Walter Notter ist der dienstälteste Zeugwart der Bundesliga. In 27 Jahren Mainz 05 sah er 20 Trainer kommen und gehen, unter anderem Jürgen Klopp und Thomas Tuchel. Im Interview spricht der 55-Jährige über einen Job, der nur mit Herzblut zu bewerkstelligen ist, Giulio Donatis Unterhose und unselbständige Profifußballer.
SPOX: Herr Notter, ein Spiel dauert 90 Minuten, heißt es im Fußball so schön. Das gilt für einen Zeugwart nicht unbedingt, oder?
Walter Notter: Schön wär's! (lacht) Die Vorbereitung auf das Spiel beginnt eigentlich schon unter der Woche. Waschen, zusammenlegen, verpacken: Ich muss schauen, dass ich bloß nichts vergesse, was die Spieler am Spieltag brauchen könnten. Neben der Verpflegung und Bällen, Stangen und Hütchen sind das unter anderem Trainingsanzüge, Warmmachsachen, Trikotsätze, Schuhe, Schienbeinschoner, Kleidung zum Auslaufen - um nur einiges zu nennen. Im Winter gehören natürlich auch Jacken, Handschuhe, Schals und Mützen dazu. Und all das muss nach dem Spiel wieder zusammengepackt, zum Trainingsgelände gebracht und vorgewaschen werden. Ein Arbeitstag beim Heimspiel hat so schon mal 14 oder 15 Stunden.
SPOX: Das klingt, als seien Sie der perfekte Hausmann.
Notter: Das mag man meinen. Ehrlicherweise mache ich privat nicht jeden Tag die Wäsche, da ich regelmäßig so spät nach Hause komme. Da schmeißt man seine Sachen auch mal auf die Couch und denkt: "Lass' mal gut sein." (lacht) Da ich ledig bin, gibt es zuhause auch leider keine Arbeitsteilung.
Notter: Es ist extrem schwierig, man ist nie zuhause. Ich bin am Wochenende immer weg, an Feiertagen meistens auch. Das lässt keine Zeit für Zweisamkeit. Stellenweise sieht man seine Wohnung nur fünf oder sechs Stunden in der Woche.
SPOX: Die Kehrseite der Medaille ... Schließlich klingt es für Tausende ziemlich cool, täglich mit den Profis eines Bundesligisten zu arbeiten.
Notter: Das ist es auch, sonst würde ich es gar nicht machen. So ein Beruf ist nur mit einer ganzen Menge Herzblut zu bewerkstelligen. Es muss dir bewusst sein, dass du dafür sehr viel entbehren musst. Wenn andere am Wochenende ins Kino, in die Disko oder auf den Weihnachtsmarkt gehen, bist du in der Kabine oder im Waschraum. So etwas kommt für dich nicht infrage und natürlich ist das schwierig zu handeln. Ich werde auch etwas wehmütig, wenn mir jemand sagt, wie toll es doch ist, dass ich mit den Nullfünfern überall hinkomme, zum Beispiel nach Anderlecht, St. Etienne oder ins Trainingslager nach Spanien. Denn es klingt zwar alles schön, aber du siehst von alledem nichts. Du siehst das Hotel, den Trainingsplatz und das Stadion.
SPOX: Konnten Sie sich in dieser Saison deshalb nur bedingt über den Einzug in die Europa League freuen?
Notter: Sicherlich ist der Aufwand noch einmal größer als zuvor. Die Anzahl der Wäscheberge ist dadurch noch einmal deutlich gestiegen. Bei Europa-League-Auswärtsspielen um 21 Uhr kam es vor, dass man trotz sofortiger Rückreise nach dem Spiel erst am nächsten Abend wieder in Mainz ankam, direkt auspacken musste und in der Nacht noch die Ladung für das Bundesliga-Spiel vorbereiten musste. Wehe dem, dass ich da mal Equipment aus der Europa League mit dem für die Bundesliga vermische. Dann gibt es Ärger. Gedanklich muss man ziemlich auf der Höhe sein.
SPOX: Reizt es einen da nach 27 Jahren nicht, irgendwann noch einmal etwas anderes zu machen?
Notter: Ich denke, die Zeit, über etwas Neues nachzudenken, ist abgelaufen. Ein bisschen müde bin ich von den Arbeitsstrapazen zwar schon geworden, aber ich mache es nach wie vorne gern.
SPOX: Haben Sie nach all der Zeit mittlerweile nicht schon alles gehört und gesehen?
Notter: Oh nein, im Geschäft Fußball lernt man nie aus. Man hat ständig mit neuen Leuten und anderen Charakteren zu tun. Jeder Spieler und Trainer tickt anders - ob das nun die Einstellung zur Arbeit oder einfach die Anzahl der Schuhe betrifft.
SPOX: Aristide Bancé werden Sie dahingehend nie vergessen.
Notter: Das stimmt. (lacht) Aristide war der Wahnsinn! Ich brauchte eine Kiste für ihn allein, er hatte einen unglaublichen Schuhfimmel. Er konnte sich nie entscheiden, in welchen Schuhen er spielt. Aber was willst du machen? Dann nimmst du sie eben alle mit.
SPOX: So viel Wert auf ihre Treter legen aber sicher nicht alle Spieler.
Notter: Es gibt solche und solche. Für manch einen ist der Schuh das Heiligtum auf dem Platz, für andere ist das nicht so wichtig. Im aktuellen Team sticht in Sachen Schuhwerk aber niemand besonders heraus.
SPOX: Was bei der Vielfalt an bunten Schuhen heutzutage wohl auch schwierig ist.
Notter: Die Hersteller produzieren in den verrücktesten Farben: knallgelb, knallrot, silbern oder grün. Das war früher noch anders. Wobei der Wunsch der Spieler auch wieder vermehrt zu schwarzen Schuhen geht. Es darf wieder etwas schlichter sein.
SPOX: Sie pflegen die Schuhe der Spieler und dehnen sie sogar passgenau in Länge und Breite - das Privileg eines Profis?
Notter: Das muss man ein bisschen relativieren, denn um die Pflege kümmere ich mich nur am Spieltag. Ansonsten legt der Trainer zum Glück großen Wert darauf, dass die Spieler für ihre Schuhe selbst verantwortlich sind. Mainzer Trainer haben immer gesagt, dass die Schuhe das Handwerkszeug der Spieler sind. Sonst wird alles für sie erledigt, aber wenigstens um die Schuhe sollten sie sich immer selbst kümmern. Ein bisschen Eigenverantwortung finde ich deshalb auch gut. Sonst verlernt man viele Dinge.
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SPOX: Sind Spieler heutzutage denn viel verwöhnter als noch vor zehn oder 15 Jahren?
Notter: Verwöhnt klingt so negativ. Sicherlich gibt es den einen oder anderen Spieler, der etwas bequemer ist. Es ist aber mitnichten so, dass man ihnen die Schuhe binden oder sie füttern muss. Worauf ich eher achten muss, ist dass ich Sonderwünsche einzelner Spieler nicht vergesse.
SPOX: Haben Sie ein Beispiel?
Notter: Giulio Donati ist ein bisschen abergläubig. Er spielt nur in einer bestimmten Unterhose. Normalerweise tragen die Spieler eine Radlerhose drunter - entsprechend der Farbe der Spielkleidung. Giulio spielt aber nur mit seiner Unterhose, er mag keine Radler. (lacht) Zum Glück habe ich noch nie vergessen, sie einzupacken.
SPOX: Sind Sie es eigentlich auch, der am Wochenende festlegt, in welcher Trikotfarbe Mainz aufläuft?
Notter: Genau, das entscheide ich. Zuhause stellt sich die Frage sowieso nur selten. Bei Heimrecht spielen wir fast immer in Rot. Auswärts müssen wir uns nach dem Gegner richten. Ich erhalte eine Mail, in der die Trikotfarbe der anderen Mannschaft angegeben ist, und gebe dann unseren Vorschlag mitsamt einer Ausweichmöglichkeit an. Das kann sehr kompliziert werden.
SPOX: Inwiefern?
Notter: Zum einen gehen gewisse Farbkombinationen per se nicht. Wir dürfen beispielsweise nicht in roten Trikots gegen grüne Bremer spielen, da das für Zuschauer mit einer Farbschwäche nicht erkennbar ist. Kommende Woche spielen wir in Frankfurt. Die haben mittlerweile weiß-schwarze Hemden, weiße Hosen und roten Stutzen. Da ist es mit unserer Kombination extrem schwierig, den Schiedsrichtern und dem Fernsehen gerecht zu werden.
SPOX: Das heißt, das machen die Vereine nicht nur unter sich aus?
Notter: In Deutschland ist es etwas komplizierter als beispielsweise in der Europa League. Da gibt man schon im Vorfeld des Wettbewerbs alle Kombinationsmöglichkeiten seiner Trikots an. Vor dem jeweiligen Spiel sendet einem die UEFA dann eine Mail zu, in der vorgegeben ist, in welchen Farben wir spielen müssen. In der Bundesliga ist das nicht so einfach, hier sind die Entscheidungen spontaner und von mehr Faktoren abhängig. Wir müssen manchmal alle drei Trikotsätze mitnehmen, um uns vor Ort noch einmal abzustimmen.
SPOX: Wobei Sie auch noch mehr Transportgut gewöhnt sind. Stichwort Trainingslager.
Notter: Trainingslager sind ein Graus! (lacht) Für jeden Zeugwart ist das wie ein Komplett-Umzug. Alles, was an Trainingsmaterialen und -kleidung hier in Mainz ist, muss mit ins Ausland. spox
SPOX: Das passt vermutlich gar nicht alles in den Flieger?
Notter: Nein, wir nehmen uns immer einen Transporter und stopfen den Mannschaftsbus voll. Insgesamt sind das bis zu zwei Tonnen Material. Ich fahre immer schon zwei oder drei Tage vorher los und habe dann einen schönen Roadtrip. Das ist die Zeit, in der ich auch mal Landschaften zu sehen bekomme. Da fühlt man sich frei, bevor man dann wieder in die Rund-um-die-Uhr-Arbeit mit der Mannschaft einsteigt.
SPOX: Wie gut lernen Sie die Spieler dabei wirklich kennen?
Notter: Das hängt natürlich ganz vom Spieler ab. Es gibt einige, in die man nicht so reinschauen kann. Vom größten Teil des Kaders kennt man aber die Macken und weiß, wie man sie anzusprechen hat. Zu manchen baut man einen besonderen Bezug auf. Das war bei Dimo Wache, Christian Hock oder Torsten Lieberknecht so, aber auch bei den "Bruchweg-Boys" um Andre Schürrle, Lewis Holtby, Marcel Risse und Adam Szalai. Zu solchen Jungs entwickelt man einen besonderen Draht. Man muss aber aufpassen, nicht zwischen zwei Fronten zu geraten.
SPOX: Passiert es denn häufig, dass ein Spieler mit Themen auf Sie zukommt, die er dem Trainer beispielsweise nicht anvertrauen möchte?
Notter: Sicher ist meine Arbeit auch ein Vertrauensjob. Man hört viel, in der Kabine wird viel geredet. Das Meiste davon darf natürlich nicht nach Außen gelangen. Aber das hat auch abgenommen. Früher sind die Spieler viel häufiger auf den Zeugwart zugekommen. Heute sind sie deutlich professioneller, sie lassen nur wenig an sich heran und geben noch weniger von sich selbst preis. Früher haben Spieler öfter das Gespräch gesucht, wenn es ihnen nicht gut ging, und auch das Private wurde viel häufiger thematisiert. Das höre ich in unserer jetzigen Mannschaft kaum noch.
SPOX: Ist Ihre Beziehung zu den Spielern aber dennoch intensiver als die Beziehung Trainer-Zeugwart?
Notter: Das kann man schon sagen, wobei ich mich mit allen Trainern bisher wirklich gut verstanden habe.
SPOX: Es waren schon 20 verschiedene während Ihrer Zeit bei Mainz 05!
Notter: Schon so viele? (lacht)
SPOX: Ganz offenbar! Wie besonders war unter all denen eigentlich Jürgen Klopp für Sie? Er war über sieben Jahre Chefcoach ...
Notter: ... und vorher habe ich ihn als Spieler schon kennengelernt. Kloppo war für jeden im Verein eine besondere Person. Er hat sich in seiner Art nie verändert und kann mit Menschen sehr gut umgehen. Mit Jürgen hatte ich ein extrem gutes Verhältnis. Er kam immer mal und hat mir auf die Schulter geklopft und hat gemerkt, wenn es mir selbst mal nicht so gut ging.
SPOX: Gab es einen besonders einprägsamen Moment mit ihm?
Notter: Nein, Jürgen ist einfach Jürgen. (lacht) Er ist auf jede Art und Weise besonders und deshalb so schwierig zu beschreiben.
SPOX: Und deshalb auch nicht mit einem etwas analytischeren Thomas Tuchel vergleichbar?
Notter: In Sachen Emotionalität schenken sich die beiden nichts! Da ist der Eine genauso verrückt wie der Andere. Dass beide heute weltweit einen so großen Erfolg haben, macht mich als Mainzer und ehemaliger Weggefährte natürlich stolz. Deshalb vermisst man Kloppo oder Thomas auch ab und zu mal - so eine gemeinsame Zeit ist nie abgehakt. Es wäre aber auch schlimm, wenn es anders wäre.
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