Kawhi Leonard hat eine Postseason für die Ewigkeit gespielt und so dafür gesorgt, dass sich das Risiko der Toronto Raptors allemal gelohnt hat. Wie es beim mysteriösen Superstar weitergeht, steht trotzdem nach wie vor in den Sternen.
Kawhi Leonard kam zum gemeinsamen ESPN-Interview mit Kyle Lowry gehumpelt, glücklich, dass er vorerst keine Spiele mehr absolvieren musste. Die letzte Pressekonferenz der Playoffs hatte er schon hinter sich, die Finals-MVP-Trophäe dabei erst auf dem Podium vergessen. Nun hatte er sie trotzdem dabei und überreichte sie Lowry, bevor er sich neben den Point Guard auf einen Stuhl setzte.
"Du verdienst das auch. Du warst heute der wertvollste Spieler", sagte Leonard zu Lowry, der in Spiel 6 der Finals tatsächlich Torontos bester Mann gewesen war. Da Reporterin Rachel Nichols anwesend war und die ganze Unterhaltung erst mit dem Handy filmte, um sie dann online zu stellen, durfte die restliche NBA-Welt an diesem zugegebenermaßen schönen Moment teilhaben.
Kawhi Leonard auf den Spuren von Jordan und LeBron
Kawhi war endgültig wieder der Superstar, der sich nicht wichtig nahm, der sich voll in den Dienst der Mannschaft stellte. Am Ende eines legendären Playoff-Runs, den er ab Mitte der zweiten Runde mit Schmerzen im rechten Knie bestreiten musste, den er mit den drittmeisten Punkten der Geschichte (hinter Michael Jordan und LeBron James) abschloss.
Ein Held, der eine Herausforderung nach der anderen aus dem Weg geräumt hatte, allen Widrigkeiten und Verletzungen um Trotz. Die Welt, die NBA-Welt zumindest, lag Leonard in diesem Moment zu Füßen. Es wirkte fast, als hätte es die 2017/18er Saison und all ihre Probleme und Kontroversen nie gegeben.
Kawhi Leonard: Zerstörer von Dynastien
Leonard wird nach dem Sieg gegen die Warriors als Zerstörer von Dynastien gefeiert, bei seinem ersten Finals-MVP-Award 2014 hatte er auch die "Heatles"-Ära in Miami beendet. Es ist ein heftiger Kontrast zum vergangenen Jahr: Damals wurde ihm eher vorgeworfen, dass er die Dynastie seines eigenen Teams beendet hatte beziehungsweise zu beenden drohte.
Es würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, die gesamte Saga der Saison 17/18 nachzuerzählen, also die Kurzform: Leonard erlitt in den 2017er Playoffs (gegen die Warriors) eine Quadrizeps-Verletzung, deren Heilung kompliziert verlief. Die Spurs erteilten ihm die medizinische Freigabe, Leonard fühlte sich aber nicht bereit - ein Comeback brach er selbst nach neun Spielen ab und ließ sich von separaten Ärzten behandeln. Während die Spurs ihn teilweise offen kritisierten, blieb er dem Team auch in den Playoffs fern und arbeitete stattdessen separat in New York an seiner Physis.
Man wird wohl nie genau ergründen können, an welchem Punkt das Vertrauen verloren ging und sich Leonard und die Spurs so weit entfremdeten, dass es kein Zurück mehr gab; unter anderem liegt das daran, dass Leonard so wenig sagt wie irgend möglich. Dass der 27-Jährige die kritischen Stimmen durchaus vernommen hat, zeigte er jedoch nach dem Triumph in Spiel 6 mit den Raptors.
"Sie dachten, ich hätte eine Verletzung vorgetäuscht"
"Vergangenenes Jahr wurde ich von vielen Leuten angezweifelt", sagte Leonard auf der Pressekonferenz. "Sie dachten, ich hätte eine Verletzung vorgetäuscht oder dass ich nicht für mein Team spielen wollte. Das hat mich enttäuscht, weil ich dieses Spiel liebe. Wenn ich nicht spiele, liegt das daran, dass ich verletzt bin, dass es nicht geht." Für seine Verhältnisse war das fast schon ein Rundumschlag.
Was auch immer hinter den Kulissen vorfiel: Leonard forderte einen Trade, idealerweise in seine Heimat Los Angeles - die Spurs erfüllten ihm zumindest die Hälfte dieses Wunsches, schickten ihn aber (mit Danny Green) für DeMar DeRozan, Jakob Pöltl und einen Draft-Pick nach Toronto. Die Raptors um Team-Präsident Masai Ujiri hatten die Hoffnung, Leonard im Lauf eines Jahres davon zu überzeugen, dass er auch bei ihnen glücklich werden könnte. Und vor allem gesund.
Man vergisst das heute leicht: Nicht nur die kurze Vertragslaufzeit schreckte andere Teams ab, es gab auch durchaus laute Zweifel daran, ob Leonard überhaupt wieder mit voller Stärke zurückkehren würde. Die 2016/17er Saison war seine einzige auf MVP-Level gewesen, in den neun Spielen der Folgesaison waren seine Auftritte holprig. Was, wenn er gar kein Top-5-Spieler mehr sein könne?
Die Karriere-Statistiken von Kawhi Leonard
Saison | Team | Spiele | Minuten | Punkte | Rebounds | FG% |
11/12 | Spurs | 64 | 24,0 | 7,9 | 5,1 | 49,3 |
12/13 | Spurs | 58 | 31,2 | 11,9 | 6,0 | 49,4 |
13/14 | Spurs | 66 | 29,1 | 12,8 | 6,2 | 52,2 |
14/15 | Spurs | 64 | 31,8 | 16,5 | 7,2 | 47,9 |
15/16 | Spurs | 72 | 33,1 | 21,2 | 6,8 | 50,6 |
16/17 | Spurs | 74 | 33,4 | 25,5 | 5,8 | 48,5 |
17/18 | Spurs | 9 | 23,3 | 16,2 | 4,7 | 46,8 |
18/19 | Raptors | 60 | 34,0 | 26,6 | 7,3 | 49,6 |
Gab es intern Probleme bei den Toronto Raptors?
Die Raptors waren gewillt, es auszuprobieren und Leonard dabei zu schützen, indem sie ein in diesem Ausmaß selten gesehenes "Load Management"-Programm für ihn aufstellten, das unter anderem keine Back-to-Backs vorsah - insgesamt stand Leonard so in der Regular Season nur 60mal auf dem Court.
In diesen Spielen lieferte er zwar weitestgehend überragend ab, trotzdem war es für das restliche Team wohl nicht leicht, oft nicht zu wissen, ob der beste Spieler dabei sein würde. "Es ging in unserer Saison so viel rauf und runter - hinter den Kulissen", sagte Leonard nun vielsagend bei ESPN. "Man sieht daran, dass wir hier eine gute Gruppe von Leuten haben: Nichts davon kam raus. Ihr in den Medien wusstet nicht, was los war."
Worum es konkret ging, wollte er nicht ausführen, die restlichen Raptors auch nicht. Es spielte letztendlich auch keine Rolle; das Load Management wurde während der Saison durchaus kritisch gesehen, es hat sich in den Playoffs aber offensichtlich ausgezahlt und den Raptors Recht gegeben.
Kawhi Leonard spielte Playoffs für die Ewigkeit
Niemand drückte dieser Postseason so sehr seinen Stempel auf, Leonard ist nicht nur Finals-MVP, er wäre auch der "Playoff-MVP" gewesen, wenn es diesen Titel geben würde. Gegen Philly entschied er zwei Spiele per Gamewinner, unter anderem das siebte mit einem der denkwürdigsten Buzzerbeater der NBA-Geschichte. Gegen Milwaukee nahm er das direkte Duell gegen den wahrscheinlichen MVP der Regular Season an und stellte diesen eindeutig in den Schatten.
Und nun also das Meisterstück. Während Kawhi in Spiel 6 für seine Verhältnisse unauffällig auftrat, legte er vor allem in Spiel 4 eine Leistung für die Ewigkeit hin: 36 Punkte und 0 Turnover in einem Auswärtsspiel hatte in den Finals zuvor lediglich Kevin Durant geschafft. Auch in dieser Serie war Leonard klar Torontos Bester, auch wenn Hubie Brown Fred VanVleet als Finals-MVP notierte.
Dass Leonard dabei selbst seit Wochen angeschlagen war, fiel vor allem deshalb unter den Tisch, weil die Raptors das Thema so klein wie möglich hielten - bei vielen Aktionen war es dennoch offensichtlich, dass Leonard Explosivität fehlte und er auf die Zähne beißen musste. Die Vorstellung, dass dieser Typ irgendwelche Verletzungen "vorgetäuscht" hätte, schien dabei absolut lächerlich.
Kawhi Leonard: Vom "Fun Guy" zum "Board Man"
Leonard wirkte vielmehr wie jemand, der die Chance auf einen weiteren Titel sah und diese mit aller Macht an sich reißen wollte, so wie er bisweilen Steals und vor allem Rebounds an sich reißt. Apropos Rebounds - nach dem Spitznamen "Fun Guy" nach seiner denkwürdigen Vorstellungspressekonferenz vor der Saison kam in den Playoffs noch der neue Titel "Board Man" dazu, nachdem The Athletic eine Oral History zu seiner College-Zeit veröffentlichte.
Ein Auszug daraus: "Wenn er einen Rebound geholt hat, sagte er: 'Give me that' oder 'Board man' oder ‚Board man gets paid.'", wurde sein damaliger Mitspieler LaBradford Franklin zitiert, und Coach Justin Hutson bestätigte: "Ich habe das bestimmt 50mal gehört. 'Board man. Ich bin ein Board man.' Das hat er gesagt. Absolut. 'Ich bin ein Board man. Yeah, ich bin ein Board man. Board man gets paid.' In solchen Sätzen hat er gesprochen."
NBA Twitter fällt auf Fake-Anekdote rein
Selbstverständlich verbreitete sich dies schnell über NBA-Twitter, ebenso wie seine Version von "Trash-Talk" (am College sagte er gern "Bucket" in der Offense und einfach nur "No" in der Defense) oder die Anekdote, wie er bei einem Team-Dinner in einem Nobelrestaurant mit den Spurs zwölf mitgebrachte rote Äpfel verspeiste, mit Messer und Gabel wohlgemerkt.
Letztere war satirisch gemeint und nicht echt - trotzdem war alle Welt bereit, sie zu glauben. Zur Legende von Kawhi schien sie zu passen, und nur darum ging es. Der vielleicht beste Spieler der Welt ist nach nun acht Saisons immer noch ein Mysterium, ein Spieler, über den man extrem wenig weiß.
Allen voran weiß man immer noch nicht, wo er nächste Saison spielt. Noch nie hat ein Spieler seines Kalibers einen amtierenden Champion verlassen. Andererseits tanzt er eben zu seinem eigenen Beat und könnte das Machtgefüge in der Liga damit wieder völlig auf den Kopf stellen. Nicht zuletzt kann er bei seinem aktuellen Team den Unterschied zwischen "Repeat" und "Rebuild" ausmachen.
Kawhi Leonard: Der Board Man wird bezahlt
Ob Toronto den Trade deshalb bereut? Natürlich nicht. Kawhi hat gezeigt, dass er alles Wert ist, alle Spekulationen, alle Risiken, vielleicht sogar alle Kopfschmerzen. Mit noch immer erst 27 Jahren hat er seine besten Jahre wohl noch vor sich und ist schon jetzt auf Kurs zur absoluten Legende. Zweimaliger Champion, zweimaliger Defensive Player of the Year, zweimaliger Finals-MVP. Fun Guy.
Der NBA-Sommer liegt somit zu einem nicht unerheblichen Teil in seiner riesigen Hand. "Board man gets paid", war einst seine Devise, und das steht außer Frage. Seine Vorgeschichte mit den Spurs wird absolut niemanden davon abhalten, ihm einen Maximalvertrag anzubieten, der die finanziellen Mittel dafür hat. Es ist nur noch offen, wessen Angebot der Board Man im Sommer annehmen wird.
"Ich denke darüber noch nicht nach. In diesem Moment bin ich ein Raptor", sagte Leonard bei ESPN. "Und dann sehen wir, was passiert." Man darf gespannt sein.