Moneyball - die Kunst zu gewinnen? - Wie die Oakland Athletics die Sportwelt revolutionierten

Stefan Petri
20. Juni 201911:21
Das "Moneyball-Prinzip" ist aus dem amerikanischen Sport nicht mehr wegzudenkengetty
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Als Billy Beane und die Oakland Athletics in der Saison 2002 plötzlich auf Statistiken, Analysen und ganz neue Methoden setzen, wurde das "Moneyball-Prinzip" geboren. Dahinter steckt die Baseball-Besessenheit eines Mannes, der als Nachtwächter einer Konservenfabrik anfing und die Sportwelt für immer veränderte. Was verbirgt sich hinter "Moneyball" - und worum geht es wirklich?

Hand aufs Herz: Kennen Sie sich im Baseball aus?

Klar, das Grundprinzip sollte den meisten bekannt sein: Ein Werfer, genannt "Pitcher", gegen einen Schlagmann, den "Hitter". Und dann kommt es zum Strikeout, Homerun, oder irgendwas dazwischen.

Aber wissen Sie, was ein "Foul" im Baseball ist? Ein Balk? Die Infield-Fly-Rule, oder ein Double-Play? Und wie sieht es mit Statistiken aus? Wenn Mike Trout, der derzeit wohl beste Spieler der Welt (kannten Sie nicht, oder?), einen Monat mit .302/.390/.591 hinlegt, ist das dann gut oder schlecht? Und was findet man im Baseball-Lexikon unter OPS, WAR oder VORP?

Während die NBA, und das nicht nur dank Dirk Nowitzki, bereits seinen festen Platz in der deutschen Sportlandschaft gefunden hat, und auch das Endspiel im American Football mittlerweile Event-Charakter besitzt, fristet Baseball in Deutschland ein ähnliches Schattendasein wie Rugby oder Cricket. Vielleicht sogar schlimmer. Der eine oder andere Auftritt in Film-Klassikern oder TV-Shows - aber sonst? Wie heißt es bei uns so schön: "Was der Bauer net kennt, frisst er net." Baseball allein lockt keinen Hund hinterm Ofen hervor - wer bei Google "Baseballplätze Deutschland" eingibt, erhält als Antwort: Meinten Sie "Fußballplätze Deutschland"?

Hollywood als Zugpferd

Brad Pitt dagegen, den kennt fast jeder. Der Hollywood-Superstar war 2011 der Letzte - oder vielleicht auch der Erste? -, der Amerikas traditionsreichsten Sport für kurze Zeit ein wenig öffentliches Interesse in Deutschland bescherte. Damals kam "Moneyball" in die Kinos - und weil sich unter diesem Begriff niemand etwas vorstellen kann, bekam das Sportdrama in Deutschland den Zusatz: "Die Kunst zu gewinnen." Mit Pitt als Speerspitze einer hochkarätigen Besetzung erhielt der Film, der auf einer wahren Begebenheit beruht, sechs Oscar-Nominierungen und spielte sein Budget locker wieder ein.

Worum geht es in "Moneyball"? Die Story des Films, mittlerweile übrigens auch im Free-TV zu sehen, ist schnell erzählt: Pitt spielt Billy Beane, den Manager der Oakland Athletics. Er muss das Team 2002 nach dem Abgang mehrerer Stars neu aufstellen, allerdings ohne das nötige Kleingeld - man stelle sich vor, Schalke 04 und Bayer Leverkusen würden um den Titel mitspielen wollen, hätten dafür aber nur den Etat von Eintracht Braunschweig zur Verfügung.

Beane gelingt der Spagat, weil er sich auf neuartige Methoden zur Evaluierung der Spieler verlässt und so für wenig Geld ein schlagkräftiges Team aufstellt. Zum Titel reicht es nicht. Dennoch sind die A's eine Cinderella-Story, ziehen in die Playoffs ein, und erschüttern die Sportart in ihren Grundfesten. Nichts davon ist erfunden, auch wenn sich Hollywood erwartungsgemäß die eine oder andere künstlerische Freiheit gönnt. Billy Beane ist übrigens bis zum heutigen Tag Manager in Oakland.

Die Revolution von Bill James

So weit, so gut. Aber was verbirgt sich hinter der Moneyball-Idee als solcher? Um diese Frage zu beantworten, muss man noch etwas weiter zurückgehen - und zwar in eine Konservenfabrik in Kansas, Mitte der 70er Jahre. Dort vertrieb sich der glühende Baseball-Fan Bill James seine Schichten als Nachtwächter mit dem Schreiben von Baseball-Texten. Er tauchte tief in die Materie ein, büffelte Statistiken und erfand nach und nach seine eigenen.

In Sachen Analyse der Spiele(r) hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten nämlich herzlich wenig getan - dabei geht die Liga bis ins 19. Jahrhundert zurück. Obwohl sich die Struktur des Sports (Pitcher gegen Hitter, ein Pitch nach dem anderen, die Ausgangssituation ist (fast) immer gleich) hervorragend dazu eignet, ihn statistisch genau auszuwerten, verließ man sich in der Major League vor allem auf althergebrachte Traditionen. James dagegen rückte dem "Das haben wir doch schon immer so gemacht"-Prinzip mit nackten Zahlen zu Leibe.

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Geburt der Sabermetrics

Sämtliche Neuerungen in der Baseball-Analyse aufzuführen, die auf James zurückgehen, würde den Rahmen sprengen. Unter anderem zeichnete er sich verantwortlich für:

  • "Runs created": Wie viele Runs, also Punkte, ist ein Spieler insgesamt wert?
  • "Win Shares": Offense, Defense, Positionsspiel: Wie viele Siege ist ein Spieler insgesamt wert?
  • "Game Score": Wie gut hat sich ein Pitcher geschlagen, unabhängig vom eigentlich Ergebnis?

Diese Aufzählung ließe sich beliebig lang fortführen. Seine Methoden fasste James unter dem Terminus "Sabermetrics" zusammen, angelehnt an die "Society for American Baseball Research"(SABR). Der Statistik-Fan war nicht der einzige, der "Amerikas Freizeitbeschäftigung" auf eine neue Art und Weise untersuchte, aber er brachte den Stein unaufhaltsam ins Rollen, als er von 1977 an eine jährliche Buchreihe über seine Erkenntnisse herausbrachte. "The Bill James Baseball Abstract" erreichte fünf Jahre später über einen Verleger endlich ein größeres Publikum.

Von "Moneyball" war allerdings immer noch keine Rede. Erst nachdem die Athletics im Jahr 2002 die Methoden von James großflächig einsetzen und damit erfolgreicher waren als im Jahr zuvor (unter anderem legten sie die im Film gefeierte Siegesserie von 20 Spielen hin), entschloss sich Wall-Street-Autor Michael Lewis, ein Buch über den Erfolg des Teams zu schreiben. Im Juni 2003 veröffentlichte er "Moneyball: Die Kunst, ein unfaires Spiel zu gewinnen".

Das Spiel wird neu bewertet

Unfair deshalb, weil es im Baseball keine Gehaltsobergrenze gibt. Die A's mussten es mit einem Budget von rund 41 Millionen Dollar mit Teams wie den New York Yankees aufnehmen, deren Payroll mehr als das Dreifache betrug. Lewis analysierte, mit welchen Erkenntnissen Beane und sein Assistent Paul DePodesta den großen Teams ein Schnippchen schlugen. Erkenntnisse, gewonnen aus einer neuen und innovativen Analyse der Statistiken. Dazu gehörten:

  • Althergebrachte Statistiken für Hitter wie etwa RBIs (Runs, die ein Schlagmann ins Ziel bringt), Wins (Spiele, die einem Pitcher als "Sieg" zugerechnet werden) oder Batting Average (AVG) sind zu ungenau bzw. zu abhängig von der jeweiligen Situation: Ein Spieler in einem guten Team etwa wird zwangsläufig mehr RBIs anhäufen, ebenso ein Pitcher seine Siege. Deshalb sollte sich der Pitcher vor allem an seinen zugelassenen Runs messen lassen.
  • Die Schlagkraft des Hitters lässt sich seinerseits besser an dessen Slugging Percentage (SLG) messen, als an einzelnen Homeruns oder RBIs: Dafür teilt man die Anzahl der Total Bases (Single = eine Base, Double = zwei Bases, etc) durch die Anzahl der Versuche (At-Bats).
  • Batting Average (Schlägt der Hitter den Ball bei drei von zehn Versuchen erfolgreich ins Feld, hat er einen Average von .300) klammert Walks aus und ist deshalb ungenauer als On-Base-Percentage.
  • Der Closer (ein meist im Verhältnis teurer Pitcher, der nur eingesetzt wird, um das letzte Inning zu pitchen, wenn man bereits in Führung liegt) sollte lieber schon vor dem letzten Inning in brenzligen Situationen eingesetzt werden, schließlich ist er der vermeintlich beste Reliever. Außerdem sind Closer aufgrund ihrer Prominenz meist überbezahlt.
  • Zudem führte Lewis mit Verweis auf Statistiken an, dass Spieler aus dem College im Draft besser abschneiden als High-School-Akteure, oder dass ein "Sacrifice Bunt" (ein Spieler opfert seinen Versuch am Schlagmal, um einen Teamkollegen eine Base weiter nach vorn zu bringen) generell nicht lohnenswert sei. Zudem müsse man versuchen, den gegnerischen Starting Pitcher so schnell wie möglich müde zu machen und so aus dem Spiel zu nehmen.

Kein Kampf der Kulturen

Was man auf keinen Fall vergessen sollte: Bei "Moneyball" handelt es sich nur vordergründig um ein Buch über Baseball. Vielmehr demonstriert Lewis anhand der A's, dass es, sei es in anderen Sportarten oder auch in der Wirtschaft, nötig ist, der Entwicklung voraus zu sein. Lücken zu finden. Nicht nur eine Masse an Daten zu haben, sondern an diese auch die richtigen Fragen zu stellen.

Die Protagonisten legen ebenfalls Wert darauf, dass es sich nie um einen Kulturkampf zwischen Mathe-besessenen Nerds und altbackenen Scouts gehandelt habe. Im Baseball versuche man ständig, die Leistungen der Spieler vorherzusagen, so DePodesta, der 2004 General Manager der Los Angeles Dodgers wurde, wohlgemerkt im Alter von 31. "Scouts helfen uns sehr dabei, mit diesem Problem umzugehen. Andererseits haben wir uns gefragt: 'Wie können wir diese Unsicherheit noch weiter minimieren?' Und die Daten und Statistiken waren eine Möglichkeit dazu", erklärte Beanes einstige rechte Hand in der "Washington Post".

Es bleibt die Frage: Wenn "Moneyball" ein so erfolgreiches Konzept ist - schließlich ist es seit Lewis' Bestseller ein geflügeltes Wort und aus der Sportszene nicht mehr wegzudenken -, warum warten dann Billy Beane und die Athletics immer noch auf die erste World-Series-Teilnahme seit 1990?

Der Grund ist ganz einfach: Weil es funktioniert.

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Die Liga lernt dazu

Die 320 Seiten, die der Öffentlichkeit auch Bill James noch einmal ganz neu nahebrachten, schlugen ein wie eine Bombe. Plötzlich durfte man schwarz auf weiß nachlesen, wie Oakland im Jahr zuvor 103 Spiele gewinnen konnte. Und auch die anderen Teams merkten auf: Die Boston Red Sox, die erfolglos versucht hatten, Beane aus Oakland loszueisen, sicherten sich die Expertise des Sabermetric-Erfinders - nachdem der wiederum erfolglos versucht hatte, bei seinem eigentlichen Lieblingsteam, den Kansas City Royals, einen Job zu bekommen. DePodesta bekam wie erwähnt kurze Zeit später sein eigenes Team.

So verflüchtigte sich der Vorteil der A's. Als Team ohne große finanzielle Möglichkeiten musste die Franchise aus Oakland neue Wege finden. Aber als die großen Teams wie die Yankees, Red Sox und Tigers nachzogen und ebenfalls die Vorteile der Sabermetrics zu nutzen begannen, zeigte sich ihr Vorteil in Sachen Payroll. Spieler, die "auf Base kommen", wie es Pitt im Film so deutlich macht, erlebten plötzlich eine Korrektur ihrer Gehälter - und wurden so kaum bezahlbar für die kleinen Teams.

Moneyball = Erfolg?

Mit dem Siegeszug des Internets, den Bloggern und Analysten am eigenen Rechner, entwickelten sich die Methoden zur Spielerevaluation weiter. Während James jahrelang weitgehend anonym geblieben war, kann man die eigenen Erkenntnisse heute innerhalb einer halben Stunde in die Welt hinaustragen. Moneyball war plötzlich überall. Die Red Sox gewannen mit James - und einer hohen Payroll - ihren ersten Titel seit 1918.

Und Beane? Lewis gab später zu, dass sein Buch den Vorteil der A's ungewollt eingebremst hatte. Trotzdem erreichte das Team zwischen 1998 und 2006 gleich fünfmal die Playoffs, im Baseball eine ungleich schwerere Aufgabe als etwa in der NBA. Nach mehrjähriger Durststrecke gehört das Team seit 2012 wieder zu den erfolgreichsten in der Major League Baseball.

Zum Titel hat es nicht gereicht - versagt das Moneyball-System also in der Postseason? So einfach ist diese Frage nicht zu beantworten: Die Zufallsvariablen im Baseball sind mit anderen Sportarten kaum zu vergleichen, oder anders ausgedrückt: In einer kurzen Serie kann jeder jeden schlagen. Zudem vergrößert sich in den Playoffs noch einmal die Rolle der besten Pitcher - und die sind teuer.

Beane: Wir müssen mutig sein

Mit etwas mehr Glück hätte Beane also schon mehrere Meisterschaftsringe vorweisen können. Bis es soweit ist, sucht er weiter nach den Lücken im System: Die A's investieren ihre Ressourcen im Draft oder im Ausland, sichern sich unterschätzte Spieler per Trade. Immer auf der Suche nach einem Team, das seinen vermeintlichen Marktwert überragt. Findige Mathematiker haben ausgerechnet, dass ein Durchschnittsteam für die Bilanz der Athletics in den vergangenen 15 Jahren unglaubliche 1,3 Milliarden Dollar mehr ausgegeben hätte. Da sage noch einer, dass Moneyball nicht funktioniert.

MLB-Check: Sag mir, wo die Offense ist

Nach Playoff-Enttäuschungen 2012 und 2013 sind die A's auch in diesem Jahr wieder auf dem besten Weg, ihre Division zu gewinnen - wie üblich mit überschaubarem Budget. Kürzlich überraschte das Team jedoch mit einem Trade: Um Top-Pitcher Jon Lester für den Rest der Saison zu "mieten", gab man mit Yoenis Cespedes einen eigenen Star ab.

Also Abkehr von Moneyball? Nicht unbedingt. "Wir müssen mutig sein, in allem was wir tun", so der mittlerweile 52-Jährige Beane. Lester könnte das fehlende Puzzlestück zum Titel sein, dafür wurde ein Star abgegeben, der man in einem Jahr wohl ohnehin nicht mehr hätte bezahlen können. Trotzdem bleibt der Eindruck: Statistiken hin oder her - in diesem Jahr schieben die A's ihre Chips komplett in die Mitte. Ob es diesmal reicht für den ganz großen Wurf?

Moneyball verrät nicht alles

Moneyball, Sabermetrics, Statistiken, Big Data. Der Einfluss dieser Methoden wird in Zukunft ganz gewiss nicht abnehmen. Die "menschliche Seite der Medaille" wird dennoch bleiben: Intuition, ein geschultes Auge, Erfahrung, die Chemie in der Umkleidekabine, oder das gute alte Momentum. Bis man mit Moneyball-Methoden vorhersagen kann, wie wertvoll die Vorbildfunktion eines alternden Stars ist, ein stabiles Umfeld, oder einfach nur ein Tapetenwechsel, wird noch einige Zeit vergehen.

Darüber hinaus sind manche Sportarten empfänglicher für seine Methoden als andere. "Im Basketball ist diese Analytik nicht so wertvoll für die Spielersuche", meint etwa Dirk Nowitzkis Boss Mark Cuban. "Ein Spieler kann in einem Team mit hohem Tempo ein bestimmte Anzahl an 'Win Shares' aufweisen, aber was passiert, wenn er in ein Team kommt, das langsam spielt?"

"Wo bleibt der Sport?"

Traditionen sterben langsam. Die MLB setzt weiterhin unisono auf den guten alten Closer - selbst die Athletics. Im American Football wird der Ball beim vierten Versuch immer noch fast immer zum Gegner gespielt, auch wenn die nackten Zahlen eigentlich eine andere Strategie empfehlen.

Moneyball hat den Sport verändert. Das gefällt nicht allen. Mittlerweile gibt es eine Gegenbewegung von Fans und Experten, denen das Büffeln von Zahlen zu weit geht, die den Wert ihrer Stars nicht nur in einer langen Gleichung präsentiert bekommen wollen. "Expertise nur aus Excel-Tabellen? Wo bleibt denn da der gute alte Sport?"

Die Antwort gibt der Film, stellvertretend für Billy Beane, Bill James und alle anderen. Wie sagt es Brad Pitt doch zu seinem alternden Scout: "Friss oder stirb."

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