Timo Hildebrand holte 2007 mit dem VfB Stuttgart die deutsche Meisterschaft. Zwölf Jahre später müssen die Schwaben in der Relegation gegen Union Berlin (20.30 Uhr im LIVETICKER) den zweiten Abstieg innerhalb von nur drei Jahren verhindern. Im Interview mit SPOX und Goal spricht Hildebrand über die Abwärtsspirale des VfB seit dem letzten Titel und erklärt, wie er wieder näher an den Verein heranrücken möchte.
Außerdem lobt der 40-Jährige die Arbeit von Sportvorstand Thomas Hitzlsperger und verteidigt den unter Beschuss stehenden Präsidenten Wolfgang Dietrich.
Herr Hildebrand, Sie mussten sich kürzlich einer Hüft-Operation unterziehen, daher die wichtigste Frage: Wie geht's?
Timo Hildebrand: Danke, die OP ist jetzt zweieinhalb Wochen her und ich fühle mich ganz gut. Vor vier Jahren hatte ich auf der rechten Seite bereits ein sogenanntes Hüft-Impingement, eine Art Einklemmung. Eine Karriere fordert dem Körper eben viel ab. Seit ein paar Tagen bin ich die Krücken los und befinde mich jetzt in der Reha. Es wird noch ein paar Monate dauern, aber durch Yoga und eine gute Ernährung habe ich gute Voraussetzungen, dass mein Körper schneller heilt. Yoga ist neben dem Fußball meine zweite große Leidenschaft geworden, ich habe sogar schon ein Yoga-Festival veranstaltet. Ich habe das schon während meiner Karriere für mich entdeckt. Ich fühle mich danach top.
Wie viele Schmerzen bereitet Ihnen denn die Saison des VfB?
Hildebrand: Mental sehr viele. (lacht) Ich habe nach der herausragenden Rückrunde in der Vorsaison natürlich wie alle auch gehofft und geglaubt, dass sich der VfB stabilisieren kann. Ein 12. oder 13. Platz ohne Abstiegssorgen wäre ja vollkommen okay gewesen. Aber es hat sich dann mit dem Pokalaus und dem schlechten Start früh abgezeichnet, dass es eine sehr enge Saison wird. Dennoch hatte ich die Hoffnung, dass es nach der Winterpause mit ein paar neuen Spielern aufwärts geht. Aber das ist auch überhaupt nicht passiert, wie wir alle gesehen haben. Es ist schade, wie es gelaufen ist. Ich hoffe jetzt einfach, dass der VfB die Relegation übersteht.
gettyHildebrand über das Relegations-Hinspiel: "Die Unterstützung der Fans ist Wahnsinn"
Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die Relegation gegen Union Berlin?
Hildebrand: Ich denke schon, dass vorsichtiger Optimismus herrscht. Gleichzeitig geht aber natürlich auch ein wenig die Angst um, da spielen alle Gefühle mit rein aktuell. Ich spüre aber seit dem Trainerwechsel eine viel bessere Energie in der Mannschaft. Von der ersten Minute im Spiel gegen Gladbach an war das ein ganz anderes Auftreten. Zur Wahrheit gehört auch, dass keiner weiß, wie es gelaufen wäre, wenn Gladbach in Führung geht, als drei Mann blank auf Ron-Robert Zieler zugelaufen sind, aber da hatte der VfB für einmal auch das nötige Spielglück auf seiner Seite. Insgesamt ist die Körpersprache eine ganz andere geworden. Das Spiel in Berlin war zwar zwischendurch wieder eine Art Rückfall und es ist sicher kein Weltklasse-Fußball, aber den kann man auch nicht erwarten. Was man erwarten kann, sind die Grundtugenden. Und die bringen sie jetzt auf den Platz. Deshalb hoffe ich sehr, dass sie es mit dieser Leidenschaft jetzt auch packen. Aber in zwei Spielen kann alles passieren, wie wir in den letzten Wochen gesehen haben.
Wie wichtig wird es sein, dass der VfB im Hinspiel schon viel klarmacht, bevor es auswärts an der Alten Försterei brenzlig werden könnte?
Hildebrand: Der VfB ist zwar sicherlich auch in der Lage, auswärts ein oder zwei Tore zu erzielen, aber er sollte alles dafür tun, die Weichen früh zu stellen und das Hinspiel klar zu gewinnen. Jeder weiß, wie stabil Union gerade zuhause ist, da wird in einem Relegations-Rückspiel eine ganz besondere Atmosphäre herrschen. Jetzt hat der VfB 60.000 Fans im Rücken, das muss genutzt werden. Die Unterstützung der Fans ist wirklich Wahnsinn, die Karten waren ja innerhalb von wenigen Stunden alle weg. Ich musste mir auch noch schnell welche besorgen. (lacht) Ich denke, dass Daniel Didavi ein entscheidender Faktor werden könnte, generell ist aber auch klar, dass der VfB diese Spiele nur mit einer guten mannschaftlichen Geschlossenheit gewinnen kann. Anders wird es nicht gehen.
Nico Willig ist der dritte Trainer in dieser Saison, der Sportvorstand wurde getauscht, der Präsident steht unter Beschuss und ein junger und teurer Neuzugang wie Pablo Maffeo stand zunächst quer und jetzt neben dem Stall.
Hildebrand: Es ist brutal viel zusammengekommen in dieser Saison. Und wenig davon war gut. Wenn du einen Spieler in deiner Truppe hast, der gar nicht funktioniert und vielleicht noch schlechte Stimmung verbreitet, dann kannst du das in einem total funktionierenden Team mit der nötigen individuellen Klasse irgendwie auffangen, aber eine Mannschaft wie der VfB muss homogen sein. Es muss eine gute Stimmung da sein. Sonst herrscht zu viel Unruhe.
Hildebrand über Mario Gomez: "Beeindruckend, wie er sich unterordnet"
Hatten Sie mal einen Spieler im Team, bei dem es ansatzweise ähnlich war?
Hildebrand: Ich erinnere mich eigentlich nur an Danijel Ljuboja, der damals seinen Vertrag verlängerte und dachte, brutto wäre netto. (lacht) Danach war er unzufrieden, wurde strafversetzt und dann auch direkt zum HSV ausgeliehen.
Ein Spieler, mit dem Sie 2007 zusammen Meister geworden sind und der auch persönlich eine ganz schwierige Saison erlebt, ist Mario Gomez. Wie sehen Sie ihn?
Hildebrand: Ich finde es sehr beeindruckend, wie Mario mit seiner Situation umgeht und sich dem Teamerfolg unterordnet. Er könnte auch sagen: Ich bin Mario Gomez, ich muss von Anfang an spielen. Aber stattdessen bringt er sich, auch wenn er mal auf der Bank sitzt, als Führungspersönlichkeit voll und ganz ein. Das zeigt einfach, wie sehr er den VfB im Herzen trägt, und ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Ihm geht die Saison auch sehr nahe. Das merkt man.
Wie sehr leiden Sie als Keeper mit Ron-Robert Zieler?
Hildebrand: Er erlebt eine total undankbare Saison. In der Rückrunde hat er extrem stabil gehalten und gute Leistungen gezeigt, aber wenn du trotzdem so viele Tore bekommst, hast du auch als Keeper nie Argumente und kannst nicht großartig glänzen. Aber er macht einen guten Job.
Was ist aus Ihrer Sicht das Wichtigste, was Nico Willig in seiner kurzen Zeit im Amt dem Team mitgeben konnte?
Hildebrand: Es ist eine Mischung aus psychologischer und taktischer Arbeit. Sie haben natürlich taktisch einiges verändert und dem Team eine viel mutigere Ausrichtung gegeben, aber vor allem haben sie es als Trainerteam geschafft, die Köpfe der Jungs zu erreichen. Das ist einfach so brutal wichtig. Nico Willig nimmt sowohl seine Spieler als auch die Fans mit. Unter Markus Weinzierl war vorher überhaupt keine Harmonie mehr vorhanden. Wenn das der Fall ist, wird es extrem schwierig. Ich habe das selbst erlebt, die Zeit unter Giovanni Trapattoni fällt mir da ein. Wenn es zwischen Team und Trainer nicht funkt, kannst du nicht viel machen. Das ist für Außenstehende manchmal schwer zu verstehen, aber die zwei wichtigsten Personalien in jedem Klub sind der Sportvorstand und der Trainer. Diese Entscheidungen müssen sitzen.
gettyHildebrand: "Walter-Entscheidung mutig und richtig gut"
Auf der Trainerbank wird in der neuen Saison mit Tim Walter ein spannender Coach sitzen. Was halten Sie von der Entscheidung?
Hildebrand: Ich halte sie für mutig und richtig gut. Walter ist jemand mit einer total interessanten Vita und vor allem jemand, der mutig nach vorne spielen will mit seinen Teams. Der VfB braucht auf dieser Position vor allem eines: Kontinuität. Das wünsche ich dem neuen Trainer, aber eben auch dem Verein. Mir gefällt die Entscheidung sehr gut.
Sollte der Worst Case eines erneuten Abstiegs eintreten: Wäre er diesmal nicht mehr so "leicht" zu reparieren wie vor ein paar Jahren?
Hildebrand: Das glaube ich, ja. Die Abstiegsmannschaft vor einigen Jahren war aus meiner Sicht gefestigter und hatte einen anderen Spirit. Ginge es jetzt runter, würde es wohl einen großen Umbruch geben. Ein Wiederaufstieg ist kein Selbstläufer und der VfB ist überhaupt keine Fahrstuhlmannschaft. Ein erneuter Abstieg wäre unfassbar bitter. Der VfB muss drinbleiben und sich dann mit einer Stabilität auf den entscheidenden Positionen wieder eine Identität erarbeiten. Bei allem Anspruch, den man haben sollte, ist jetzt erstmal Demut angesagt. Noch so ein Jahr wird den Fans auch schwer zu verkaufen sein. Man hat auch die wachsende Unzufriedenheit gespürt, die auch vollkommen verständlich ist.
Seit der Meisterschaft 2007 ging es im Prinzip nur noch bergab, selbst vor dem Abstieg wurde die Jahre davor bereits mehrfach um ihn gebettelt, ehe es passierte. An welchem Zeitpunkt ist die Entwicklung so kolossal in die falsche Richtung gegangen?
Hildebrand: Es ist schwer, einen Zeitpunkt auszumachen, weil jede Saison immer wieder ihre eigene Geschichte geschrieben hat. Aber natürlich steht über allem, dass es der VfB einfach nicht mehr geschafft hat, auf der Trainer- und der Manager-Position auch nur im Ansatz Kontinuität reinzubringen. Es ist immer ein gutes Zeichen für einen Verein, wenn ein Trainer mal drei, vier Jahre im Amt ist und ein Manager vielleicht sogar fünf, sechs, sieben Jahre den Verein führt. Das hat der VfB nicht geschafft. Ich bin sicher, dass alle handelnden Personen immer versucht haben, die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen, aber sie haben nicht gefruchtet, das weiß der VfB selbst am besten. Wenn wir über 2007 sprechen: In unserem Meisterjahr ist Gladbach abgestiegen. Wo steht Gladbach jetzt? Und wo steht der VfB? Es ist traurig zu sehen, dass ein Verein wie Gladbach, der sicher keine besseren Voraussetzungen hat, jetzt so weit weg ist.
Hildebrand: "Hitzlsperger ist ein totaler Teamplayer"
Der letzte Knackpunkt war ohne Zweifel die umstrittene Entlassung von Jan Schindelmeiser, als der VfB auf einem guten Weg schien.
Hildebrand: Fußball ist ein Business, bei dem es auch um Macht, Ego und viel Geld geht. Wenn es im Innenverhältnis zwischen den Verantwortlichen nicht passt, gibt es keine Lösung. Dann muss man sich trennen. Und dann lieber gleich. Deshalb sage ich auch, dass Thomas Hitzlsperger Weinzierl als erste Amtshandlung hätte entlassen müssen. Es hat nicht gepasst, das war offensichtlich. Gleichzeitig ehrt es ihn total, dass er das eben nicht machen wollte. Es war eine sehr undankbare Situation für ihn. Insgesamt macht er einen fantastischen Job. Er ist authentisch, hochprofessionell und lässt seinen Worten Taten folgen.
Auch mit ihm sind Sie zusammen Meister geworden. Sie kennen ihn gut und sind nicht überrascht, oder?
Hildebrand: Nein, gar nicht. Er war schon immer ein smarter und sehr eloquenter Typ, der über den Tellerrand hinausgeschaut hat und von allen hoch angesehen wurde. Mir war auch immer klar, dass er seinen Weg machen wird. Er hat es als TV-Experte super gemacht und sich auch beim VfB Schritt für Schritt hochgearbeitet. Das Wichtigste für mich ist, dass er ein totaler Teamplayer ist. Er hat gesagt, dass er sich kompetente und starke Leute dazuholen will. Leute, die auch mal anderer Meinung sein dürfen. Genau das macht er und genau das macht einen guten Chef für mich aus, egal in welcher Branche. Ich hoffe, dass er den Posten jetzt auch lange bekleidet.
Sie haben vor einiger Zeit geäußert, dass Sie wieder näher an den VfB heranrücken möchten. Wie ist der Wunsch entstanden?
Hildebrand: Der VfB ist mein Herzensverein. Meine fußballerische Liebe. Ich habe in Stuttgart mehr Zeit verbracht als zuhause, es ist meine Heimat geworden. Die Meisterschaft ist und bleibt das Highlight meiner Karriere. Ich begleite seit längerem eine Art Botschafter-Rolle und als ich hörte, dass ein Platz im Präsidium vakant ist, habe ich mich dem Vereinsbeirat vorgestellt. Daraus hat sich jetzt ergeben, dass ich mich im Nachwuchsbereich einbringen werde.
Für das freie Amt im Präsidium wurden zwei andere Kandidaten vorgeschlagen. War das nicht enttäuschend?
Hildebrand: Nein, gar nicht. Mir geht es nicht um irgendein Amt. Mir geht es darum, dass ich den Verein gerne mit meinem Wissen und meiner Erfahrung unterstützen will, in welcher Form auch immer. Dazu kommt, dass der Sitz im Präsidium teilweise auch etwas zu hoch gehängt wird. Die Themen dort sind vor allem die U11 bis zur U15 und die anderen Abteilungen wie Leichtathletik oder Tischtennis. Natürlich ist es schön, dort drin zu sitzen, aber ich hatte ein gutes Gespräch mit dem Präsidenten und wir sind zu dem Entschluss gekommen, wenn, dass ich mich im Nachwuchsbereich engagieren soll. Wie diese Aufgabe genau aussieht, haben wir noch nicht geklärt. Jetzt stehen sowieso erstmal wichtigere Dinge an.
Hildebrand über den Erfolg der U19
Könnten Sie sich auch vorstellen, ganz ins Fußballgeschäft zurückzukehren?
Hildebrand: Auf jeden Fall. Im Moment genieße ich es zwar, frei zu sein, aber wenn man mit Leib und Seele dem Fußball verbunden ist, zieht es einen immer wieder dorthin zurück. Ich kann mir schon vorstellen, im Management eines Klubs zu arbeiten. Aktuell begleite ich ja sehr viele unterschiedliche Projekte.
Wenn wir über den Nachwuchs beim VfB sprechen, müssen wir über die A-Jugend sprechen, die am Montag ins Finale um die Deutsche Meisterschaft eingezogen ist und sogar das Double holen könnte. Warum hat es der VfB so versäumt, auf die eigene Jugend zu setzen?
Hildebrand: Generell ist es schön und wichtig, dass die A-Jugend nach längerer Zeit mal wieder im Finale steht. Für diese Jungs ist es immer einfacher, nach oben zu kommen, wenn es dort eine funktionierende Truppe gibt. Wenn sie oben die Kohlen aus dem Feuer holen sollen, ist der Schritt schwer, sich einzugliedern oder eine Chance zu erhalten. Der VfB hat sehr viel Konkurrenz im Jugendbereich dazu bekommen. Die anderen Vereine schlafen nicht. Dennoch ist die Jugendarbeit beim VfB immer noch ein Aushängeschild. Es ist wichtig, eine Durchlässigkeit zu generieren, so dass man immer wieder Jugendspieler an den Profikader heranführt und, wenn es auch mal sein muss, hohe Transfererlöse erzielt.
Wie katastrophal ist es aber dann, dass die 2. Mannschaft aus der Regionalliga abgestiegen ist. Was macht der VfB mit Jungs wie Leon Dajaku oder Luca Mack? Oberliga-Spiele in Ilshofen oder Oberachern sind bei allem Respekt kaum das Sprungbrett, das sie brauchen.
Hildebrand: Die ganze Situation um die 2. Mannschaft, der Fakt, dass Michael Reschke sie schon abschaffen wollte, passt leider in die negative Gesamtentwicklung der letzten Jahre. Die 2. Mannschaft ist extrem wichtig als Zwischenstation. Ich denke da zum Beispiel auch an den dritten Torwart, der ja eigentlich immer ein junger ist, der Spielpraxis braucht. Regionalliga-Niveau wäre dafür aber das Minimum. Deswegen gilt es, hier wieder eine Priorität zu setzen, damit man einen guten Unterbau der Profiabteilung hat.
Hildebrand über den VfB-Präsidenten: "Dietrich ist ein Macher"
Präsident Wolfgang Dietrich ist die Zielscheibe Nummer eins geworden in Stuttgart. Wie sehr kann das zum Problem werden?
Hildebrand: Wolfgang Dietrich ist für mich ein Macher. Ein Entscheider und vor allem Umsetzer. Er geht auch mal einen unangenehmen Weg, der nicht jedem gefällt. Er hat viele Dinge verändert und angepackt. Mir hat das sehr imponiert. Natürlich schlägt sich die sportliche Talfahrt auch auf ihn nieder und aufgrund seiner Vergangenheit ist er leider Zielscheibe vieler im Umfeld.
Aber an der Kritik wird sich auch nach einem erfolgreichen Klassenerhalt und einem möglichen guten Saisonstart in der neuen Spielzeit nichts ändern.
Hildebrand: Wir werden sehen, was die Mitgliederversammlung im Juli bringt. Der Verein kommt aus dieser Misere nur mit Ruhe und Kontinuität - und wenn alle an einem Strang ziehen.