Hinkie und seine Marshmallows

Stefan Petri
30. Juni 201408:34
Sam Hinkie will mit den Sixers ganz nach oben. Aber das kann dauernimago
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Mit Joel Embiid wählten die Philadelphia 76ers schon das zweite Jahr in Folge einen verletzten Big Man, der dem Team erst einmal nicht weiterhelfen kann. Klar ist: General Manager Sam Hinkie denkt langfristig, und hat kein Problem damit, die nächsten Spielzeiten zu opfern. Dabei orientiert er sich am Erfolg der Oklahoma City Thunder. Dass dieser Plan allerdings nicht aufgehen muss, sieht man ausgerechnet an dem Team, das auf Embiid verzichtete.

In der Psychologie gibt es den sogenannten "Marshmallow Test". In diesem Experiment des Psychologen Walter Mischel wird Kindern ein Marshmallow oder eine andere Süßigkeit angeboten. Wenn sie der Versuchung aber so lange widerstehen können, bis die Aufsichtsperson nach einer Weile wieder zurückkehrt, bekommen sie einen zweiten Marshmallow. Das führt zu urkomischen Videos, soll allerdings auch erstaunlich viel über zukünftigen Erfolg aussagen können.

Die Philadelphia 76ers haben seit der Saison 2000/2001 nicht mehr als eine Playoff-Serie pro Saison gewonnen. 2012/2013 gab es das Andrew-Bynum-Debakel, danach drückte man dem neuen GM Sam Hinkie das Ruder in die Hand. Und der führt seither mit der gesamten Fanbase ein gigantisches Marshmallow-Experiment durch: Dieses Jahr gibt es nichts. Nächstes Jahr wohl auch nicht. Übernächstes Jahr - hm. Wird eng. Aber dann... irgendwann... einen ganzen Haufen Marshmallows! Im Idealfall sogar mit einem Ring garniert.

Kahlschlag bei den Sixers

Deshalb wurde All-Star Jrue Holiday vor einem Jahr für den verletzten Nerlens Noel und einen Pick zu den New Orleans Pelicans getradet. Deshalb wurden Evan Turner, Spencer Hawes und Lavoy Allen vor der Trade Deadline für insgesamt fünf Zweitrundenpicks verscherbelt.

Deshalb wählte man am letzten Donnerstag Joel Embiid, nach Noel schon der zweite Big Man, der seine ersten Auftritte als Sixer in Straßenkleidung absolvieren wird. Deshalb tradete man für Dario Saric, der frühestens in einem oder zwei Jahren in der NBA aufschlagen wird, für den man aber einen weiteren Pick bekam.

Deshalb wird Thaddeus Young wohl allerhöchstens noch eine Saison in der "city of brotherly love" verbringen. Und Coach Brett Brown neben Rookie of the Year Michael Carter-Williams wohl wieder mit allerhand D-Leaguern und Zehntagesverträgen spekulieren. Und deshalb werden die Sixers in der kommenden Saison voraussichtlich nicht viel mehr Spiele gewinnen als die 19 der vergangenen Spielzeit.

Fans ziehen mit

Commissioner Adam Silver hatte kürzlich noch betont, dass in der NBA kein "Tanking" stattfinde. Um einen missmutigen Sixer-Fan, der für seine Season Tickets einen Zweitjob angenommen oder auf einen Urlaub verzichtet hat, davon zu überzeugen, bräuchte er wohl einen langen Atem.

Tatsache ist allerdings: Die meisten Sixers scheinen mit dem Plan Hinkies, ihnen auf absehbare Zeit ihre Marshmallows vorzuenthalten, völlig einverstanden. Beim Draft waren ganze Horden an Philly-Fans vor Ort, die gegen die Entscheidung für Embiid absolut nichts einzuwenden hatten.

Ein Embiid übrigens, der in der kommenden Saison zu 99 Prozent nicht spielen wird. "Ratet mal, was unser Ansatz sein wird", kündigte Hinkie an. Wir werden uns auf die langfristige Gesundheit des Spielers konzentrieren. Werden wir clever sein, und geduldig? Absolut." Fünf bis acht Monate werde es dauern, bis die Fußverletzung des Centers ausgeheilt ist - nach Bynum und Noel übrigens schon der dritte Big Man in Serie, der in Philadelphia eine komplette Saison verpasst.

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OKC als leuchtendes Vorbild

Der Wahnsinn Hinkies hat Methode: Der GM entstammt der Daryl-Morey-Schule der Houston Rockets, die auf Statistiken, auf neue Methoden und Ansätze setzt. Aber während die Rockets so lange Picks und Trade-Chips sammelten, bis man sie für James Harden eintauschen und daraufhin Dwight Howard nach Texas locken konnte, hat Hinkie wohl vor allem mit Argusaugen gen Norden geblickt - und zwar nach Oklahoma.

Denn die dortige Franchise ist die Blaupause für alle Teams, die in der heutigen NBA keine Superteams bilden, Free-Agent-Superstars in die eigene Arena locken können - und dennoch um Titel mitspielen. Zur Erinnerung: 2007 war Kevin Durant - damals noch in Seattle - der Second Pick, Jeff Green kam drei Spieler später. 2008 hatte man 20 Spiele gewonnen und holte Russell Westbrook mit Pick Nummer vier. 2009 hatte man 23 Spiele gewonnen und wählte James Harden mit Pick Nummer drei.

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Ein paar harte Jahre am Stück, aber der Grundstein war gelegt: 2012 spielte man in den NBA Finals um den Titel - fünf Jahre hatte das Projekt also gedauert. Kein Wunder, dass Hinkie sein Projekt gegenüber der Fanbase bereits mit drei bis fünf Jahren beziffert hatte. Ein gefundenes Fressen für Zyniker, die den Draft in seiner heutigen Form schon lange abschaffen wollen: So kann es nur in einer Liga laufen, in der man kostenlos brandneue Ersatzteile bekommt, so lange man seinen Wagen nur immer wieder frontal in die Mauer setzt. Beim HSV wird derzeit wohl gerade sehnsüchtig über großen den Teich geschaut.

Allen Unkenrufen und Tanking-Vorwürfen zum Trotz: Hinkie hat einen Plan, die Fans sind an Bord. Die Rückendeckung der Besitzer hat er, seinen Head Coach hat er aus dem Spurs-System herausgeklaubt - und die haben mit einer mehr oder minder abgeschenkten Saison ja 1999 ebenfalls gute Erfahrungen gemacht.

Ist das System also narrensicher?

Cleveland als warnendes Beispiel

Natürlich eine überflüssige Frage: Nichts in der NBA ist narrensicher. Selbst ein Superteam um einen der besten Spieler aller Zeiten hat bisher nur eine Titelquote von 50 Prozent vorzuweisen. Und während die Thunder das Positivbeispiel für eine gelungene Serie von hohen Draftpicks ist, gibt es auf der Gegenseite eine ganze Menge. Eins davon ist das Team, das am Donnerstag gleich zu Beginn wählen durfte.

Die Cleveland Cavaliers haben seit dem Abgang einen Werdegang hinter sich, der dem der Thunder vor einigen Jahren fast bis aufs Jahr gleicht. Durchschnittlich wurden in den vergangenen vier Jahren nicht einmal 25 Partien gewonnen, das gab natürlich Draft Picks en masse: 2011 den ersten und vierten Pick, 2012 den vierten Pick, 2013 den Top-Pick - und 2014 bekanntlich gleich nochmal.

Außer Spesen nichts gewesen

Auf der Habenseite steht nach diesen vier fetten Jahren Kyrie Irving, Andrew Wiggins, und... naja. Dazu kommt: Selbst hinter Wiggins und Irving stehen Fragezeichen, ob sie sich zum Franchise-Player eignen, der ein Team fast im Alleingang in die Nähe eines Titels führen kann. Beim Pokern Runde um Runde zu verlieren und dafür eine Karte aufzuheben, ist keine Garantie dafür, später einen richtig dicken Pott zu gewinnen.

Das führt noch einmal vor Augen: Um sich ein Championship nur mit Hilfe von hohen Draft Picks zusammenzubasteln, benötigt man eine Menge Glück: Gute Jahrgänge, die richtigen Spieler lange genug auf dem Board, die richtige Chemie, etc. Zudem müssen die Stars verletzungsfrei bleiben, wie man am Beispiel OKC in den letzten zwei Jahren sehen kann. Da sind die Vorzeichen bei Embiid alles andere als rosig.

Cleveland hofft trotz all dieser Picks auf die strahlende Rückkehr von King James oder einen sofortigen Durchbruch von Wiggins - sonst scheint ein weiter Vorstoß in die Playoffs immer noch Jahre entfernt. Draftpicks allein versprechen nichts.

Milwaukee im Fegefeuer

Andererseits: Man kann natürlich auf beiden Seiten vom Pferd fallen, wie man an den Milwaukee Bucks sehen kann. Die bemühen sich seit 2001 redlich, auch nur eine Playoff-Serie zu gewinnen und hatten danach elf Jahre nie weniger als 26 Spiele gewonnen. Resultat: Seit 2008 bewegten sich alle Picks zwischen acht und 15, zählbares aus dieser Zeit findet sich auf dem Roster jedoch nicht (den Greek Freak mal ausgenommen).

Deshalb blies man vor einem Jahr zur Free-Agent-Offensive: GM John Hammond holte unter anderem O.J. Mayo, Carlos Delfino, Gary Neal und Brandon Knight. An und für sich passable Spieler, aber eben keine Superstars. Aber der umgekrempelte Kader bekam sofort Schlagseite und soff ab - dabei hatte man sogar die Playoffs anvisiert.

Dante Exum: Der Reiz des Unbekannten

Eine absichtlich herbeigeführte Dürreperiode a la Philly war unter dem langjährigen Owner Herb Kohl nie eine Option. Man muss abwarten, ob sich nach dem Verkauf im Frühjahr etwas ändert, im Draft entschied man sich mit Jabari Parker dann aber doch für die sichere Variante. Die Bucks werden also weiter daran arbeiten sich Stück für Stück hochzuarbeiten. Vielleicht mit dem Beispiel Dirk Nowitzki im Hintergrund, der sich ohne Superstar an der Seite Jahr für Jahr bei den Mavs behauptete und schließlich seine Karriere krönen konnte. Ohne den von vielen Seiten proklamierten Rebuild.

Eine dritte Möglichkeit?

Die Cavaliers auf der einen, die Bucks auf der anderen Seite. Gemäß dem schönen Sprichwort: Wie man's macht, isses verkehrt. Hinkie und das Front Office der Sixers haben sich für eine Methode entschieden, die nun auch durchzogen werden soll. Wenn die Besitzer nicht zu früh den Kurs wechseln und die Fans frustriert abspringen, ist es eine legitime Methode, um sich in der NBA die Voraussetzungen für späteren Erfolg zu schaffen.

Aber die Liga ist wankelmütig, und am Ende einer Saison spielen nur zwei von 30 Teams um den Titel. Hinkie muss aufpassen, dass er seine Hand nicht überreizt: Selbst wenn die Picks mehrere Jahre in Folge einschlagen, bleibt das Fenster überschaubar - denn irgendwie wollen die Stars ja auch bezahlt werden (siehe Harden). Und die Konkurrenz schläft nicht.

Der Sixers-Boss wird das natürlich alles wissen. Aber wenn er sich an einem Modell orientieren will, dass vor den Superteams erfolgreich war, dann könnte er einen Blick auf die Celtics werfen: Die schafften 2007 den Sprung vom Lottery-Team zum Champion in Rekordzeit, weil sie ihre Picks und Talente im richtigen Moment aggressiv einsetzen, statt Jahr um Jahr zu warten. In der heutigen NBA-Landschaft, in der Hochkaräter liebend gerne für Cap Space und Picks abzugeben sind, könnte das ebenfalls ein probates Mittel sein. Frei nach Mark Cuban: Gehen alle in eine Richtung, kann es besser sein, die andere Richtung einzuschlagen.

Die Playoffs im Überblick