Die Geschichte des Rickie Lambert handelt von unterklassigen Ligen, von Roter Bete und Enttäuschungen. Sie handelt aber auch vom Durchhaltevermögen eines Mannes, der mit 31 Jahren dort angekommen ist, wo er schon immer hin wollte - im Kader der englischen Nationalmannschaft.
Rickie Lambert ist erst 15, als ihn sein Heimat- und Lieblingsverein FC Liverpool "gehen lässt". Mit 18 Jahren wird er bei Blackpool aussortiert, weil er sich in zwei Jahren nicht von der Konkurrenz abheben konnte. Kurz gesagt erleidet er damit ein Schicksal, das in fußballverrückten Ländern wie England oder Deutschland zahllose Teenager teilen - fast jeder träumt von einer Profikarriere, doch nur die wenigsten schaffen es.
Doch Lambert will das nicht akzeptieren. Er lebt Fußball, hat in seinem jungen Leben kaum etwas anderes im Kopf. So kommt es, dass er sich in Macclesfield Town einen neuen Verein sucht und nebenher in einer Rote-Bete-Fabrik arbeitet, um sich die Reisen zum Training und den Spielen zu finanzieren. 2001 beginnt die Odyssee durch unterklassige englische Ligen, die Lambert am Ende - so viel sei vorweggenommen - bis zu den Three Lions führen wird.
Nach nicht einmal einer Saison in der ersten Mannschaft von Macclesfield wechselt Lambert zu Stockport County, das 2005 in die vierte Liga absteigt. Lambert ist zu diesem Zeitpunkt jedoch schon nicht mehr dabei, weil er sich dem Viertligisten AFC Rochdale anschließt - wo er mit 22 Toren Top-Torschütze der Saison 2005/2006 wird.
Im Sommer 2006 wechselt ein gewisser Sascha Mölders von Schwarz-Weiß Essen zur zweiten Mannschaft des MSV Duisburg, um dort mit 24 Toren zum Torschützenkönig der Oberliga Nordrhein zu werden. Der damals 22-Jährige steigt im Anschluss in die erste Mannschaft auf.
Heimat in Southampton
Für Lambert steht nach seiner ersten Torjägerkanone der nächste Wechsel an. Er heuert bei den Bristol Rovers an und komplettiert damit den fünften Wechsel innerhalb von sechs Jahren. Nach drei Jahren in Bristol und dem ersten Torjägertitel in der League One findet der Fußballnomade 2009 beim FC Southampton endlich ein Zuhause.
Denn der Klub ist ebenso ambitioniert wie Lambert. Zwar spielt Southampton 2009 zum ersten Mal seit 1960 in der dritten Liga, trotzdem ist sich im Verein jeder einig, dass es möglichst schnell wieder in die Premier League gehen soll.
"Es gab andere Interessenten, aber sobald Southampton sich meldete, gab es nur eine mögliche Entscheidung für mich - die Größe des Vereins, die Ambitionen und der Trainer [Alan Pardew] machten es mir leicht," sagte Lambert damals.
In seiner ersten Saison schaffte das Team zwar noch nicht den Aufstieg, dafür wird Lambert mit 30 Toren bester englischer Torjäger des Jahres. Ein Jahr später steigt Southampton in die zweite Liga auf, das reicht jedoch weder Lambert noch dem Rest des Klubs. Als Torschützenkönig (27 Tore) führt der Mann mit der Nummer sieben seinen Verein zurück in die Premier League. Er ist zum Zeitpunkt des Aufstiegs 30 Jahre alt.
Und Sascha Mölders? Der gab schon ein Jahr zuvor sein Debüt in der höchsten deutschen Spielklasse, nachdem er über die Umwege Rot-Weiß Essen (Regionalliga) und FSV Frankfurt (2. Liga) beim Bundesliga-Aufsteiger FC Augsburg gelandet war. Mit fünf beziehungsweise zehn Toren in seinen ersten beiden Saisons hatte er einen entscheidenden Anteil daran, dass Augsburg auch 2013/2014 noch in der Bundesliga aufläuft.
Träume werden wahr
"Davon habe ich mein ganzes Leben lang geträumt", sagt Lambert im August 2013. "Es bedeutet mir so viel. Ich versuche, meine Emotionen zu erklären, aber kann nicht. Unglaublich. Um ehrlich zu sein, ist das alles jenseits meiner wildesten Träume."
Soeben hat der 31-Jährige sein Debüt für die Three Lions gegeben - und mit seinem ersten Ballkontakt das entscheidende Tor gemacht. Gegen Schottland. Im Wembley-Stadion.
Was wie aus dem Drehbuch einer Hollywood-Schnulze entnommen scheint, ist im Falle Lambert das Ergebnis jahrelanger harter Arbeit. Englands Kapitän Steven Gerrard adelt den Debütanten daher als "großartiges Vorbild" für Kinder. "Du kannst dich von ganz unten nach ganz oben arbeiten, dein Debüt machen und ein Tor für England schießen. Es ist eine fantastische Geschichte."
"Fantastisch" trifft es perfekt. In der Nacht, in der Roy Hodgson ihn per Telefon über seine Nominierung informiert, bringt Lamberts Frau sein drittes Kind zur Welt.
Für Lambert erfüllt sich im letzten Jahr ein Traum nach dem anderen. Er gibt sein Premier-League-Debüt, schießt sein erstes Tor in der ersten Liga und sorgt mit seinen 15 Buden und acht Assists entscheidend dafür, dass sich die Saints in der obersten Etage behaupten. Dann kommt der völlig unerwartete Anruf von Hodgson.
Der nächste Traum
Zu der Nominierung kommt es vor allem deshalb, weil Andy Carroll und Daniel Sturridge verletzt fehlen. Dennoch wird Hodgson von den Medien für sein Experiment belächelt, Lambert als "großer Esel" bezeichnet.
Der Trainer aber bleibt stur und lobt den Neuen schon nach wenigen Tagen als "frischen Wind" für sein Team. "Er ist so enthusiastisch seit er bei uns ist, wie ein kleiner Junge mit einem neuen Spielzeug."
Lambert, der nach seiner bewegten Laufbahn ohnehin nicht zur Überheblichkeit neigt, weiß sein Glück dementsprechend richtig einzuordnen.
"Falls das hier mein einziger Moment im Trikot Englands war, dann hätte ich mir keinen schöneren wünschen können", sagt er, auch wenn er wenig später zugibt, von der WM 2014 zu träumen und sich in der Nationalmannschaft etablieren zu wollen.
Stand heute kann man immerhin schon sagen: Sein einziger Moment bei den Three Lions war das Spiel gegen Schottland nicht, er steht auch in den Qualifikationsspielen gegen Moldawien und die Ukraine im Kader, am vergangenen Freitag traf er schon wieder.
Zumal er allen anderen Engländern eine nicht unwichtige Qualität voraushat: Lambert hat in den letzten fünf Jahren 29 Elfmeter geschossen und jeden einzelnen verwandelt.
Man kann sich sicher sein, dass Lambert alles tun wird, um mit der WM 2014 auch sein nächstes großes Ziel zu erreichen. Und auch wenn die Parallelen zu Sascha Mölders bei der Nationalmannschaft aufhören: Mölders ist erst 28 Jahre alt, er hat also noch drei Jahre. Manchmal dauert es eben etwas länger - davon kann Rickie Lambert ein Lied singen.
Rickie Lambert im Steckbrief