Werder Bremens Managerlegende Willi Lemke war zuletzt als Sonderberater bei den Vereinten Nationen tätig. Im Interview mit SPOX spricht der 71-Jährige über seinen weltweiten Einsatz "im Dienste von Entwicklung und Frieden", den "verheerenden Zustand" der FIFA und Frauen im Fußball.
Dann sinniert der frühere Bremer Bildungssenator über die gute alte Zeit bei Werder, Kaffeekränzchen mit den Obamas und denkwürdige Begegnungen mit Willy Brandt.
SPOX: Herr Lemke, vor rund einem Jahr endete Ihre Tätigkeit als Sonderberater für Sport bei den Vereinten Nationen. Genießen Sie seitdem nun endlich ein entspanntes Rentnerdasein?
Willi Lemke: Gott sei Dank ist es gar nicht so entspannt. Ich fühle mich auch überhaupt nicht als Rentner. Aber die ständigen langen Reisen, die man als UN-Sonderberater in andere Länder, andere Klimazonen, andere Zeitzonen macht ... Ich bin wirklich glücklich, dass ich diesen immensen Stress nicht mehr habe. Ich habe weiterhin genug zu tun, schreibe eine wöchentliche Kolumne, halte Vorträge. Aber insgesamt ist es etwas ruhiger, das ist auch gut für meine Familie.
gettySPOX: So einfach lässt Sie dieses Engagement jedoch noch nicht los.
Lemke: Das stimmt. 2012 habe ich in meiner Funktion als UN-Sonderberater ein Youth Leadership Programme für Jugendliche aus Slums oder Flüchtlingslagern ins Leben gerufen. Es gibt dort so viele bettelarme junge Leute, die einen unglaublichen Job für den Breitensport und ihre Nachbarschaft machen. Für diese Jugendlichen wird aber überhaupt nichts getan, kaum eine nationale oder internationale Sportorganisation hat sie im Blick.
SPOX: Von 2008 bis Ende 2016 waren Sie für die Vereinten Nationen in der ganzen Welt unterwegs. Kurz vor Ihrem Amtsantritt als "Sonderberater des UN-Generalsekretärs für Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden" wären sie in Bremen eigentlich gerne Bürgermeister geworden. War es rückblickend ein Glücksfall, dass das nicht geklappt hat?
Lemke: Hundertprozentig. Wenn ich daran denke, wie hart dieser Job gewesen wäre ... gerade im Vergleich zur Arbeit bei den Vereinten Nationen, durch die ich so viel Freude bereiten konnte, so viele großartige Menschen kennenlernen durfte, so viel Elend, aber vor allem viel Positives erlebt habe.
Willi Lemke über die Vereinten Nationen und Gegenkandidat Pele
SPOX: Wie kam es schließlich zu der Idee, aus der Landespolitik zu den Vereinten Nationen zu wechseln?
Lemke: Ich war von 1999 bis 2007 Bildungssenator. Das war die größte Herausforderung in meinem beruflichen Leben, denn als Bildungspolitiker kann man es niemandem recht machen. Dagegen war das Jahr als Senator für Inneres und Sport wie Urlaub. Als dann der Posten des UN-Sonderberaters für Sport neu besetzt werden sollte, bekam ich das Angebot, meinen Hut in den Ring zu werfen. Ich fand das absurd. Was ist schon ein unbedeutender Senator aus Bremen? Ban Ki-moon wusste wahrscheinlich nicht einmal, wo Bremen liegt, geschweige denn, wer dieser Willi Lemke ist. Das musste er bestimmt erst einmal bei Wikipedia nachgucken lassen.
SPOX: Sie hatten in Brasiliens Fußball-Legende Pele auch einen durchaus prominenten Gegenkandidaten.
Lemke: Das weiß ich gar nicht genau. Es gab wohl insgesamt vier Kandidaten, einer davon soll Pele gewesen sein. Er hatte allerdings, wie ich später erfuhr, nicht die Unterstützung der brasilianischen Regierung, nachdem er als Sportminister in Ungnade gefallen war. Bestätigt wurde das alles aber nie und ich weiß auch nicht, ob er überhaupt ernsthaftes Interesse an dem Job hatte. Ich habe auch nie Kontakt zu ihm gehabt, habe ihm nur einmal bei einem Kongress die Hand geschüttelt. Schon das war eine Sensation, er ist ja immer und überall von einer riesigen Menschentraube umringt. (lacht)
SPOX: In der deutschen Öffentlichkeit fand Ihre Arbeit für die Vereinten Nationen nur wenig Beachtung. Bedauern Sie diese fehlende Aufmerksamkeit?
Lemke: Das habe ich schon bei meinem Wechsel vom Fußball in die Bildungspolitik erfahren. Für mich war es damals ein Hammer, dass die Leute eher daran interessiert waren, ob Ailton Durchfall hatte, als an den wirklich wichtigen Problemen unserer Gesellschaft. Insofern wusste ich schon vorher, dass man gerade mit positiven Geschichten aus der Welt nicht viel Interesse weckt. Gute Geschichten sind immer schlechte Geschichten und erhalten nie so viel Aufmerksamkeit wie Skandale. Damit muss man leider leben, sich aber natürlich trotzdem engagieren und versuchen, auch das Positive immer wieder zu erzählen.
Willi Lemkes Auszeichnungen
Jahr | Auszeichnung |
2016 | DFB- und Mercedes Benz Integrationspreis - vom DFB erhalten |
2014 | Ehrenpreis des Deutschen Behindertensportverband |
2011 | Berliner-Friedensuhr-Preis - für seinen Einsatz als UN-Sportbotschafter |
2010 | Bobby Medienpreis - von der Bundesvereinigung Lebenshilfe |
SPOX: Dann haben Sie jetzt die Gelegenheit, etwas Positives zu erzählen. Welches Erlebnis hat Sie während Ihrer Zeit bei den Vereinten Nationen ganz besonders beeindruckt oder berührt?
Lemke: Da gab es so viele, dass es mir immer schwerfällt, einzelne Geschichten auszuwählen. Eine ganz besondere Erfolgsstory stammt aus Uganda. Dort wurde mir ein junger Hilfslehrer aus dem Hochland für unser Youth Leadership Programme der vorgeschlagen. Im Rahmen eines UN-Seminars bekam er, wie alle Teilnehmer, zwei Tischtennisschläger und ein paar Bälle geschenkt. Zwei Wochen später postete er bei Facebook ein Bild, auf dem zwei seiner Schüler an einem uralten Holztisch ohne Netz Ping-Pong spielten. Die Bildunterschrift lautete: 'Hier seht ihr den Nachwuchs der ugandischen Tischtennis-Nationalmannschaft.' Das hat mich so berührt, dass ich der Schule eine richtige Tischtennis-Platte finanziert habe. Davon erfuhr der Internationale Tischtennis-Bund und spendierte noch zwei weitere Tische. Später bekam ich dann die Nachricht, dass in diesem kleinen Dorf die ersten regionalen Meisterschaften ausgetragen wurden. Was sich dort in kürzester Zeit aus einem winzigen Samenkörnchen entwickelt hat, ist einfach unglaublich.
SPOX: Es gab aber sicherlich auch immer wieder Enttäuschungen und Frust.
Lemke: Recht selten. Es kann natürlich sein, dass ich die negativen Dinge verdrängt habe. (lacht) Aber eigentlich wurde ich überall freundlich willkommen geheißen und konnte immer irgendwie helfen, mit Rat und Tat oder mit etwas Geld. Auch mit der Politik habe ich fast nur gute Erfahrungen gemacht. Wladimir Putin hat mich mit seinen sportlichen Fachkenntnissen beispielsweise sehr beeindruckt, sogar in Nordkorea oder im Iran konnte man mit den Funktionären freundlich und respektvoll reden. Natürlich gab es dort teilweise Meinungen, die meinen Ansichten komplett widersprachen. Im Iran war das zum Beispiel das Verbot für Frauen, Fußballstadien zu besuchen. Das war für mich nicht akzeptabel. Aber solche Dinge muss man nicht mit Gewalt oder Ausgrenzung zu ändern versuchen, sondern durch stetigen Dialog.
SPOX: Konnten Sie Ihre Meinungen denn immer frei äußern oder mussten Sie sich als Vertreter der Vereinten Nationen öfters diplomatisch zurückhalten?
Lemke: Nein, das nicht. Die Tatsache, dass der Iran sich weigert, gegen israelische Sportler anzutreten, habe ich gegenüber dem damaligen Sportminister beispielsweise ganz klar angesprochen. Das verstößt gegen jegliche Werte des Sports, die ich vertrete, und schadet letztlich ja auch den iranischen Athleten. Da muss man die Chuzpe haben, das zu äußern. So habe ich es stets gehandhabt und das wünsche ich mir auch von der Politik.
SPOX: Sie haben immer wieder betont, wie wichtig Vorbilder für den positiven gesellschaftlichen Einfluss des Sports sind. In den USA haben zuletzt Protestaktionen in den Profiligen NFL und NBA gegen gesellschaftliche Missstände für Aufruhr gesorgt. Internationale Verbände wie FIFA, UEFA und IOC halten sich dagegen von brisanten Themen fern, kritische Aussagen sind unerwünscht, auch die meisten Sportler schrecken davor zurück. Warum?
Lemke: Verbände scheuen recht häufig, sich in gesellschaftspolitische Probleme einzumischen, weil sie sich zu allererst den sportlichen Belangen verpflichtet fühlen und befürchten, politisch zerrieben zu werden. Die meisten Sportlerinnen und Sportler wissen, dass Ihre Arbeitgeber, die Profivereine, klare öffentliche Stellungnahmen nicht wirklich schätzen, weil sie befürchten, dadurch wirtschaftliche Nachteile zu erfahren. Weder Sportler noch Klubs wollen sich bei Fans und Sponsoren durch kontroverse Aussagen unbeliebt machen. Auch die großen Verbände haben natürlich finanzielle Interessen. FIFA und IOC machen mit den Wettbewerben in China, Russland oder Katar ein gutes Geschäft. Und auch bei einer Kooperation wie der inzwischen gescheiterten Testspielreihe der chinesischen U20-Nationalmannschaft gegen deutsche Regionalligisten spielt das Geld natürlich eine Rolle.
Willi Lemke: "FIFA befindet sich in schwerer Krise"
SPOX: 2015 trat der FIFA-Skandal in seinem vollen Umfang zutage. Der Verband beschwor seine Selbstreinigungskräfte und versprach Aufklärung und Transparenz. Wie beurteilen Sie den bisherigen Reformprozess?
Lemke: Die FIFA befindet sich seit einiger Zeit in einer schweren Krise. Ich wage nicht vorauszusagen, ob es der neuen Führung um Gianni Infantino gelingt, den verheerenden Ruf der FIFA bis zur WM in Katar zu verbessern.
SPOX: Im Juni 2016 übernahm mit Fatma Samoura eine Frau den Posten der FIFA-Generalsekretärin, die nicht aus dem FIFA-Klüngel kommt, sondern zuvor für die Vereinten Nationen arbeitete. Ein gutes Zeichen?
Lemke: Ich hoffe es sehr. Wirklich beurteilen kann ich ihren Einfluss und ihre Arbeit allerdings nicht, da ich sie während meiner Tätigkeit bei den Vereinten Nationen leider nicht persönlich kennengelernt habe.
SPOX: Insgesamt ist der Fußball ein ganz besonders von Männern dominiertes Geschäft. Woran liegt das, fehlt es an kompetenten Frauen?
Lemke: Nein, absolut nicht! Aber man darf bei dem Vergleich nicht vergessen, dass es Frauenfußball erst seit wenigen Jahrzehnten gibt. So gesehen gehe ich davon aus, dass sich das im Laufe der nächsten Zeit stetig verbessern wird.
SPOX: Inzwischen gibt es mit Bibiana Steinhaus die erste Schiedsrichterin in der Bundesliga der Männer. Wie lange wird es noch dauern, bis wir in den europäischen Top-Ligen Trainerinnen, Managerinnen oder Vereinspräsidentinnen sehen?
Lemke: Mit Bibiana Steinhaus ist ein erster wichtiger Schritt vollbracht. Außerdem gibt es bereits viele Vereine im Breitensport, in denen man Physiotherapeutinnen erfolgreich mit Fußballern arbeiten sehen kann. Und ich bin sicher, dass wir schon bald hochqualifizierte Frauen als Managerinnen haben werden. Bis wir eine Frau als Trainerin in der Bundesliga sehen, werden jedoch voraussichtlich noch ein paar Jahre vergehen.
Willi Lemkes Ämter bei Werder Bremen
Beginn | Ende | Amt |
26.10.2014 | 21.11.2016 | Aufsichtsratmitglied |
01.10.2005 | 25.10.2014 | Aufsichtsratvorsitzender |
01.07.1999 | 30.09.2005 | stellvertretender Aufsichtsratvorsitzender |
11.11.1981 | 10.05.1999 | Manager |
Willi Lemke über Werder Bremen, Dr. Franz Böhmert und Otto Rehhagel
SPOX: Kommen wir zu "Ihrem" Verein. Werder Bremen steht in der Bundesliga im Tabellenkeller, das letzte Europapokal-Spiel ist mehr als sieben Jahre her. Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass Werder sich jemals wieder in die Spitzengruppe der größeren, finanzstärkeren Vereine zurückarbeiten kann?
Lemke: Die Hoffnung ist bei mir weiterhin vorhanden. Allerdings ist die Ausgangslage heute viel schwieriger als zu meiner aktiven Zeit. Wenn wir weniger Fehler machen, werden wir aber sicher auch wieder im oberen Tabellendrittel zu finden sein.
SPOX: Der Trainerjob scheint auch in Bremen heutzutage nicht mehr annähernd so sicher zu sein wie zu Ihren Zeiten, als Otto Rehhagel und Thomas Schaaf je 15 Jahre auf der Bank saßen.
Lemke: Dr. Franz Böhmert war als Vereinspräsident der liebenswerte Garant der Erfolge der Achtziger- und Neunzigerjahre, der Vater der "Werder-Familie". Er ließ den handelnden hauptamtlichen Personen freie Hand. Dadurch wurde Otto Rehhagel zum mächtigsten Mann im Verein. Damals galt für uns in der Führung das Motto, die Schwächen eines jeden von uns zu ertragen und die Stärken voll zu nutzen. Das hat formidabel geklappt.
SPOX: Als Werder-Anhänger gehörten auch der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt und seine Ehefrau Brigitte Seebacher-Brandt zum "erweiterten Familienkreis". Sie selbst zählen Brandt zu Ihren größten Vorbildern.
Lemke: Willy Brandt war und ist noch heute ein großes Vorbild für mich. Durch seine konsequente Entspannungspolitik ist es ihm gelungen, den Kalten Krieg zwischen den großen Weltmächten zu bändigen. Den Kniefall von Warschau werde ich niemals vergessen. Nur wenige Monate vor seinem Tod hat seine Frau Brigitte Otto Rehhagel und mich noch einmal zu einem Besuch in sein Haus in Unkel eingeladen. Für uns war es sehr beeindruckend zu erleben, wie er mit uns über die große Politik, aber auch die Fußball-Bundesliga sprach.
gettySPOX: In einem Interview im Jahr 2016 haben Sie den Wunsch geäußert, einmal mit Michelle und Barack Obama Kaffee zu trinken. Haben Sie in Obama auch Eigenschaften von Willy Brandt wiedererkannt?
Lemke: Das Charisma dieser beiden Politiker ist sicher vergleichbar, aber Barack Obama konnte leider viele seiner politischen Ziele nicht durchsetzen.
SPOX: Inzwischen haben sowohl Sie als auch die Obamas etwas weniger Stress ... hat der gemeinsame Kaffee schon geklappt?
Lemke: Nein, es hat nur einen Handschlag in Berlin gegeben. Aber vielleicht wird es irgendwann ja doch noch etwas mit dem Kaffeetrinken.
SPOX: Abgesehen davon: Welche persönlichen Ziele und Träume haben Sie nach dem Ende Ihrer Arbeit im und für den Sport noch im Blick?
Lemke: Ich bin in meinem Leben sehr verwöhnt worden, habe eine wunderbare Familie und nicht nur vier Kinder, sondern inzwischen sogar ein Enkelkind. Aus der ganzen Welt erreichen mich Nachrichten von vielen Menschen, die ich sehr schätze. Da gibt es für mich nur noch den Wunsch, in Demut, Dankbarkeit und vor allem in Frieden noch ein paar Jahre geschenkt zu bekommen.