Das Transfer-Fenster in der NFL ist geschlossen, für den ersten Kracher sorgten die New England Patriots - allerdings nicht, wie man vorher gedacht hätte: Die Pats geben Linebacker Jamie Collins ausgerechnet an die Cleveland Browns ab, und werfen damit Fragen auf: Warum einen der besten jungen Linebacker ziehen lassen? Warum dieser Zeitpunkt? Und wo liegen die Ursachen? SPOX liefert Erklärungsansätze.
Die Patriots-Perspektive - Zweifel, Vertrauen und eine Message: "Bill Belichick weiß schon, was er tut", war eine der häufigsten Reaktionen aus dem Patriots-Fan-Lager, die man am Montagabend beobachten durfte. Gerade war bekannt geworden, dass New England Collins zu den Browns tradet, allem Anschein nach für einen späten Drittrunden-Draft-Pick. Natürlich hat sich Belichick, der bereits in der Vergangenheit Stars wie Richard Seymour, Randy Moss oder Logan Mankins abgegeben hat, einen Vertrauensvorschuss jeglicher Art in Hülle und Fülle verdient.
Dennoch schwang ein gewisses Maß an Unverständnis in den sozialen Netzwerken mit. Warum einen der besten jungen Linebacker der Liga womöglich gar noch vor dessen Leistungshöhepunkt abgeben, wenn man jetzt einen weiteren Super Bowl gewinnen kann? Wie viel bringt der zusätzliche Draft-Pick, der womöglich mehrere Jahre braucht, um einen wirklichen Einfluss auf das Spiel zu haben? Immerhin reden wir hier von den letzten Jahren mit Tom Brady und ohne jede Frage einem Win-Now-Team.
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Dabei gilt es, mehrere Schichten zu entpacken. Der offensichtlichste Punkt: Collins' Vertrag in New England wäre nach der Saison ausgelaufen, ein neuer Deal zweifellos sehr teuer geworden. Und in dieser Hinsicht erwartet die Patriots auch jetzt noch ein ganz heißer Frühling.
Denn unter anderem Jabaal Sheard, Dont'a Hightower, Barkevious Mingo, Martellus Bennett, Sebastian Vollmer, Logan Ryan, Malcolm Butler und LeGarrette Blount sind nur noch bis Saisonende an das Team gebunden. Diese Vielzahl an auslaufenden Verträgen war bereits ein maßgeblicher Grund dafür, dass vor der Saison Pass-Rusher Chandler Jones an die Arizona Cardinals abgegeben wurde - ein Spieler, der der Pats-Front fraglos fehlt. Allerdings wurde damals gemeinhin vermutet, dass dadurch Geld primär für die neuen Verträge von Hightower, Butler und eben Collins freigemacht werden sollte.
Warum nicht warten?
So wirft das bevorstehende Vertragsende eine ganz klare Frage auf: Warum haben ihn die Patriots nicht einfach bis zum Saisonende gehalten und danach gehen gelassen? Finanziell hätte das für 2017 keinen Unterschied gemacht und über die Compensatory-Picks wäre den Patriots eine Entschädigung in Form eines Draft-Picks quasi garantiert gewesen, vorausgesetzt, dass sie nicht selbst einen größeren Free-Agency-Fisch an Land ziehen.
Doch wiegt diese Differenz - also zwischen dem Drittrunden-Pick, den die Pats jetzt erhalten, und dem möglichen Compensatory-Pick - den sportlichen Verlust in keiner Weise auf. Denn der könnte für New England durchaus schwerwiegend sein.
Es gibt aktuell kaum einen athletischeren Linebacker in der NFL. Collins ist herausragend in Coverage, kaum ein Linebacker verteidigt im freien Raum besser. Zudem ist er ein potentiell brandgefährlicher Pass-Rusher und war über die letzten Jahre ein unumstrittener Leistungsträger in New Englands Front Seven. 89 Tackles, niemand im Team hatte mehr, sowie fünf Forced Fumbles (Franchise-Rekord eingestellt) und 5,5 Sacks standen in der Vorsaison auf seinem Konto.
Blickt man nur auf diesen Aspekt, ist es völlig unverständlich, dass New England Collins jetzt gehen lässt. Denn klar ist: Die Super-Bowl-Chancen der Pats waren rein sportlich mit Collins unbestreitbar höher als jetzt ohne ihn. Zu welchem Grad, darüber lässt sich streiten. Doch die Defense ist jetzt nicht besser als am Sonntagabend - auch wenn Sechstrunden-Pick Elandon Roberts, der zuletzt vermehrt auf Snaps kam, auf einem guten Weg zu sein scheint.
Ein Statement des Teams?
Wie also kann man das Ganze aus Sicht der Pats erklären? Es gibt einige Ansätze: Tatsächlich gab es, das sickerte in den Stunden nach der Veröffentlichung des Trades durch, wohl auch sportliche Gründe für die Trennung. Vor allem Michael Lombardi, von 2014 bis 2016 Co-Trainer in New England und seither als Analyst bei Fox tätig, trat hier hervor. Collins habe schon das ganze Jahr über gemacht, "was er will" - etwas, das die Patriots-Coaches nicht länger durchgehen lassen wollten. LB-Coach Brian Flores widersprach zumindest vorsichtig.
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Er selbst habe, wie Lombardi bei FS1 am Montag erklärte, Collins häufiger in den Meetings "gesagt, dass wir so gut sind, wie er es will. Aber manchmal wollte er einfach nicht." Bei WEEI fügte er am Dienstag hinzu, dass auch der Einsatz "gelegentlich ein Problem" sei. Undiszipliniertheiten auf dem Platz - für Außenstehende ohne Kenntnis des genauen Play-Calls extrem schwer nachzuvollziehen - sind etwas, das kein Team gerne duldet. Die Patriots wohl am allerwenigsten.
Doch war das wohl nur eine Seite der Medaille. Übereinstimmenden Berichten zufolge waren beide Parteien in den Vertragsverhandlungen meilenweit voneinander entfernt und ohne ernsthafte Chance auf eine Einigung. Collins soll angeblich einen Vertrag in den Dimensionen von Von Miller gefordert haben.
Natürlich könnte das in unmittelbarem Zusammenhang mit möglichen Fehlern auf dem Platz stehen, viel interessanter ist in diesem Zusammenhang aber eine andere Theorie: Die Patriots wollen mit dem Trade ein Zeichen setzen. Ein Spieler vom Contender mit reeller Chance auf einen weiteren Ring in diesem Jahr zu einem der schlechtesten Teams überhaupt, das noch Jahre im Umbruch verbringen könnte, geschickt. Klare Message: New England wird die Elite-Preise nicht bezahlen, das Team steht über allem.
Vor einigen Monaten angefüllt mit kritischen Vertragsverhandlungen wird diese Botschaft an den betroffenen Spielern nicht spurlos vorübergehen. Angeblich waren auf beiden Seiten die Anzeichen auf die Trennung überdeutlich, New England hat die Reißleine gezogen. Ob es in einer möglichen Titel-Saison aber vielleicht zu früh war, wird sich zeigen müssen.
Die Browns-Perspektive - Homerun mitten im Umbruch: Es ist schwer vorstellbar, wie perplex die Verantwortlichen in Cleveland gewesen sein dürften, als Jamie Collins plötzlich verfügbar war und man kann den Browns zu dieser Verpflichtung nur gratulieren. Und auch hierfür gibt es mehrere Gründe.
Natürlich sind die Browns, mehr als jedes andere Team, im Umbruch. Die Folge daraus: Die neue Team-Führung hortet Draft-Picks und trennte sich in der Offseason von fast allen etablierten Säulen - Joe Thomas ist die große Ausnahme, und um den Tackle ranken sich aktuell wieder einmal hartnäckige Trade-Gerüchte.
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Das bedeutet: Cleveland hat viele junge Spieler, die zu günstigen Rookie-Verträgen spielen und die gleichzeitig einige erfahrene Leader brauchen. Thomas sowie Quarterback Josh McCown und Receiver Terrelle Pryor können das offensiv sein, defensiv rückt jetzt der 27-jährige Collins in der Hackordnung schnell ganz weit nach oben. Vor allem Pryor und Collins sowie zumindest mittelfristig auch Thomas können Spieler sein, um die Cleveland jetzt auf Jahre hin ein Team aufbauen kann - der Kern eines neuen Browns-Teams.
Darüber hinaus hat Cleveland, ganz im Gegensatz zu den Patriots, keineswegs das Cap-Problem. Die Browns werden aufgrund der vielen günstigen Verträge im März mit einem vollen Geldbeutel dastehen, was es ihnen erlaubt, Collins, dessen Vertrag auch nach dem Wechsel nur bis Saisonende läuft, langfristig zu binden.
Win-Win-Situation für Cleveland
Und nicht nur das - die Browns können den neuen Vertrag dann zudem so strukturieren, dass die Großteil der finanziellen Last auf die ersten Jahre verteilt wird. Dadurch stehen in drei oder vier Jahren, wenn Cleveland womöglich mit ganz anderen Ambitionen dasteht und zudem seine jetzt noch günstigen Rookies halten will, trotzdem finanzielle Mittel zur Verfügung.
Dass Collins sportlich wohl jedes Team in der Liga ein Upgrade darstellt, ist ohnehin klar - doch der MMQB hatte auch darüber hinaus noch eine interessante Perspektive parat. So sollen die Coaches in Cleveland alles andere als unglücklich darüber sein, dass Collins gelegentlich aus dem Schema der Defense herausbricht. Head Coach Hue Jackson habe vor dem Duell seiner Browns mit den Patriots vor einigen Wochen gegenüber Reportern gar gesagt: "Die Art und Weise, auf die er sein Ding macht, ist okay für mich."
Und sollten Clevelands Coaches tatsächlich mit Collins nicht klar kommen, was überaus überraschend wäre, dann könnten ihn die Browns nach der Saison einfach ziehen lassen - und selbst wieder einen Compensatory Draft-Pick einstreichen, wenn der hochtalentierte Linebacker anderswo unterschreibt. Aus Browns-Sicht ist es ohne Wenn und Aber eine Win-Win-Situation.