Wenn man dem eigenen Motto treu bleibt ...

Stefan Petri
07. Februar 201717:43
Aus und vorbei: Ein niedergeschlagener Matt Ryan verlässt das Feld, während die Patriots feierngetty
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Den spektakulären Einbruch der Atlanta Falcons im Super Bowl LI wird so schnell niemand vergessen - die Beteiligten schon gar nicht. Als Sündenbock bieten sich gleich mehrere Beteiligte an. Dabei hat das Team die bisherige Taktik einfach nur konsequent durchgezogen. Immerhin: Düster sieht die Zukunft nicht aus.

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Als Falcons-Besitzer Arthur Blank kurz nach dem größten Kollaps der Super-Bowl-Geschichte in den Katakomben des NRG Stadiums aus der Umkleidekabine seines Teams kam, warteten Familienangehörige vor der enormen Doppeltüre mit dem Super-Bowl-LI-Emblem. Darunter auch ein vielleicht zehnjähriger Junge mit Falcons-Kappe und Falcons-Trikot, heftig schluchzend. Blank, selbst ein Bild des Elends, beugte sich zum Jungen herunter und nahm ihn tröstend in die Arme.

Wer bei diesem Anblick, auch als Die-Hard-Patriots-Fan, nicht mit dem unterlegenen Gegner fühlte, der muss ein Herz aus Stein haben. Und wenn man sich die Reaktionen der ungläubigen, fassungslosen, einfach nur zutiefst geschockten Falcons-Spieler anschaut, dann kann man nur hoffen, dass Blank zuvor auch in der Kabine ein paar Umarmungen verteilt hat.

"Irrsinn. Purer Irrsinn. Wir hatten unsere Chancen. Wir haben in Halbzeit eins quasi einen Shutout gespielt. Nur ein guter Spielzug mehr ..."

"Dieses Gefühl werde ich so schnell nicht vergessen. Das ist scheiße."

"Wir bekommt man dieses Gefühl aus der Magengrube? Gar nicht. Niemals. Das wird weiter wehtun. Es wird mich auf ewig verfolgen."

"Mir fehlen die Worte. Was soll man da noch sagen?"

Das Trauma irgendwie verarbeiten

Nun herrscht ein ähnlicher Frust ganz sicher bei jedem Super-Bowl-Verlierer vor, ja sogar in den Playoff-Runden zuvor. Das Hadern mit dem Schicksal, Haareraufen über die eigenen Fehler. Hätte, wäre, wenn doch nur.

Doch selbst wenn man in der NFL schnell mit Superlativen zur Hand ist: Was die Falcons am Sonntagabend in Houston mitmachten, war schlicht und ergreifend die schlimmste NFL-Niederlage aller Zeiten. So massiv hatte sprichwörtlich noch niemand versagt.

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Ein ganzes Team, eine ganze Stadt am Boden. Wie verkraftet man so etwas?

Vielleicht, indem man sich stur ins Filmstudium stürzt. Der Routine hinterherjagen, die einen schon die gesamte Karriere über begleitet hat. Vielleicht ist so ein bisschen Normalität zu finden. Festhalten am eisernen Sportlergesetz: Die eigenen Fehler analysieren, abhaken, und es dann beim nächsten Mal besser machen. "Zehn Mal pro Tag" werde er sich das Spiel wahrscheinlich anschauen, sagte Falcons-Safety Ricardo Allen.

Die Patriots alt aussehen lassen

Was er da zu sehen bekommen wird, dürfte ihm fast 45 Spielminuten lang gefallen - was die restlichen Minuten wohl nur noch bitterer macht. Aber über fast drei Viertel hatte der Herausforderer aus Georgia dominiert. Es war eine Demonstration: Die sonst so unerschütterlichen Patriots wirkten angesichts des pfeilschnellen, unbekümmerten Gegners alt, überfordert, rat- und hilflos.

Man hätte es zuvor kaum für möglich gehalten: Niemand hatte in der Saison so wenig Punkte zugelassen wie New England, doch von den Falcons wurden sie fein säuberlich filetiert - im Passing und im Running Game. Umgekehrt sprühten Atlantas Rookies in der Defense vor Spielfreude, und der Pass Rush machte Tom Brady derart zu schaffen, dass von dessen GOAT-Status lange überhaupt nichts zu sehen war.

28:3 führte man so zur Mitte des dritten Viertels, und auch als die Patriots dann mit dem Mute der Verzweiflung - und Fourth Downs - zu ihrem ersten Touchdown kamen, gab es noch keinen Grund zur Panik. Ja, man punktete nach dem eroberten Onside Kick, zugegebenermaßen ein Rückschlag, aber die Pats konterten ihrerseits nur mit einem Fünf-Minuten-Drive zum Field Goal. 28:12, Ballbesitz, knapp zehn Minuten zu spielen.

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Und dann ...

Was dann folgte ... nun, es wird einen Super-Bowl-Ring für alle Beteiligten brauchen, um darüber hinwegzukommen. Mindestens.

Third-and-one von der eigenen 36. Sack. Fumble. Turnover. Touchdown Patriots. Nur noch 28:20.

Dann ein absoluter Wunder-Catch von Julio Jones - bei einem Falcons-Triumph vielleicht der Moment des Spiels. First Down an der gegnerischen 22-Yard-Linie. "Das war ein fantastischer Catch." (Dan Quinn) "Damit waren wir in Field-Goal-Range." (Taylor Gabriel). "Ich dachte, damit holen wir Punkte und machen den Sieg fest." (Vic Beasley Jr.)

Stattdessen. Ein Run für Raumverlust. Sack. Holding-Flagge. Incomplete. Punt von der gegnerischen 45. Touchdown. Ausgleich. Overtime.

"Ich wünschte, ich hätte den Ball irgendwie weggeworfen und diese Yards nicht verloren." (Matt Ryan)

Die Münze vor der Verlängerung war im Bunde mit dem Gegner, die eigene Defense war nach einer zweiten Halbzeit fast ohne Pause schlicht platt. "Wir hatten nichts mehr im Tank", wusste der Head Coach anschließend.

Alle wussten es. Touchdown New England. Game Over.

Sündenbock gesucht

Es muss doch einen oder mehrere Schuldige für dieses Desaster geben, oder? Devonta Freeman verpatzte seinen Block und verursachte so den Sack-Fumble. Matt Ryan hielt den Ball bei seinen Sacks zu lange. Offensive Coordinator Kyle Shanahan wendete sich in der zweiten Hälfte vom Running Game ab, obwohl Freeman bis zum Fumble über 8 Yards pro Carry erwirtschaftet hatte. Und vor allem Dann Quinn, der in Field-Goal-Reichweite kurz vor Schluss einfach zu viel riskiert hatte.

Doch der Head Coach wehrte sich gegen diese Lesart. Man habe natürlich an das Field Goal gedacht, bestätigte er im Anschluss. "Aber wenn man die Chance [auf einen Touchdown] hat ... Wir wussten ja, wie gut unser Gegner war. Wir wollten bei jeder sich bietenden Möglichkeit angreifen. Wenn das dann schiefgeht, ist es natürlich sehr einfach in Frage zu stellen." Man habe einfach daran geglaubt, noch mehr Yards herausholen zu können, und sei es nur für ein leichteres Field Goal.

Man könnte meinen, aus diesen Worten Trotz herauszuhören. Und ganz sicher wird Quinn noch die eine oder andere Nacht wach liegen und grübelnd die Decke anstarren.

Und doch: Kann man ihm wirklich vorwerfen, den Stärken seines Teams vertraut zu haben?

Sich selbst treu geblieben

Ja, sie hätten nach Jones' Catch laufen, Zeit von der Uhr nehmen und das durchaus machbare Field Goal versuchen müssen. Aber Quinn - und Offensive Coordinator Shanahan - spielten den Stiefel weiter, der sie überhaupt erst zum Super Bowl gebracht hatte: Aggressiv, unbekümmert, nicht auf Sicherheit bedacht. Frei nach dem Motto: Field Goal ist gut, Touchdown ist besser. Die Offense hatte bis dahin ja ein insgesamt überragendes Spiel gemacht. Warum also nicht aufs Ganze gehen?

Wie erwähnt hatten die Coaches dabei auch den Gegner vor Augen: Die NFL-Geschichte des neuen Jahrtausends ist voll von besiegten Franchises, die gegen die Patriots und Mastermind Bill Belichick im Angesicht einer Führung auf Sicherheit setzten, zwei Gänge herunterschalteten, und das schließlich bitter bereuten. Wer den Falcons vor der Partie eben diese Aggressivität empfohlen hatte - und das waren viele - darf sich nicht darüber beschweren, dass die sich in der entscheidenden Phase an den Gameplan hielten und den Pflock endgültig in das noch schlagende Patriots-Herz rammen wollten. Hätte es funktioniert, sie wären dafür gefeiert worden.

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Das es am Ende nicht zum Sieg reichte, sollte man übrigens nicht nur den Mannen in rot ankreiden. Ganz ehrlich: Wenn man einem Team zugetraut hätte, einen 3:28-Rückstand im Super Bowl aufzuholen, es wäre die Belichick-Brady-Dynastie gewesen.

Was nimmt man mit in die Offseason? "Es ist schwer, heute Abend Lehren zu ziehen", schluckte Quinn. "Aber ich kann eines sagen: Man kann erst wirklich unnachgiebig sein, wenn einem etwas weggenommen wurde oder man es nicht bekommen hat. Wir sind ein zähes Team." Man fange gerade erst ein. Ryan blies ins selbe Horn: "Wir sind ein junges, ein gutes Team. Hoffentlich sind wir nächstes Jahr in der gleichen Situation."

Trotz allem optimistisch

Die Carolina Panthers sollten in dieser Hinsicht als mahnendes Beispiel dienen. Fast unüberwindlich schienen sie 2015, doch nach der Niederlage im Super Bowl 50 brauchte es nicht viel, um das Gerüst der Mannschaft von Grund auf zu erschüttern. Falcons-GM Thomas Dimitroff sollte also seine Hausaufgaben machen.

Ganz oben auf der To-do-Liste: Ein Ersatz für Shanahan, der als Head Coach bei den San Francisco 49ers übernimmt. Es sieht danach aus, als werde man die entstandene Lücke durch die Beförderung eines Assistenten schließen, in der Presse wurde zudem Chip Kelly oder Steve Sarkisian von Alabama als möglicher Kandidat genannt. Wer es auch wird: Das bestehende Scheme sollte nach Möglichkeit nicht angefasst werden.

Auch am Kader muss geschraubt werden, das verrät nicht zuletzt die Regular-Season-Bilanz von 11-5. In der Offensive Line, bei den Edge Rushern und Cornerbacks besteht Handlungsbedarf. Macht Altmeister Dwight Freeney weitert? Bekommt Freeman den geforderten neuen Vertrag?

Werden hier Lösungen gefunden, bestünde auch 2017 Grund zum Optimismus: Die Rookies in der Defense könnten den nächsten Schritt machen, dazu ein Matt Ryan in MVP-Form, ein gesunder Julio Jones ... gepaart mit einem erfolgreichen Draft sollte man erneut oben mitspielen können.

Zunächst einmal muss man den Nackenschlag vom Sonntag jedoch erst einmal verarbeiten. Und sich das Motto des Teams zu eigen machen: Rise Up.

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