Der Basketball-Konfuzius, der Zen-Lehrling von Phil Jackson - und einer der erfolgreichsten Bundestrainer aller Zeiten. Der ehemalige DBB-Trainer Henrik Dettmann mischt mit Finnland Europa auf und verpasste nur knapp das Viertelfinale. Der 55-jährige Finne über den sensationellen Erfolg in Slowenien und sein Frankenstein-Prinzip.
spoxSPOX: Auch wenn das Viertelfinale knapp verpasst wurde: Finnland ist neben der Ukraine die Sensation der EM. Ihr Team besiegte unter anderem die Türkei, Russland, Griechenland und zum Abschluss Gastgeber Slowenien. Gibt es Parallelen zur EM 2001, als Sie mit Deutschland ähnlich überraschend Vierter wurden?
Henrik Dettmann: Lustig, dass Sie das fragen, ich habe erst vor einigen Tagen meinen Assistenztrainern erzählt, wie mich diese EM an das Turnier von vor 12 Jahren erinnert. Die Energie, der positive Spirit, es kommen frühere Bilder wieder hoch. Wie damals in Deutschland entstand in Finnland ein ähnlicher Hype. Der Erfolg gegen Griechenland war sogar die erste Meldung in der finnischen Variante der "Tagesschau". Für die Zwischenrunde musste sogar extra ein Charterflieger gebucht werden, um 100 Fans nach Ljubljana zu bringen.
SPOX: Gefiel Ihnen die Aufregung? Oder hätten Sie sich etwas mehr Ruhe gewünscht?
Dettmann: Mir haben vor allem die Tage in Koper während der Vorrunde gefallen. Die Atmosphäre war etwas Besonderes, weil die Fans und die Mannschaft eine sehr interaktive Beziehung gepflegt haben. Wir waren eine Nationalmannschaft zum Anfassen - und das ist die Essenz des Sports. Ich bewundere die deutsche Fan-Kultur, die sehr warm ist. Diese Vibrations spürte man in Koper. Im Eishockey geht es beispielweise viel aggressiver zu.
SPOX: Es folgt ein Aber.
Dettmann: Aber: Mich hat es sehr gestört, wie sich die finnischen Journalisten vom Hype haben anstecken lassen und daraus eine völlig überzogene Erwartungshaltung abgeleitet haben. Ich persönlich bin überrascht, wie gut meine Mannschaft gespielt hat. Wie schnell sie als Kollektiv zusammengefunden hat und wie groß die Entschlossenheit von jedem Einzelnen war. Doch als wir gegen Kroatien hoch verloren haben, gab es von den Medien nur Kritik. Das hat mich verletzt und sehr gefrustet.
SPOX: Es heißt, Sie lesen in solchen Momenten Bücher aus dem Zen-Buddhismus, um sich zu beruhigen. Stimmt das?
Dettmann: Das ist richtig. Wenn ich sauer bin, möchte ich mich mit Gedanken auseinandersetzen, die den Zen widerspiegeln. Nachdem ich die finnischen Zeitungsberichte gelesen hatte, brauchte ich einen Ausgleich und schnappte mir das letzte Buch von Phil Jackson und las eine seiner Kurzgeschichten. Jackson erinnert mich an meinen früheren Mentor Robert Peterson, der 2003 leider verstarb. Er kam direkt nach dem zweiten Weltkrieg als Missionar nach Finnland und verschrieb sich irgendwann dem Basketball als seine neue Religion. Von ihm lernte ich viel über das Spiel. Aber auch, dass es am Ende eben nur ein Spiel ist und nicht die Welt untergeht, wenn man mal verliert.
SPOX: Sie gelten als "Konfuzius des Basketballs". Ein Kompliment oder ein versteckter Seitenhieb?
Dettmann: Ein Kompliment. Zumindest rede ich mir das ein. (lacht)
SPOX: Eine von Ihnen verfasste wissenschaftliche Abhandlung über die Triangle Offense beginnt mit einem Verweis auf Zen-Meister Shunryu Suzuki und sein Zitat: "Wenn ihr eure Schafe oder eure Kühe unter Kontrolle halten wollt, gebt ihnen eine große, weite Wiese." Was hat das mit Basketball zu tun?
Dettmann: Der Satz von Shunryu Suzuki ist eines meiner wichtigsten Prinzipien, die ich als Trainer befolge. Für mich ist der Sport keine Aneinanderreihung von mechanischen Prozessen. Es geht um den Kern eines Lebewesens und von was dieser angetrieben wird. Eine Kuh ist am glücklichsten und gibt die beste Milch, wenn sie sich frei fühlt. Genau das gleiche gilt für einen Basketballer. Ein Basketballer spielt am besten, wenn er im Moment lebt und so viel Vertrauen spürt, dass er die Kontrolle verliert.
SPOX: Sie wollen, dass Ihre Spieler die Kontrolle verlieren?
Dettmann: Absolut. Für mich ist es das ultimative Ziel des Coachings, Basketballer so zu formen, dass sie irgendwann die Kontrolle verlieren und ein Flow entsteht. So etwas ist jedoch nur möglich, wenn man als Trainer bereit ist, loszulassen und die nötige Freiheit zu gestatten. Das ist allerdings nicht so einfach: Ich bin ein Coach und wie jeder Coach bin ich ein Kontrollfreak. Es ist ein täglicher Kampf mit mir selbst.
SPOX: Sie setzen auf die Mitbestimmung der Spieler. Es geht sogar so weit, dass Ihr Kapitän Hanno Möttölä nach seinem Kreuzbandriss beim Team blieb und in den Auszeiten die Taktik vorgab, während Sie sich im Hintergrund hielten.
Dettmann: Dass Hanno nach einer so schweren Verletzung abreist, wäre normal gewesen. Ich wollte ihn hier behalten, aber das Wichtigste ist: Er selbst wollte es auch. Phil Jackson benutzt häufig das Wort "Brotherhood", Bruderschaft. Dieser Zusammenhalt ist unsere einzige Chance - warum sollte ich also etwas dagegen haben, wenn Hanno Verantwortung in der zwischenmenschlichen Kommunikation übernehmen will?
SPOX: Sie sind sehr gut mit Svetislav Pesic befreundet. Wie passt das? Ihr Ansatz scheint komplett konträr zu seinem zu sein.
Dettmann: So konträr ist das gar nicht. Ich möchte zwar, dass die Spieler irgendwann so weit sind, dass sie die Kontrolle verlieren können und es dem Wohle der Mannschaft dient. Wobei man davor die Spieler lehren muss, wie wichtig Selbstkontrolle ist. Erst wenn man sich selbst kontrolliert, kann man die Kontrolle verlieren. Das und vieles mehr habe ich von Svetislav Pesic gelernt. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass ich das meiste im Basketball und im Leben von ihm gelernt habe. Und wir sind uns ähnlicher, als viele glauben. Vor allem haben wir beide eine gehörige Portion Temperament. (lacht)
SPOX: Was Sie beide außerdem eint: eine gewisse Skepsis gegenüber der NBA. Was sagen Sie zu den Ambitionen Ihres Point Guards Petteri Koponen, dessen Rechte bei den Dallas Mavericks liegen?
Dettmann: Ich trainiere ihn, seit er 18 Jahre alt ist. Und ich weiß, dass es sein Ziel ist, sich mit den Besten der Besten zu messen. Und die spielen nun mal in der NBA. Was ich zu bedenken gebe: Die moralischen Vorstellungen in der NBA sind komplett widersprüchlich zu unserem Ideal einer Brotherhood. Andererseits ist Petteri so reflektiert wie Dirk Nowitzki: Er durchschaut die dunklen Kräfte des NBA-Marketings und behält seine Linie. Wenn ihn ein NBA-Team auswählt, bin ich mir sicher, dass er sich durchsetzt.
Hier geht's zu Teil II: "Das hat mich tief enttäuscht! Ich war wirklich angepisst!"
SPOX: Sie sagten während der EM zur "DPA": "Der Weg der alten Schule funktioniert: Wenn man arm ist, muss man bescheiden sein." Anders formuliert: Sind die NBA-Profis der von Ihnen besiegten Türken oder Russen nicht bescheiden?
Dettmann: Ich werde mich nie negativ über den Gegner äußern. Das gebietet der Respekt. Meine Mutter hat mir beigebracht: "Wenn du nichts Gutes über jemandem zu sagen hast, sag lieber nichts." Allerdings kann man auf dem Court sehen, wer bescheiden ist und wer nicht.
SPOX: Sie kehrten 2004 in die Heimat zur finnischen Nationalmannschaft zurück. Hatten Sie bereits da konkrete Vorstellungen?
Dettmann: Als ich zurückkam nach Finnland, war ich geschockt darüber, was passiert ist in der Zwischenzeit. Oder besser gesagt: Was nicht passiert ist in den 6 Jahren. Alles war beim Verband wichtig, nur nicht der Sport. Es gab im Büro 23 Festangestellte, aber ich war der einzige, der für den Basketball an sich eingestellt wurde. Der Rest: Bürokratie. Daher plante ich vier Schritte. Erster Schritt: Dem Basketball verbandsintern zu seinem Recht verhelfen. Zweiter Schritt: Ein sportliches Ziel definieren. Dritter Schritt: Die richtigen Spieler dafür finden. Vierer Schritt: Eine Identität definieren. Der letzte Punkt ist der Grund, warum wir keinen Ausländer mit einem finnischen Pass ausstatten wollen. Das wäre respektlos deinem Basketball-Programm und deinem eigenen Land gegenüber.
SPOX: Ihrem Comeback mit Finnland ging eine unschöne Trennung vom DBB voraus, nachdem die EM 2003 enttäuschend verlaufen war. Sind Sie noch immer verbittert?
Dettmann: Wir alle haben unsere guten und schlechten Tage. Ich bin mir sicher, dass jeder der damals Beteiligten sich im Nachhinein wünschen würde, dass es anders gelaufen wäre. Und für mich persönlich war bei der EM 2003 nicht alles schlecht. Ich habe daraus sehr viel gelernt und profitiert. Vor allem weiß ich seitdem, dass ein gesunder Spieler immer wertvoller ist als ein verletzter Spieler. Bitte nicht falsch verstehen. Ich hatte keinen Streit und keiner hat mich dazu gezwungen, Dirk Nowitzki einzusetzen. Es war meine Entscheidung - und die würde ich heute anders treffen.
SPOX: Seit jener missglückten EM 2003 hängt Ihnen in Deutschland der Ruf nach, zu wohlwollend auf die Spieler einzugehen. Sind Sie ein Players' Coach?
Dettmann: Im traditionellen Verständnis: ja. Wobei ich finde, dass jeder Trainer ein Players' Coach sein sollte. Der Basketball gehört den Spielern, nicht den Trainern, nicht den Funktionären, auch nicht den Referees. Was mich während der EM am meisten aufgeregt hat: Während einer Begegnung gibt einer meiner Spieler einem Teamkollegen auf dem Court einen Ratschlag. Der Referee kommt daraufhin zu mir mit der Ansage, dass sie sich nicht unterhalten dürften. Das hat mich tief enttäuscht! Ich war wirklich angepisst! Der Basketball ist ein Players' Game und wenn jemand seinem Bruder im Sinne der Brotherhood helfen will, ist es nicht der Job des Schiedsrichters, das zu verbieten. Wir alle sind nur da, um den Spielern bei Ihrer Ausübung Ihres Berufs zu helfen!
SPOX: Diese Einstellung mag löblich sein - dennoch: Macht sich ein Players' Coach nicht zu angreifbar? 2001 und 2002 war Ihre Art noch genau richtig gewesen, bevor sich 2003 die Wahrnehmung ins Gegenteil verkehrte.
Dettmann: Die Leute, die vorgeben, alles zu verstehen, sind genau die, die nichts verstehen. Ich nenne es den Frankenstein-Effekt: Man möchte etwas Gutes und erweckt dabei ein Monster, das sich gegen den Schöpfer wendet. Ich bin überzeugt, dass meine Art des Coachings dem deutschen Basketball geholfen hat. Übertragen heißt das: Ich habe für den DBB den Players' Coach als Monster erschaffen. Im Misserfolg war meine Art des Coachings plötzlich komplett falsch. Dabei war der Hauptgrund für das Abschneiden der EM 2003 die Verletzung von Nowitzki.
SPOX: Wie ist mittlerweile das Verhältnis zum DBB?
Dettmann: In der Interaktion von Individuen kann es zu Ungewittern kommen. Und das war damals der Fall zwischen mir und dem DBB. Aber das Verhältnis ist seit Jahren wieder sehr gut. Wir respektieren uns. Und ich muss sagen: Wir werden älter - und damit weiser.
SPOX: Wie blicken Sie auf die 6 Jahre beim DBB zurück? Neben Europameister Pesic sind Sie der erfolgreichste Bundestrainer aller Zeiten als EM-Vierter 2001 und WM-Dritter 2002.
Dettmann: Viel wichtiger als die beiden Erfolge war für mich die Erkenntnis, dass ich das Vertrauen gerechtfertigt habe. Ich lieh mir die Nationalmannschaft von 1997 bis 2003 aus in der Hoffnung, dass ich sie in einer besseren Verfassung zurückgebe als am Anfang. Das ist mir gelungen: In dieser Zeit erreichte der DBB ein komplett neues Niveau: Im sportlichen Bereich, im Marketing, bei den Finanzen, im Knowhow aller Abteilungen. An solchen Parametern messe ich meine Arbeit. Daher sind mir bei der diesjährigen EM die Siege von Finnland gegen die Top-Teams gar nicht so wichtig. Viel entscheidender als die nackten Ergebnisse ist, dass wir Kontinuität zeigen: Als ich 2004 wieder in Finnland anfing, waren wir 32. In Europa. Jetzt haben wir zum zweiten Mal in Folge die Zwischenrunde der 12 besten Teams erreicht. Neben uns ist das nur Spanien, Frankreich, Litauen, Serbien, Griechenland und Slowenien gelungen. Das ist der wahre Erfolg von Finnland.