Wladimir Klitschko hat in London seine fünfte und vielleicht letzte Niederlage als Profi-Boxer hinnehmen müssen. Im Showdown der Generationen zeigte Dr. Steelhammer zwar eine starke Leistung, am Ende hatte allerdings der weiterhin ungeschlagene Anthony Joshua die Nase knapp vorn. Die Wachablösung im Schwergewicht ist somit endgültig vollzogen - oder doch nicht?
"Der bessere Mann hat heute gewonnen - und es war ein großer Moment für den gesamten Boxsport", erklärte ein gezeichneter Wladimir Klitschko nach einem epischen Schlagabtausch mit Anthony Joshua, der im Wembley Stadium für beide Kontrahenten mehr als nur ein Duell um die Gürtel der WBA, IBF und IBO war.
Es war eine Aussage, die von wahrer Größe zeugte. Denn gewonnen hatte nicht der 41-jährige Ukrainer, sondern sein 14 Jahre jüngerer Widersacher aus London.
"Anthony war besser als ich. Es ist für mich sehr schwer, dass ich es nicht geschafft habe. Ich hatte es fest vor, aber es hat einfach nicht funktioniert", fuhr Klitschko fort. Die Enttäuschung war ihm bei jedem Wort deutlich anzumerken.
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Gegen alle Prophezeiungen
Der tiefe Cut über dem linken Auge zeugte auch Minuten nach dem Abbruch durch Ringrichter David Fields von einer großen Schlacht. Einer Schlacht, wie sie der frühere Weltmeister in seiner langen Karriere öfters geschlagen hat. Einer Schlacht, die ihm viele im Vorfeld aber nicht mehr zugetraut hatten.
Im Showdown der Generationen gegen den schnelleren und stärkeren Joshua wurde Klitschko ein verheerendes Ende seiner Laufbahn prophezeit. Eine erneute Demütigung. Alt. Chancenlos. Unwürdig.
Vor allem die desaströse Niederlage gegen Tyson Fury im Dezember 2015 und die darauf folgende 17-monatige Pause hingen Klitschko nach. Die Zeit mache vor niemandem Halt, auch nicht vor einem Weltmeister der in 28 Titelkämpfen stand, hieß es. Dass Klitschko, der vor dem Fury-Fight von 2004 bis 2015 keine Niederlage hinnehmen musste, seit 2005 nicht mehr am Boden war und in dieser Zeit stolze 18 Mal in Serie seine Titel verteidigen konnte, eine ernsthafte Gefahr für Joshua sein würde, glaubten vor der ersten Glocke die wenigsten. Er sei die Vergangenheit, sein Gegner die Zukunft.
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In London ging es allerdings weder um die Vergangenheit noch um die Zukunft, es ging einzig und allein um die Gegenwart. Und in dieser zeigte Klitschko, dass er noch einiges drauf hat. Getrieben von dem Willen, die Kratzer, die der Kampf gegen Fury in seinem Vermächtnis zweifelsohne hinterlassen hatte, zu beseitigen, warf der Ukrainer alles in die Waagschale, was er hatte. Auch wenn er letztlich daran scheiterte, auf seinen Thron im Schwergewicht zurückzukehren, so hat das Gezeigte Respekt verdient.
"Es war einer der besten Fights, die ich jemals gesehen habe. Beide Kämpfer haben einen großen Respekt verdient. Heute Nacht geht es nur darum, zu feiern - und zwar beide Boxer und den gesamten Sport", erklärte Joshuas Promoter Eddie Hearn und traf damit den Nagel auf den Kopf. Der Aussage des 37-Jährigen aus Essex vorausgegangen waren nämlich elf Runden, die der Sport gebraucht hat.
Ein Duell auf Messers Schneide
Nach einem taktischen, aber nicht zähen Beginn, der als Anerkennung der großen Knockout-Gefahr des Gegners gewertet werden kann, lieferten sich Klitschko und Joshua ein Duell auf Messers Schneide. Beide Boxer agierten aber nicht einfach nur passiv und warteten auf Fehler der Gegenseite, sondern suchten aktiv nach Lücken und Möglichkeiten. In einer wilden fünften Runde musste Klitschko in der Folge zu Boden, für Joshua ging es eine Runde später zum ersten Mal in seiner Karriere auf die Matte. Klitschko befand sich zu diesem Zeitpunkt endgültig in Joshuas Kopf, so wie der Brite durch harte Treffer in dem seinigen war.
Was folgte, war für AJ bei seiner Feuertaufe vor 90.000 frenetischen Zuschauern ein Moment, der seine ganze Karriere prägen kann. Der 27-Jährige kam nach der krachenden Rechten von Dr. Steelhammer, der gleichzeitig bewies, dass er seinen Spitznamen noch immer völlig zu Recht trägt, zurück auf die Beine. Ob er zu diesem Zeitpunkt überhaupt wusste, wo er sich befindet, weiß im Nachhinein wohl nur er selbst. Was jedoch für alle zu sehen war, war das Herz, das er im Ring offenbarte.
Er war vom Jäger innerhalb von Minuten zum Gejagten geworden, atmete schwer. Es schien, als hätte Klitschko nicht nur die Kontrolle übernommen, sondern würde innerhalb der nächsten Runden auch dem steilen Aufstieg seines in 18 Kämpfen ungeschlagenen Gegners einen herben Dämpfer verpassen. Es gelang ihm nicht. Stattdessen kam Joshua zurück, auch wenn es ein paar Runden dauerte.
"Er war am Ende der fünften Runde platt. Aber was dann folgte, zeigt seinen wahren Charakter. Es gibt keinerlei Fragen mehr über seinen Willen. Als Klitschko ihn erwischt hat, kam er zurück. Er kam zurück und hat knallharte Schläge rausgehauen. Es war brillant", analysierte Tony Bellew, der vor wenigen Wochen einen verletzten David Haye in die Schranken verwies, das Comeback seines Landsmannes. Wenngleich Joshua auch im Falle einer Niederlage weiterhin die Zukunft gewesen wäre, hätte ihn eine solche für die nächsten Jahre und vielleicht sogar bis zum Ende seiner Karriere verfolgt.
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Hochachtung gebührt beiden Boxern
Doch nicht nur Joshua zeigte ein großes Herz, sondern auch Klitschko. Bis zur elften Runde war es ein enges Duell, das jeder der beiden Boxer als Sieger hätte verlassen können. Bis zu den entscheidenden Sekunden des Kampfs hatten die Punktrichter Don Trella (96:93) und Nelson Vazquez (95:93) Joshua vorne, Steve Weisfeld den Kampf jedoch mit 95:93 für Klitschko gewertet. Im Endeffekt sind diese Zahlen natürlich wertlos, denn in Runde elf endete die starke Vorstellung von Klitschko abrupt.
Joshua rüttelte den Ukrainer zunächst mit einem rechten Aufwärtshaken durch, ehe es nach einer Linken das zweite Mal für Klitschko zu Boden ging. Schwer angeschlagen richtete er sich wieder auf, nur um im weiteren Hagel von Kombinationen und Treffern nach einer Linken erneut auf der Matte zu landen. Und wieder stand Klitschko wenige Sekunden später auf seinen Beinen. Den Mythos vom Glaskinn ließ er damit endgültig hinter sich.
Nach solchen knallharten Treffern eines Power-Punchers wie Joshua weiter boxen zu können, sollte selbst dem letzten Kritiker Respekt abnötigen.
Ebenso viel Hochachtung verdient allerdings auch der Sieger, der wie ein junger Löwe eiskalt nachsetzte und den Job zu Ende brachte.
Das Duell zwischen Klitschko und Joshua im RE-LIVE
"Ich bin nicht perfekt, aber ich versuche mein Bestes", erklärte Joshua nach einer Leistung, die seine Ambitionen nicht nur untermauerte, sondern auch WBC-Champion Deontay Wilder am Ring zu denken gegeben haben dürfte. "Ich bin etwas emotional, da ich genau weiß, dass sehr viele Leute an mir gezweifelt haben. Ich werde immer besser. Manchmal kann man ein noch so phänomenaler Boxer sein, dennoch geht es vor allem um Charakter. Wenn man zwischen den Seilen steht, dann findet man heraus, wer man wirklich ist."
Werbung für den Sport und eine unerwartete Wendung
Er habe sich "das Herz aus dem Leib gekämpft", schob Joshua nach. In der Tat war der Abend große Werbung für den gesamten Sport - und zwar mit allem Drum und Dran.
Beide bewiesen im Vorfeld, dass es keinerlei Trash-Talk, Drohungen oder gar fliegende Tische braucht, um ein Aufeinandertreffen zu promoten. Es reicht, wenn sich Fighter mit großer Klasse gegenüberstehen. Der Umgang war stets von dem großen Respekt beider Lager geprägt. Auch im Ring bekamen die Fans einen sauberen Kampf ohne unnötige Spielereien zu sehen. Gleiches gilt für die Äußerungen danach.
Das spannende Duell im Wembley war ein Boxkampf, der diese Bezeichnung auch verdiente. Keiner der Duellanten ging dem Schlagabtausch aus dem Weg, jeder suchte Möglichkeiten, diesen vorzeitig zu seinen Gunsten zu entscheiden, ohne das Gefecht in eine wilde Schlägerei ausarten zu lassen.
Das ist Boxen. Das ist der Sport, den wir alle so sehr lieben.
Die Frage nach der Zukunft
Wie es weitergeht, muss die Zukunft zeigen. Joshua hat mit nunmehr 19 Knockout-Siegen in 19 Kämpfen die längste noch laufende Serie aller aktiven Weltmeister, er ist aufgrund seines Werdegangs das perfekte Vorbild und extrem gut vermarktbar: Er ist geläutert durch das Boxen, kann sich ausdrücken, benehmen und bringt nebenbei mit dem natürlichen Charme seines Lausbuben-Lächelns sowie einem guten Aussehen alles mit, um das Aushängeschild einer neuen Ära zu werden. Wilder ist aber mit Sicherheit die naheliegendste Option.
Für Klitschko war es der 29. Kampf um einen der Titel der großen Verbände und eine Leistung, die einen den Hut ziehen lässt. Und das völlig unabhängig oder gerade trotz des Ergebnisses. Der Auftritt im Wembley wäre ein würdiger Abschied. Doch ob es wirklich so weit kommt, steht alles andere als fest.
"Wir haben in der Tat die Option auf einen Rückkampf. Ich muss jetzt analysieren, was genau passiert ist. Ich muss schauen, wie es für mich weiter geht", erklärte Klitschko, der zuvor in seiner Karriere noch nie zwei Niederlagen in Folge hinnehmen musste, etwas überraschend nach dem Duell.
Normalerweise müsste die Empfehlung lauten, es bei einem Kampf gegen Joshua zu belassen und die Handschuhe an den Nagel zu hängen. Aber was ist nach solch einem Abend schon normal?