Sidney Sam galt einst als einer der größten Transfercoups von Ex-Schalke-Manager Horst Heldt. Doch es lief nicht wie gewünscht. Nach Verletzungen, einer Suspendierung und Auftritten in der Regionalliga versucht der ehemalige Nationalspieler sein Glück jetzt in Darmstadt, dem Mekka der vermeintlich Gescheiterten.
81 Spiele, sieben Tore, eine Vorlage. Es kommt einem Mysterium gleich, wie sich ein Bundesliga-Stürmer, der zwischen 2010 und 2015 mit dieser Statistik aufwartet, mittlerweile selbst zum "mit Abstand besten deutschen Stürmer" krönte. Ein Stürmer wie Napoleon I. also, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts selbst die Kaiserkrone aufsetzte.
Was es dazu braucht? Selbstbewusstsein, Zielstrebigkeit und Siegesgewissheit. Im Falle des ehemaligen französischen Kaisers stammen diese Attribute selbstredend aus dessen Italien- oder Ägypten-Feldzügen in den Jahren zuvor. Sandro Wagner reiste dagegen nicht so weit, er eignete sich diese Mentalität im Süden Hessens an. In Darmstadt, um genau zu sein.
In der Großstadt, die im stetig expandierenden Bundesliga-Business eher wie eine kleine Provinz daherkommt, hat sich so etwas wie eine Resozialisierungsstelle für Bundesligaprofis entwickelt. Der neueste "Patient" kommt jetzt von Schalke 04 und heißt Sidney Sam.
Doch was macht die Lilien so besonders? Einer abgedroschenen aber passenden Phrase nach, ticken am Böllenfalltor die Uhren noch anders. Langsamer sogar. Das bemerkt nicht nur jeder Fußballfan, der sich dem Stadion nähert, das weiß auch der Präsident höchstpersönlich.
Nach den Entlassungen von Holger Fach und Norbert Meier gab Rüdiger Fritsch in der Bild zu: "Die Darmstädter Welt ist zu klein für einen Sportdirektor. Wir hatten das gut gedacht, aber es war zu viel gewollt. Jetzt machen wir eine Rückbesinnung. Es ist besser, wenn man aus einigen Dingen lernt." Und weiter sagte der Lilien-Boss: "Darmstadt hat auch keine Verwendung für einen Sportdirektor, der plant, wie wir uns in ein paar Jahren im Ausland präsentieren. Wir sind froh, wenn wir geradeaus laufen können." Vielleicht wird genau diese Darmstädter Welt für Sidney Sam zur Entgiftungskur.
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Damals ein Transfercoup
Der Ex-Leverkusener ist ein Transfer, bei dem eine banale Kategorisierung a la Top oder Flop unmöglich scheint. Bei seiner Verpflichtung legte der damalige S04-Manager Horst Heldt angesichts der Leistungen des Nationalspielers geradezu lächerlich anmutende 2,5 Millionen Euro zuzüglich Handgeld auf den Tisch und lockte Sam Medienberichten zufolge mit einem fürstlichen aber damals vertretbaren Salär von vier Millionen Euro ins Ruhrgebiet. Von da an ging es mit dem Neuzugang stetig bergab. Die Schulterklopfer für Heldt mussten vermehrt Nackenschlägen weichen.
Ausschließlich auf Schalke etablierte sich Sam nicht als zuverlässiger Scorer. Dabei kam er in seinen vorherigen Stationen in Liga eins und zwei in durchschnittlich fast jedem zweiten Spiel auf eine direkte Torbeteiligung. Seine nackte Bilanz von 13 Spielen, keinem Tor und einer Vorlage auf Schalke liest sich angesichts der zweieinhalb Jahre, die er im Ruhrgebiet verbrachte, wie das Zeugnis eines Transferflops. Dazu kamen 2015 seine vorübergehende Suspendierung und diverse Einsätze im Schalker Regionalliga-Team.
Doch es gilt, seine Suspendierung, die vermeintlichen Degradierungen und folglich auch die schlechten Auftritte zu kontextualisieren. Sidney Sams erste Saison auf Schalke wird als Fiasko in die blauweißen Annalen eingehen. 2014 muss nicht nur Jens Keller seine Koffer packen, in der Rückrunde entgleitet das Team auch dessen Nachfolger Roberto Di Matteo vollends. Desaströse, unmotivierte Auftritte häufen sich und der Italo-Schweizer verlässt die Königsblauen nach bloß einem halben Jahr wieder.
Das Bauernopfer
Sam wirkte bei dessen Suspendierung neben Boateng und Höger wie eines von drei Bauernopfern, die medial ihren Kopf hinhalten mussten, damit der Schalker Führungsetage nicht komplette Handlungsunfähigkeit attestiert werden konnte. Dass der Gescholtene nie wirklich befreit aufspielen konnte, überrascht angesichts der gesamten Probleme auf Schalke nicht. Wie soll sich ein Spieler in einem neuen Umfeld, einer neuen Mannschaft und während Krisenzeiten zwischen muskulären Problemen, Sehnenreizungen und Adduktorenverletzungen zurechtfinden?
Das Schicksal stellte Sam auf Schalke in gewisser Regelmäßigkeit ein Bein. Zu den zahllosen Verletzungen gesellten sich beim vermeintlich perfekten Transfer nach Frankfurt im Juli 2015 zu allem Überdruss auch noch erhöhte Nierenwerte. Neben medialem Druck und der Kritik zahlloser Fans knabbert so etwas nicht nur am Selbstbewusstsein, sondern kann auch wie eine Blockade wirken. Nichts scheint zu gelingen.
Der Wille, unbedingt wieder in Form zu kommen, ist beim Außenstürmer aber zweifellos vorhanden. So betonte Christian Heidel gegenüber Medienvertretern, dass Sidney Sam auf eigenen Wunsch "degradiert" worden sei. Er wolle unbedingt wieder spielen - und zur Not eben auch in der U23. Ein zweiter Albert Streit, der seinen gutdotierten Vertrag aussitzen möchte, ist Sam daher wohl kaum.
Dieser Fakt rückt nicht nur Sidney Sams gescheiterten Wechsel an den Main in ein anderes Licht, sondern auch die fixe Leihe nach Darmstadt. Einen Transfer nach Bochum hatten die Schalker laut WAZ noch abgelehnt. Sam sollte nicht in der zweiten Liga landen. "Es ist wichtig für Sidney, Spielpraxis auf Erstliga-Niveau sammeln zu können. Das wird ihm helfen, um sportlich wieder an seine alte Stärke anknüpfen zu können", erklärte Christian Heidel.
Er ist wieder Jemand
Darmstadt, das Mekka der vermeintlich Gescheiterten, könnte die Karriere von Sam retten. Dabei spielt das Vertrauen, das in den ehemaligen Nationalspieler gesetzt wird, sicherlich eine große Rolle. "Dass Sidney in der Rückrunde für Darmstadt aufläuft, macht extrem Sinn. Für ihn ist das eine tolle Chance auf hohem Niveau. Die Lilien haben Sidney gesagt, dass sie ihn brauchen. Es hätte auch nichts gebracht, wenn er jetzt ins Ausland gegangen wäre. Am Ende besteht immer die Gefahr, dass ein Spieler nicht konstant eingesetzt wird", sagte Schalkes Direktor Sport Axel Schuster gegenüber Reviersport. Vom erfolglosen Mitläufer zum Star eines Bundesliga-Teams - Sidney Sam ist wieder Jemand.
"Mein Ziel ist es natürlich, wieder Spielpraxis in der Bundesliga zu bekommen und mit den Lilien den Klassenerhalt zu schaffen", erörtere Sam die Pläne für die Rückrunde. Selten wirkte eine Aussage nach einem getätigten Transfer so wahr wie diese. Dabei spricht auch für den Neuzugang der Lilien, immerhin ehemaliger Nationalspieler, dass er für Bundesliga-Spelpraxis zu einem Abstiegskandidaten wechselt.
Darmstadt ist bekanntlich der beste Ort, um das Selbstbewusstsein, die Zielstrebigkeit und die Siegesgewissheit wiederzuerlangen. Deshalb wechselt Sidney Sam auch dorthin. Und nicht nach Italien oder Ägypten.
Sidney Sam im Steckbrief