderen Station in Ihrer Karriere ...
Raffael: ... auf jeden Fall die Beste! (lacht)
SPOX: Offenbar, immerhin sind Sie bereits seit viereinhalb Jahren hier. Was war Ihr emotionalster Moment mit der Borussia?
Raffael: Oh, das waren so viele. Ein Spiel, das ich niemals vergessen werde, war unser Sieg im Mai 2015 gegen Werder Bremen, mit dem wir die Champions League erreicht haben. Wir haben 2:0 gewonnen und ich habe beide Tore gemacht. Dieser Moment war fantastisch. Dafür spielst du Fußball. Auch die beiden Siege gegen den FC Bayern im gleichen Jahr waren sehr speziell. Ein Sieg gegen Bayern ist immer ein Feiertag.
gettySPOX: Wie haben Sie die Zeit erlebt, als Favre im Herbst 2015 überraschend nach fünf Niederlagen zum Auftakt zurückgetreten ist?
Raffael: Die ersten drei, vier Tage danach war ich offen gesagt sehr traurig, weil ich nicht erwartet hätte, dass er zurücktritt. Ich glaube, das hat keiner erwartet. Mit ein bisschen Abstand hatte ich Verständnis für seinen Schritt. Das gehört auch zum Fußball. Wenn es nicht so gut läuft, werden Trainer häufig entlassen, also sollten sie auch die Möglichkeit haben, selbst zurückzutreten, wenn sie es für richtig halten.
SPOX: Haben Sie seitdem mit ihm über seine Entscheidung von damals gesprochen?
Raffael: Wir haben uns etwa ein Jahr danach getroffen. Aber über das Thema haben wir nicht gesprochen. Da ging es eher um die Familie, darum wie es so läuft, um die Zukunft. Wir haben noch regelmäßig Kontakt, aber sein Rücktritt liegt in der Vergangenheit, darüber sprechen wir nicht mehr.
SPOX: Bis zuletzt steckten Sie in einem Formtief. Wie ordnen Sie selbst Ihre bisherige Saison ein?
Raffael: Bislang haben wir als Mannschaft noch nicht konstant gespielt wie in vielen der letzten Jahre. Da zähle ich mich auch selbst dazu. Ich bin nicht zufrieden damit, wie meine Saison bisher läuft. Aber ich glaube, es ist ganz normal in einer Fußballerkarriere, dass es Hoch- und Tiefphasen gibt. Wir sehen es jetzt gerade bei Cristiano Ronaldo. Er spielt in einer super Mannschaft, ist ein unglaublicher Spieler und trotzdem läuft es nicht. Wir haben einen guten Teamgeist und eine hohe Qualität. Wir müssen hart weiterarbeiten und nach vorne schauen.
SPOX: Gibt es Gründe dafür, dass Sie sich in einer der benannten Tiefphasen befinden?
Raffael: Schwer zu sagen. Ich hatte eine gute Vorbereitung, bin körperlich fit, eigentlich müsste alles passen, aber ich bringe es nicht auf den Platz. Ich vertraue jedoch darauf, dass es wieder aufwärts gehen wird.
SPOX: Was macht Sie so zuversichtlich?
Raffael: Mein Glaube.
SPOX: Glaube spielt in Ihrem Leben eine wichtige Rolle.
Raffael: Das stimmt. In Brasilien ist ein tiefer Glaube an Gott fest verankert. Das war meiner Familie und mir schon immer wichtig. Ohne Gott geht nichts. Ich danke Gott jeden Tag, dass ich auf der Welt bin, dass meine Familie auf der Welt ist, dass wir alle gesund sind. Deswegen wird auch in Zukunft alles gut werden.
SPOX: Ihre Zukunft liegt durch Ihren Vertrag noch bis 2019 in Mönchengladbach. Wenn er ausläuft, sind Sie 34 Jahre alt. Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, wie es danach weitergehen könnte?
Raffael: Noch nicht. Ich bin kein Typ, der seine Karriere so lange im Voraus planen möchte.
SPOX: Ronny spielt mittlerweile in Ihrer Heimat in Fortaleza. Wäre das für Sie auch eine Option?
Raffael: Grundsätzlich ja, aber ich weiß nicht, wie realistisch das ist. Meine Familie und ich möchten gerne in Deutschland bleiben. Wir leben schon viele Jahre hier und fühlen uns wohl. In Brasilien ist es schwieriger zu leben. Es ist ein schönes Land und unsere Heimat, aber es gibt eine hohe Kriminalität, du hast nie Ruhe, du musst immer aufpassen, wenn du auf die Straße gehst. Wenn du Kinder hast, möchtest du in diesen Verhältnissen nicht leben. Hier gehen sie in die Schule, sind sicher, alles ist gut.
SPOX: Wenn eines Ihrer Kinder auf Sie zukäme und sagen würde: 'Papa, ich will Fußballer werden." Würden Sie ihm zu- oder abraten?
Raffael: Abraten, ganz klar. (lacht) Es ist nicht immer so einfach. Natürlich geht es mir jetzt gut. Ich bin bei einem großen Verein, verdiene gutes Geld. Aber bis dahin war es ein sehr schwieriger Weg. Was ich erlebt habe, möchte ich meinen Kindern nicht unbedingt zumuten.
SPOX: Wie meinen Sie das?
Raffael: Es ist mit vielen Opfern verbunden. Man muss Familie und Freunde zurücklassen, man kann nicht normal zur Schule gehen. In Brasilien spielst du entweder Fußball oder du gehst zur Schule. Beides geht nicht. So war es zumindest damals. Ich würde meine Kinder bei allem unterstützen, aber ich wäre so ehrlich, ihnen zu sagen, dass es sehr hart werden wird.