Nach sieben Spieltagen steht Mainz 05 ohne Punktverlust an der Tabellenspitze. Für jede Partie bastelt sich Coach Thomas Tuchel eine neue Taktik zurecht. SPOX hat die beiden letzten Coups in München und gegen Hoffenheim analysiert. Mit dabei: ein Pressing der anderen Art, das Ignorieren von Vorsätzen und Lewis Holtby zwischen den Linien.
Sieben Siege in den ersten sieben Spielen - besser als Mainz 05 ist in 47 Jahren Bundesliga noch kein Klub gestartet. Die Folge: Das Team von Trainer Thomas Tuchel rangiert souverän an der Tabellenspitze.
Ob Mainz auch bis zum Ende oben mitspielen kann, sei dahin gestellt. Fest steht: Der Höhenflug ist alles andere als Zufall. Die Siege bei Spitzenteams wie Wolfsburg, Bremen, Bayern München oder zuhause gegen Hoffenheim waren verdient - in ihrer Entstehung allerdings allesamt völlig unterschiedlich.
Bestimmte Muster oder wiederkehrende Verhaltungsweisen sind ebenso wenig das Erfolgsgeheimnis des Mainzer Erfolges wie ein typisches Schema, nach dem die Tuchel-Elf agiert.
Für jedes Spiel eine andere Idee
Stattdessen sind Wandelbarkeit, Flexibilität und Facettenreichtum Schlüsselwörter auf der Suche nach dem Mainzer Geheimnis. Zu jedem Gegner kreiert Tuchel eine Spiel-Idee, die aus seiner Sicht für die jeweilige Partie den größtmöglichen Erfolg in Aussicht stellt.
Heißt: Die Mannschaft samt Taktik, die in einem Auswärtsspiel beim FC Bayern für drei Punkte gesorgt hat, muss nicht automatisch auch eine Partie später für ein Heimspiel gegen 1899 Hoffenheim die geeignete Konstellation sein.
SPOX hat die Spiele in München und gegen Hoffenheim, die nur eine Woche auseinander lagen, analysiert und erklärt die unterschiedlichen Wege zum Erfolg.
Bayern München - Mainz 05
Tuchel setzte in München zu Beginn auf ein 4-3-1-2-System mit den drei Sechsern Karhan, Polanski und Caligiuri sowie Holtby als zentralen offensiven Mittelfeldspieler. Der Plan: Ein kompaktes Zentrum sollte die Spielkontrolle der Bayern durch die Mitte verhindern und eine aggressive Vorwärtsverteidigung lange Ballbesitzzeiten in der Schaltzentrale der Münchner unterbinden.
Pressing der anderen Art
Eher ungewöhnlich für eine Mannschaft, die beim FC Bayern antritt, hielt Tuchel sein Team an, den Gegner von Beginn an extrem früh unter Druck zu setzen. Seinen beiden Angreifern Szalai und Allagui hatte der Mainzer Coach eine Spezialaufgabe mitgegeben: Innenverteidiger-Pressing (siehe Bild 1 bis 3, 6 und 7)
Anders als beim Forechecking oder "normalen" Pressing sollte das Mainzer Sturmduo im Spielaufbau der Bayern nicht intensiv gegen den Ball arbeiten, sondern nahezu ausschließlich die beiden Münchner Innenverteidiger van Buyten und Badstuber attackieren und sie im Idealfall nur durch Laufwege aus dem Spiel nehmen.
Der Grund: Tuchel wollte den geordneten Aufbau der Bayern aus und durch die Spielfeldmitte verhindern und vermeiden, dass Schweinsteiger und van Bommel den einfachen Ball in den Fuß bekommen und dann das Spielfeld vor sich haben.
Das Ziel: Die Bayern sollten möglichst zu einem langen Ball aus der eigenen Hälfte gezwungen werden, der für die Münchner Offensivabteilung deutlich schwerer zu verarbeiten und für Mainz schon allein durch die zahlenmäßige Überlegenheit (sieben defensiv denkende Mainzer gegen vier offensiv denkende Bayern) leichter zu verteidigen ist. (siehe Bild 4, 5, 8)
Hatten Butt, Badstuber und van Buyten im Spielaufbau dann doch mal etwas Luft, war das Ziel der Mainzer, den Pass nach außen zu erzwingen, um die Bayern in einem kleineren und damit leichter zu kontrollierenden Raum nahe der Außenlinie einzuschnüren und dem jeweiligen Bayern-Spieler nur die Möglichkeit des riskanten Passes ins Zentrum, des uneffektiven Rückspiels oder des leicht zu verteidigenden Balles die Linie entlang zu geben. (siehe Bild 10 bis 14)
In München: defensive und offensive Besonderheiten
Gegen 1899: Holtby zwischen den Linien
Gegen 1899: Präsenz im Zentrum und Druck in die Tiefe
In der Praxis sah das dann so aus: Bei einem Abstoß der Bayern schoben Szalai und Allagui auf die Münchner Innenverteidiger, wenn nötig bis an den Münchner Strafraum. Im Zentrum stellte Holtby und einer der drei Sechser den Passweg auf van Bommel und Schweinsteiger zu.
Bei Spielaufbau aus der eigenen Hälfte über einen FCB-Innenverteidiger orientierte sich Szalai bzw. Allagui in Richtung des zweiten Innenverteidigers, während der jeweils andere Mainzer Stürmer den ballführenden Innenverteidiger so anlief und aggressiv unter Druck setzte, dass nur der Pass nach außen möglich war, weil gleichzeitig Holtby in der Zentrale Druck auf den sich anbietenden Bayern-Sechser machte.
Sobald der Ball Richtung Außenbahn unterwegs war, schob der ballnächste Sechser der Mainzer hinterher und presste aggressiv gegen den Ball.
Defensive Besonderheiten
Mit der Art des Spiels gegen den Ball und vor allem dem Innenverteidiger-Pressing überraschte Mainz in München, doch auch das Verhalten der Angreifer bei Ballbesitz der Bayern im Mittelfeld war durchaus ungewöhnlich.
Schafften es die Bayern, das aggressive Mainzer Pressing zu überspielen und den Ball sicher an die gewünschte Stelle ins (zentrale) Mittelfeld zu bringen, suchten Szalai und Allagui nicht schnellstmöglich den Weg hinter den Ball, um die eigene Defensive zu stärken, sondern hielten eine hohe Linie.(siehe Bild 1 bis 3)
Zum einen, um den sicheren Rückpass auf Badstuber und van Buyten und die damit hohe Ballbesitzzeit der Bayern zu verhindern und gleichzeitig bei Ballgewinn schnell für den Gegenangriff verfügbar zu sein. Zum anderen, um Bayerns Sechsern aus deren Rücken und damit sowohl von vorne (durch einen eigenen Sechser) als auch von hinten unter Druck zu setzen. (siehe Bild 4 bis 6)
Die Tuchel-Elf ignorierte damit also einfach den Vorsatz, das Spielfeld bei gegnerischem Ballbesitz möglichst klein und damit besser kontrollierbar zu machen.
Offensive Besonderheiten
Durch das Auftreten im Spiel ohne Ball zwang Mainz den FC Bayern zu ungewöhnlich vielen Fehlern und beraubte die Münchner dadurch der Spielkontrolle. Im eigenen Offensivspiel setzte Tuchel vor allem auf hohes Tempo.
Szalai und Allagui sollten ständig in Bewegung sein, dabei aber möglichst große Abstände zwischeneinander lassen, um die Viererkette auseinanderzuziehen und Lücken für aus der zweiten Reihe einlaufende Spieler zu reißen.
Der Auftrag: Geht einer der beiden Stürmer dem Ball entgegen, sucht der andere in hohem Tempo den langen Weg. Aus dem Mittelfeld nutzt beispielsweise Holtby den entstandenen Freiraum und startet für den Pass in die Tiefe. (siehe Bild 7 bis 9)
Bei allen Offensivbemühungen galt für die Mainzer Spieler in München allerdings: Szalai, Allagui und Holtby genießen bei eigenem Ballbesitz offensive Freiheiten. Der Rest hält so lange seine Position, bis der Ball vorne in aussichtsreicher Position von einem der drei gesichert wurde und rückt erst dann nach.
In München: Pressing der anderen Art
Gegen 1899: Holtby zwischen den Linien
Gegen 1899: Präsenz im Zentrum und Druck in die Tiefe
Mainz 05 - 1899 Hoffenheim
Trotz des Sieges bei den Bayern wechselte Tuchel seine Startelf auf zwei Positionen: Schürrle und Zabavnik rutschten für Caligiuri und Bungert ins Team. Während Zabavnik Bungert eins zu eins auf der Verteidigerposition ersetzte, änderte Tuchel mit der Hereinnahme von Schürrle sein System.
Aus dem 4-3-1-2 des Bayern-Spiels wurde ein 4-4-2 mit Karhan und Polanski auf der Doppelsechs sowie Schürrle (links) und Holtby (rechts) auf den offensiven Außenpositionen, um Hoffenheims 4-3-3 besser kontrollieren zu können.
Die Idee: Schürrle sollte bei eigenem Ballbesitz möglichst den linken Flügel halten, dadurch Hoffenheims Rechtsverteidiger Beck binden und ihn zusammen mit dem ständig anlaufenden Fuchs unter Druck setzen, um Beck möglichst wenig Luft für eigene Vorstöße zu lassen.
Gleichzeitig sollte die Hereinnahme von Schürrle verhindern, dass Beck zusammen mit Hoffenheims Rechtsaußen Mlapa Überzahl auf der Außenbahn erzeugt. Auf der Gegenseite sollte Holtby Zabavnik in der Defensive unterstützen, vielmehr allerdings eine von Tuchel ausgemachte Hoffenheimer Schwachstelle aufdecken.
Holtby zwischen den Linien
Mit Salihovic, Luiz Gustavo und Weis setzt 1899-Coach Ralf Rangnick grundsätzlich auf drei Sechser, die einerseits als Impulsgeber der eigenen Offensive agieren, andererseits im Verbund für die defensive Stabilität verantwortlich sind und in erster Linie das Zentrum schließen sollen.
Wenngleich Salihovic (links) bzw. Weis (rechts) bei gegnerischem Ballbesitz auf dem Flügel Druck auf den ballführenden Spieler ausüben sollen, sind auf der ballfernen Seite Außenverteidiger (Eichner/Beck) und Außenstürmer (Ba/Mlapa) für die Kontrolle der Außenbahn zuständig, weil die Mittelfeldsechser im Verbund ballseitig verschieben.
Diesen andauernden Aufgabenwechsel in der Hoffenheimer Defensive wollte Tuchel durch Holtby nutzen. Der Auftrag für den U-21-Nationalspieler: Holtby sollte vom rechten Flügel immer wieder einlaufen - parallel zur Viererkette und im Rücken der Dreier-Mittelfeldreihe - und damit in dem Raum auftauchen, den kein Hoffenheimer besetzte. Weder ein Innenverteidiger, noch Linksverteidiger Eichner, der die Außenbahn halten musste oder einer der defensiven Mittelfeldspieler, die gegen den Ball arbeiteten.
So verschaffte sich Holtby im gefährlichen Raum zentral vor dem Hoffenheimer Tor immer wieder Freiheiten, entzog sich dem unmittelbaren Zugriff eines Gegenspielers und diente vor allem bei schnellen Ballgewinnen als Anspielstation und Passgeber. Mustergültig ausgeführt beim 1:0 durch Allagui. (siehe Bild 1 bis 5)
In München: Pressing der anderen Art
In München: defensive und offensive Besonderheiten
Gegen 1899: Präsenz im Zentrum und Druck in die Tiefe
Nach einer guten Anfangsviertelstunde gab Mainz das Spiel allerdings aus der Hand. Hoffenheim diktierte die Partie und glich kurz vor der Halbzeit aus. Zur Pause reagierte Tuchel deshalb mit einer erneuten Systemänderung, stellte im Mittelfeld auf Raute um und zog Holtby hinter die Spitzen.
Grund eins: Präsenz im Zentrum
Zwar setzte Mainz in Halbzeit eins durch Holtbys Spiel zwischen den Linien offensive Akzente, ohne aber die Partie zu kontrollieren. Stattdessen erarbeitete sich Hoffenheim ein Übergewicht, weil die Gäste die Zentrale beherrschten.
Denn: Dadurch, dass Schürrle und Holtby in der Defensivarbeit auf der Außenbahn gebunden waren, sahen sich die beiden Sechser Karhan und Polanski ständig dem Hoffenheimer Dreier-Mittelfeld gegenüber, das zudem noch durch Ba unterstützt wurde, der sich häufig aus dem Sturm zurückfallen ließ. Diese zahlenmäßige Überlegenheit verschaffte vor allem Luiz Gustavo als freiem Mann viele Räume, die unter anderem zur Vorbereitung des 1:1 nutzte.
Durch die Umstellung auf Raute nahm Tuchel den Gästen diesen Vorteil. Gustavo war in der Folge durch den zentral-offensiven Holtby defensiv gebunden und Polanski nahm als alleiniger Sechser Ba auf, sobald er sich zurückfallen ließ. Die Hoffenheimer Dominanz im Zentrum war dahin, zumal Holtby im offensiven Mittelfeld den Spielaufbau durch die Mitte frühzeitiger stören konnte.(siehe Bild 1 bis 3)
Grund zwei: Druck in die Tiefe
Durch seine Umstellung wollte Tuchel allerdings nicht nur mehr zentrale Kompaktheit in der Rückwärtsbewegung herstellen, sondern gleichzeitig auch das eigene Offensiv-Spiel um eine in den Partien zuvor außerordentliche Mainzer Stärke erweitern: Das Spiel in die Tiefe.
In Halbzeit eins agierten Szalai, vor allem aber Allagui in der Sturmspitze mehr als Wandspieler, die dem Ball entgegen gingen, ihn hielten oder direkt wieder prallen ließen. Allagui verteilte in seinen 56 Minuten Einsatzzeit mit zwei Ausnahmen alle Pässe vom Hoffenheimer Tor weg.
Dadurch, dass Holtby nach der Pause im offensiven Mittelfeld als zentrale Anspielstation agierte, waren Allagui (später Schürrle) und Szalai der Aufgabe, Bälle mit dem Rücken zum Tor festzumachen, weitgehend entbunden und konnten stattdessen den Weg in die Tiefe suchen oder den jeweiligen Innenverteidiger nach außen locken, um eine Lücke für Holtby zu reißen. (siehe Bild 4 bis 6)
Zweiter positiver Aspekt für die Offensive der Mainzer durch die Umstellung auf Raute: eine höhere Ballzirkulation in der Zentrale (fast doppelt so viele erfolgreiche Passfolgen als in der ersten Halbzeit) und die damit verbundene Möglichkeit, den Spielrhythmus bei Bedarf zu variieren.
In München: Pressing der anderen Art