Sheffields Vereine und ihre Geschichte: Besuch in der Geburtsstadt des Fußballs

Nino Duit
29. April 201910:47
Seit 1862 wird an der Bramall Lane Fußball gespieltimago
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1857 wurde der Sheffield FC als erster Fußballverein der Welt gegründet. Unweit des Gründungsorts steht heute das älteste Fußballstadion der Welt. Sheffield und seine Vereine prägten die frühe Geschichte des Sports entscheidend - ehe sie zurückgelassen wurden. Wednesday und United träumen nun von der Rückkehr in den großen Fußball, der Sheffield FC will in die alte Heimat. Eine Spurensuche.

Sheffield United gegen den Fulham FC in der zweitklassigen englischen Championship. Ein kalter Dienstagabend im November. Trotzdem sind 25.000 Zuschauer gekommen. Sie sind zu Besuch bei den Ursprüngen des Fußballs. "Willkommen an der Bramall Lane, willkommen im ältesten Fußballstadion der Welt", sagt der Stadionsprecher, während die beiden Mannschaften einlaufen.

Im Bauch des Stadions befindet sich ein kleines Museum, "Legends of the Lane" heißt es. John Garrett, der Vereinshistoriker von Sheffield United, hat es einst aufgebaut und sorgt jetzt dafür, dass alles am richtigen Platz ist. Zwischen alten Magazinen, Bällen, Wimpeln und Schals lehnt er sich einige Stunden vor Anpfiff des Spiels in seinem Sessel zurück und sagt: "Sheffield hat der Welt dieses Spiel geschenkt und all seine Ursprünge liegen innerhalb eines Ein-Kilometer-Radius um unser Stadion."

Sheffield ist die Geburtsstadt des Fußballs und die Region um die Bramall Lane, etwas südlich des Zentrums gelegen, ist ihr Kreißsaal. 1855 wurde das Stadion errichtet, ursprünglich für Cricketspiele. Das erste Fußballspiel stieg 1862, ein kleines Täfelchen erinnert daran. Sheffield FC gegen Hallam FC, der älteste Fußballverein der Welt gegen den zweitältesten. 0:0 ging es aus, aber durchaus emotional zu.

Mr. Waterfall von Hallam soll mehrmals auf Mr. Creswick vom Sheffield FC eingeschlagen haben, heißt es in einem Zeitungsbericht. Zuschauer und andere Spieler mischten sich daraufhin ein und es drohte gar eine Massenschlägerei. Irgendwann beruhigten sich die Gemüter aber, das Spiel wurde zu Ende gespielt und bekam den Rufnamen "Battle of Bramall Lane".

Regeln, aber keine Gegner

Der verdroschene Nathaniel Creswick wird sich danach womöglich etwas über die Undankbarkeit der Gegner geärgert haben, gemeinsam mit seinem Kollegen William Prest hat er das Spiel doch erst ermöglicht. Fünf Jahre war es damals schon her, dass die beiden Cricketspieler Creswick und Prest nach einer Beschäftigung suchten, die sie auch im Winter fit hält.

Sie fügten Ideen verschiedener Ballspiele zusammen und schrieben so das ursprüngliche Fußball-Regelwerk. Die Sheffield Rules, aus denen später und nach etlichen Adaptionen das noch heute gültige Regelwerk hervorging. Eckbälle, Einwürfe, Freistöße: alles Errungenschaften der Sheffield Rules von 1857.

Zeitgleich mit der Veröffentlichung der Regeln gründeten Creswick und Prest auch den ersten Fußballverein der Welt. Sheffield FC nannten sie ihn, aber die Leute riefen ihn nur "The Club". Es gab schließlich keinen anderen. Drei Jahre lang hatte der Sheffield FC Regeln und Spieler, aber keine Gegner. "Wir haben untereinander gespielt, verheiratete Männer gegen unverheiratete Männer zum Beispiel", erzählt Richard Tims, der heutige Präsident des Vereins, "aber dann überredeten wir den Cricketverein Hallam dazu, ebenfalls eine Fußball-Sektion zu eröffnen. Endlich hatten wir einen Gegner."

Das älteste Derby der Welt

Am Boxing Day 1860 empfing Hallam erstmals den neuen Rivalen. Der Sheffield FC gewann an der Sandygate Road 2:0. Die Erstaustragung des ältesten Derbys der Welt und der Beginn einer Rivalität, die in rüde Angelegenheiten wie etwa den "Battle of Bramall Lane" mündete.

Mittlerweile geht es freundschaftlicher zu. In der Saisonvorbereitung treten die beiden Klubs alljährlich gegeneinander an. Steigt das Spiel bei Hallam, dann sogar auf dem selben Stück Erde wie damals 1860. Hallam spielt immer noch an der Sandygate Road, im Guinness Buch der Rekorde ist der dortige Fußballplatz als der weltweit älteste noch bespielte vermerkt.

Die erste Heimat des Sheffield FC war ein Platz in Olive Grove, wenige hundert Meter von der Bramall Lane entfernt. Bald aber zog der Klub weiter und begann eine lange Reise durch die Stadt. Der Sheffield FC spielte mal hier und mal dort und trug seine Heimspiele zeitweise sogar an der Bramall Lane aus. "Lange bevor United überhaupt gegründet war", erklärt Tims und ist schon ein bisschen stolz darauf.

"Damals war der Sheffield FC eine nationale Macht", sagt Tims. Und außerdem Trendsetter. Bei seinen Recherchearbeiten ist Tims auf ein Spiel seines Vereins gegen eine London-Auswahl im Jahr 1867 gestoßen. "In Zeitungsberichten heißt es, dass die Londoner lachend auf dem Boden gelegen seien, weil unsere Spieler den Ball köpfelten", sagt Tims, "das hatte zuvor noch niemand gemacht." Im gleichen Jahr gewann der Rivale Hallam den Youdan Cup, die älteste Trophäe der Welt. Ausgetragen wurde das Finale an der Bramall Lane. Es war die Zeit vom Sheffield FC und Hallam.

Die Entstehung von Wednesday und United

Der neue Sport gewann stetig an Beliebtheit und weitere Sheffielder Cricketklubs gründeten Fußballabteilungen; an einem Mittwoch im Jahr 1867 auch Sheffield Wednesday. Zunächst bezog der neue Klub das Stadion an der Bramall Lane, doch bald gab es Streitigkeiten mit den Betreibern. Man war sich uneins über die Aufteilung der Eintrittsgelder. Wednesday baute daraufhin sein eigenes Stadion - in der alten Heimat des Sheffield FC, in Olive Grove. Die Bramall Lane war daraufhin ein vereinsloses Stadion. Erneut nutzte ein Cricketclub die Gelegenheit, gründete eine Fußballabteilung und zog ein: Sheffield United.

"Uniteds erste Spieler waren Leihgaben von uns", sagt Tims vom Sheffield FC. Die Verbindungen zwischen den vier wichtigen Vereinen waren eng und deren sportliches Niveau ähnlich. Das änderte sich, als sich das Spiel zu ändern begann. Aus Spaß wurde Arbeit, der Fußball wurde professionalisiert. Während der Sheffield FC und Hallam ihren traditionellen Amateurstatus bewahrten, führten Wednesday und United das Profitum ein - und enteilten den beiden älteren Vereinen.

"Bis zum zweiten Weltkrieg zählten United und Wednesday zu den erfolgreichsten Klubs des Landes", sagt United-Historiker Garrett. Sein Klub gewann damals einen Meistertitel und viermal den FA Cup, Wednesday vier Meistertitel und dreimal den FA Cup, letztmals aber 1935.

Zurückgelassen und ausgehungert

Und seitdem: nichts! Kein Meistertitel, kein FA-Cup. Weder United, noch Wednesday. "Hinsichtlich ihrer großartigen Fußball-Geschichte haben die beiden Vereine viel zu wenige wichtige Titel gewonnen", sagt Garrett. Warum, das ist die Frage, und Garrett erzählt vom ehemaligen United-Trainer Dave Bassett. "Es ist egal wie gut man ist", soll er mal gesagt haben, um die ganze Misere zu erklären. "Manchmal braucht man einfach Glück." Sheffield ergab sich seinem Schicksal.

"Das Spiel hat uns zurückgelassen, und was Erfolge angeht, ist diese Stadt ausgehungert", sagt Garrett und schaut etwas wehmütig auf eine Glasvitrine in der Mitte des Museums. Eine silberne Trophäe glänzt dort, der Meisterpokal der Drittligasaison 2016/17. "Es ist die erste richtige Trophäe, die wir seit 35 Jahren gewonnen haben", sagt Garrett. Sie beförderte United in diesem Sommer nach fünf Jahren zurück in die zweite Liga. Und viel wichtiger: zurück auf ein Leistungslevel mit Wednesday.

Gehässiges Derby, ausgeglichene Fan-Verteilung

Im September stieg das erste Derby, Aufsteiger United gewann 4:2. "Die Atmosphäre war sehr feindselig und es war unglaublich viel Polizei in der Stadt", sagt Paul Webster von der Wednesday-Presseabteilung. Auch Garrett erinnert sich an eine "gehässige Stimmung". Er sei europaweit schon bei vielen Derbys gewesen, erzählt er, "aber bei keinem geht es so emotional zu wie beim Sheffield-Derby".

Dass die United-Fans dabei hinsichtlich ihrer Emotionalität beim Support die Oberhand gewinnen, ist für Garrett klar. Als Beweis hat er eine Anekdote parat. Versteht sich, Garrett hat zu allem eine Anekdote parat. Es gab da mal einen Spieler, Derek Geary hieß er, der jahrelang für Wednesday spielte, ehe er sich später zur allseitigen Empörung United anschloss. "Ich bin erleichtert über den Wechsel, weil ich jetzt nicht mehr für Wednesday an der Bramall Lane auflaufen muss. Die Atmosphäre dort war immer so einschüchternd", soll er nach dem Transfer gesagt haben. So erzählt es zumindest Garrett und die Beweisführung ist für ihn damit abgeschlossen.

Speziell macht das stadtinterne Duell vor allem die ausgeglichene Fan-Verteilung. Keiner der Vereine hat eine numerische Überzahl, die Zuschauerschnitte beider liegen fast identisch bei etwas über 26.000. "Es gibt unter den Fangruppen auch keine klaren Trennlinien hinsichtlich Religion, Gesellschaftsschicht oder Stadtteil", erklärt Webster, Wednesday und United entstammen schließlich beide der Region um die Bramall Lane. Mittlerweile sind die Heimstätten der Klubs aber rund sechs Kilometer voneinander entfernt. 1899 zog Wednesday in den Norden der Stadt und baute dort das Hillsborough Stadion.

Das Hillsborough Stadion und seine Katastrophe

Im Laufe der Jahre entwickelte es sich zu einem der bedeutendsten Stadien Englands. Sowohl bei der WM 1966 als auch bei der EM 1996 wurde Hillsborough der Bramall Lane als Turnier-Spielstätte vorgezogen. "Es ist etwas größer als unser Stadion und hat außerdem einen Standort-Vorteil", sagt Garrett. "Die Bramall Lane ist mitten in der engen Stadt, wohingegen es in Hillsborough neben dem Stadion einen großen Park gibt, der sich für Fanzonen anbietet." Dort gibt es Wiesen, Bäume spenden Schatten und sogar ein Bach plätschert direkt am Stadion vorbei.

Im Mai 1989 plätscherte er aber nicht, damals weinte er. Die Hillsborough-Katastrophe beim FA-Cup-Halbfinale zwischen Nottingham Forest und dem FC Liverpool, 96 Tote, ein Tiefpunkt der englischen Fußballgeschichte. Ein Tiefpunkt, dem ein Aufbruch folgte: der Taylor-Report. "Natürlich gibt es nichts Positives an dieser Katastrophe", sagt Garrett, "wenn man aber doch etwas finden will, dann die Tatsache, dass die Stadt Sheffield England damit sichere Stadionerlebnisse geschenkt hat."

Die Katastrophe führte zu einer Modernisierung der Stadien, des ganzen Sports und letztlich 1992 auch zur Einführung der Premier League. Beide Sheffielder Vereine waren in der Premierensaison vertreten, das erste Tor des neuen Wettbewerbs schoss sogar United-Stürmer Brian Deane. Der Ball ist in Garretts Museum ausgestellt.

1994 stieg United aber ab und kehrte später nur mehr kurzzeitig für eine Saison zurück, 2000 verabschiedete sich auch Wednesday aus der Premier League. Bis heute.

Rückkehr in den großen Fußball, Rückkehr in die alte Heimat

Wednesday hat mittlerweile einen reichen Besitzer, den Thailänder Dejphon Chansiri. Er hat eine teure, internationale Mannschaft zusammengekauft und seinen eigenen Namen in riesengroßen Lettern über die Sitze der Tribüne schreiben lassen. In der vergangenen Saison scheiterte Wednesday erst im Playoff am Aufstieg. Bei United geht es bescheidener zu, der Kader ist lediglich ein Sechstel so viel wert wie der des Rivalen. In der Tabelle ist dieser Unterschied aktuell aber nicht erkennbar, United liegt vor Wednesday.

"Beide Vereine wollen unbedingt zurück ins gelobte Land", sagt Tims, dessen Sheffield FC in der achthöchsten Liga spielt. "Es sollte einen Premier-League-Klub aus Sheffield geben." Sheffield ist die fünftgrößte Stadt Englands, liegt im Herzen der Insel. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen sind ideal, die Fußballbegeisterung der Stadt enorm. "Ich wundere mich schon länger, warum kein richtig reicher Investor nach Sheffield kommt, sich einen der beiden Vereine kauft und an die Spitze bringt", sagt Garrett.

United und Wednesday träumen von der Rückkehr in den großen Fußball, Tims und sein Sheffield FC dagegen von der Rückkehr in die alte Heimat. Der Klub baut ein Stadion in Olive Grove, wo einst alles angefangen hat. Sehnsucht und Nostalgie haben die Stadt fest im Griff, auch im Pub "Cricketers Arms". Es liegt direkt neben dem Stadion an der Bramall Lane, seit 1859 wird hier vor und nach United-Spielen getrunken und geschwelgt.

Kurz bevor der Stadionsprecher die Zuschauer zum Spiel gegen Fulham im ältesten Fußballstadion der Welt begrüßen wird, kommen drei United-Fans ins Pub und bestellen Bier an der Bar. Einer sagt: "Hier wird offenbar nicht so oft aufgeräumt. Dieses Matchday-Programm habe ich nach dem letzten Spiel genau hier liegen gelassen." Er hebt das vergessene Heftchen vom Hull-Spiel von vor zwei Wochen auf.

Vergangenheit ist in Sheffields Fußball überall.