Raymond van Barneveld im Interview: "Ich fürchtete mich vor den betrunkenen, schlägernden Hooligans"

Nino Duit
25. Dezember 202114:40
SPOXgetty
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Comeback, Turniersieg, Zusammenbruch auf der Bühne: Raymond van Barneveld hat turbulente Monate hinter sich. Im Interview erzählt der 54-jährige Darts-Profi aus den Niederlanden von seinen bewegenden Erlebnissen. Außerdem spricht van Barneveld über Toni Kroos, seine Tränen nach dem Fußball-WM-Finale von 1974 und schlägernde West-Ham-Hooligans.

Dieser Text erschien zuerst am 8. Juli 2021 und gehört zu den beliebtesten Texten des Jahres.

Bei der Darts-WM verlor van Barneveld in der 2. Runde gegen Rob Cross, am Samstag wurde bekannt, dass der Niederländer im Nachgang positiv auf das Corona-Virus getestet wurde.

Herr van Barneveld, im Februar haben Sie wenige Wochen nach Ihrem Comeback wieder ein Turnier gewonnen. Wie haben Sie den Tag danach verbracht?

Raymond van Barneveld: Da stand schon das nächste Turnier an. Insgesamt ging die Veranstaltung vier Tage, am dritten habe ich gewonnen. Ich war überglücklich, weil ich es nicht erwartet habe. Mein letzter Pro-Tour-Sieg lag ewig zurück, das war glaube ich 2014 oder 2015.

Anschließend meinten Sie, dass Sie lange nicht mehr so fokussiert waren.

Van Barneveld: Seit dem 1. Oktober 2020 trainiere ich jeden einzelnen Tag stundenlang gemeinsam mit Jeffrey de Zwaan. Früher habe ich vielleicht ein- oder zweimal pro Woche trainiert. Jetzt habe ich gesehen, wo man mit hartem Training hinkommen kann. Deshalb ist mein Fokus aktuell sehr gut. Es ist aber schwer, ihn zu behalten. Weil ich mich erst qualifizieren muss, weiß ich anders als ein Top-16-Spieler nicht, an welchen Turnieren ich teilnehmen darf. Deshalb kann ich keine Pläne für den Rest des Jahres machen.

Wie lauten Ihre Ziele?

Van Barneveld: Als Erstes wollte ich meine Tour-Card zurückbekommen, was mir im Februar gelungen ist. Jetzt bin ich komplett fokussiert auf die WM. Jedes TV-Turnier ist ein Extra-Bonus. Ich muss der Welt nicht mehr beweisen, wie gut ich bin. Ich kann immer noch jeden Dartsspieler der Welt besiegen - aber aktuell kann an einem guten Tag auch jeder Dartsspieler Raymond van Barneveld besiegen.

Wie oft haben Sie in der Zeit zwischen Ihrem Rücktritt und Comeback-Entschluss Darts gespielt?

Van Barneveld: Gar nicht. Ich war im Ruhestand. Warum sollte ich?

Zum Spaß?

Van Barneveld: Zum Spaß? Nein. Ich habe mich überhaupt nicht mit Darts beschäftigt. Bei meinem fantastischen Abschied letztes Jahr im Februar habe ich zum letzten Mal für Monate Darts geworfen.

Was haben Sie während Ihres Ruhestands am meisten vermisst?

Van Barneveld: Die Aufmerksamkeit. Wenn du nicht im TV auftrittst, interessieren sich die Sponsoren nicht für dich.

Raymond van Barneveld beendete im Februar 2020 seine Karriere - und wagte knapp ein Jahr später das Comeback.getty

Van Barneveld: "Ich liebe Computer-Rollenspiele und FIFA"

Kurz nach Ihrem Rücktritt kam die Corona-Pandemie. Wie hat Ihr Alltag während des Lockdowns ausgesehen?

Van Barneveld: Ich habe viel Zeit mit meiner Freundin in London verbracht. Wir waren mit dem Hund spazieren, haben uns Serien und Filme angeschaut oder Spiele gespielt. Das hat uns einander nähergebracht. Nach ein paar Wochen habe ich die Shops und Restaurants aber vermisst. Zum Glück ist mittlerweile wieder alles offen.

Welche Spiele haben Sie gespielt?

Van Barneveld: Hauptsächlich an der Xbox oder Playstation. Ich liebe Computer-Rollenspiele und FIFA.

Mit welchem Klub spielen Sie bei FIFA?

Van Barneveld: Am liebsten spiele ich mit meinem Heimatklub ADO Den Haag. Ich bin aber sehr schlecht, jeder würde mich schlagen. Trotzdem finde ich es aufregend. Außerdem spiele ich sehr gerne Hitman. Da ist man ein Auftragskiller und muss Menschen für Geld umbringen. Das ist lustig. (lacht)

Ihre Freundin begeistert sich dafür ebenfalls?

Van Barneveld: Ja. Wenn meine Freundin neben mir sitzt, dann coacht sie mich: "Du musst hierhin laufen, du musst dorthin laufen." Ich habe aber nur zwei Hände. Am Ende werde ich immer erschossen und muss von vorne anfangen. Ich liebe dieses Spiel.

Zurück zu FIFA: Sie spielen also mit ADO Den Haag. Und Ihre Freundin?

Van Barneveld: Mit ihrem Lieblingsklub Norwich City. Sie sind besser als Den Haag. Deren Keeper Tim Krul ist übrigens ein guter Freund von mir. Er hat uns Tickets für das EM-Spiel zwischen Holland und Nordmazedonien besorgt. Ich kenne generell ein paar Fußballer, die Darts lieben.

Van Barneveld: "Kroos ist ein großer Fan von mir"

Welche Fußballer sind die talentiertesten Dartsspieler?

Van Barneveld: Der ehemalige Nationaltrainer Frank de Boer und sein Zwillingsbruder Ronald sind sehr gut. Ich habe vor ein paar Jahren mit ihnen gespielt und da haben sie reihenweise 140er und 180er geworfen. Mir fallen aber noch einige weitere ein: Klaas-Jan Huntelaar, Robin van Persie, Daley Blind, Donny van de Beek, Tim Krul, Toni Kroos.

Wie sind Sie mit Kroos in Kontakt gekommen?

Van Barneveld: Ich habe ihn mal bei Real getroffen und da hat sich herausgestellt, dass er ein großer Fan von mir ist - und sein Bruder Felix ein großer Fan von Phil Taylor. Als Ajax vor zwei Jahren gegen Real gespielt hat, hat er mir Tickets besorgt. Wir waren im Stadion und Ajax hat gewonnen. Das war eine unfassbare Nacht.

Wie eng stehen Sie mit Kroos in Kontakt?

Van Barneveld: Manchmal schreiben wir uns, aber er schreibt nicht immer zurück, weil er ein vielbeschäftigter Mann ist. Ich habe ihn mal gefragt, wie es sich anfühlt, Fußball-Weltmeister zu sein. Da meinte er, dass es nicht besser werden kann. Holland war dreimal sehr knapp davor: 1974 in Deutschland, 1978 in Argentinien und 2010. Es muss so ein großartiges Gefühl sein, Fußball-Weltmeister zu sein.

Was sind Ihre Erinnerungen an das verlorene Finale 1974 gegen Deutschland?

Van Barneveld: Ich war damals noch sehr klein, sieben Jahre alt. Nach dem Spiel habe ich geheult. 1978 war es das gleiche, als wir so knapp gegen Argentinien verloren haben. Immerhin haben wir 1988 im Finale gegen Russland die EM gewonnen. Da herrschte eine unglaubliche Atmosphäre.

Van Barneveld erzählt von Treffen mit West-Ham-Hooligans

Hat Sport in Ihrer Kindheit eine große Rolle gespielt?

Van Barneveld: Darts war damals noch nicht populär, aber wir haben immer Fußball geschaut. Manchmal auch Tennis oder die Tour de France, aber das hat mich nicht wirklich interessiert. Fußball war die große Sache.

Waren Sie oft bei Ihrem Heimatklub ADO Den Haag im Stadion?

Van Barneveld: Ja, als Kind habe ich auch nahe dem Stadion gewohnt. Ich kann mich noch an ein Spiel gegen West Ham United erinnern. In Holland gab es damals keine Hooligans. Wir wussten nicht einmal, was das Wort "Hooligan" bedeutet. Ich war mit meinem Onkel beim Spiel und habe mich vor den betrunkenen und schlägernden englischen Hooligans gefürchtet. Das war eine traumatische Erfahrung. ADO Den Haag hat zwar gewonnen, ist aber beim Rückspiel in London ausgeschieden. Ich wäre später gerne öfter ins Stadion gegangen. Das ging aber nicht, weil ich wegen meiner Darts-Karriere viel herumgereist bin und an den Wochenenden oft selbst spielen musste. Ich habe mich immer gefreut, wenn ich mal ein Wochenende zuhause war und gemeinsam mit meiner Familie Fußball schauen konnte.

Sehen Sie Parallelen zwischen Darts und Fußball?

Van Barneveld: Für einen Fußballer ist es nicht leicht, einen Elfmeter vor 80.000 Zuschauern und Millionen vor den TV-Geräten zu schießen. Für uns Darts-Spieler ist aber jeder Wurf auf das Doppel wie ein Elfmeter. Man kann es sich nicht erlauben, zu vergeben. Bei unserem Spiel geht es mehr um Gedanken.

Wie lassen sich diese Gedanken steuern?

Van Barneveld: Man muss sich immer wieder sagen: Du bist gut, du bist fokussiert. Oft kann man es sich aber nicht erklären, warum man erst drei Darts auf ein Doppel vergibt und im nächsten Leg im ersten Versuch trifft. Man steht am gleichen Ort, man lässt den Pfeil im gleichen Moment los. Manchmal geht er rein, manchmal nicht. Jeder Mensch geht mit solchen Situationen anders um. Wenn ich Jose de Sousa zuschaue, dann denke ich: Wow, das sieht so einfach aus. Der Mann ist nie nervös. Manche Spieler bleiben immer positiv, andere werden schnell negativ.

Und Sie?

Van Barneveld: Ich bleibe immer positiv. Aber auch wenn man positiv bleibt, kann man vergeben.

Haben Sie schon mal mit einem Mentaltrainer zusammengearbeitet?

Van Barneveld: Ich habe es probiert, aber es hat mir nicht geholfen. Ein Mentaltrainer kann deinen Gegner nicht davon abhalten, Zehn-, Elf- oder Zwölf-Darter gegen dich zu werfen.

Welcher Gegner beeindruckt Sie aktuell am meisten?

Van Barneveld: Jose de Sousa. Er ist eine 180er-Maschine und ein beeindruckender Typ. Jeder liebt ihn. Im Moment ist es schwierig, ihn aufzuhalten.

Raymond van Barneveld hat guten Kontakt zu etlichen (Ex-)Fußballern. Hier zu sehen mit dem ehemaligen niederländischen Nationalstürmer Robin van Persie.imago images

Van Barneveld: "Habe mich wie 85 gefühlt"

Sie leiden seit Jahren unter Diabetes. Können Sie sich daran erinnern, als sie 2009 die Diagnose bekommen haben?

Van Barneveld: Ich war in Spanien und habe viel zuckerreiches Essen zu mir genommen. Auf einmal kribbelten mein ganzer Arm und meine Finger. Das war ein alarmierender Moment.

Wie überraschend kam die Diagnose für Sie und was hat Sie bei Ihnen ausgelöst?

Van Barneveld: Ich wusste, dass ich mich nicht gut um meinen Körper kümmere. Das Einzige, was man dagegen tun kann, ist gesund zu essen und am besten auch noch ins Fitnessstudio zu gehen. Damals habe ich 135 Kilogramm gewogen, jetzt bin ich runter auf 105 Kilogramm und war zeitweise sogar auf knapp 100. Als ich 135 Kilogramm gewogen habe, habe ich aber viele Turniere gewonnen - jetzt wiege ich 105 und gewinne nichts. Ich fühle mich zwar besser, das spiegelt sich aber nicht in den Ergebnissen wider. Ich bin kein junger Hund mehr, der jeden auffressen will. Ich bin ein 54-jähriger Typ, der sich manchmal müde fühlt.

Wie beeinträchtigend ist die Erkrankung?

Van Barneveld: Ich bin 54 Jahre alt, habe mich auf der Bühne bei TV-Turnieren in manchen Momenten aber wie 85 gefühlt. Ich war müde, hatte keine Energie, keinen Fokus. Dann habe ich eine Zucker-Tablette genommen und war wieder zurück bei 54 Jahren.

Van Barneveld über den Einsturz seines Hauses

Im März sind sie bei einem Spiel auf der Bühne zusammengebrochen.

Van Barneveld: Jeder dachte, dass es an der Diabetes-Erkrankung lag, aber das war nicht die Ursache. Zu der Zeit sind bei mir im privaten Bereich viele schlimme Dinge passiert. Mein Vater hatte ein paar Tage davor einen Schlaganfall und am Geburtstag meiner Freundin, dem 7. Februar, ist mein Haus eingestürzt. Das war zu viel für mich und deshalb bin ich zusammengebrochen. Zum Glück haben mir die Leute der PDC und im Krankenhaus geholfen. Seitdem lebe ich gesünder. Zwei, drei Wochen lang habe ich darüber nachgedacht, dass es hoffentlich nicht nochmal passiert. Ich hatte Angst.

Was genau ist mit Ihrem Haus passiert?

Van Barneveld: Es hat geschneit und deshalb ist die Isolierung in den Wänden gefroren. Dadurch wurde eine Wand nach außen gedrückt, woraufhin alle Ziegelsteine auf die Straße gefallen sind. Sie haben das nigelnagelneue Auto meiner Freundin kaputtgemacht. Zum Glück ist zu dem Zeitpunkt niemand am Haus vorbeigegangen.

Haben Sie überlegt, nach diesen Erlebnissen erneut Ihre Karriere zu beenden?

Van Barneveld: Nein. Mittlerweile geht es mir auch wieder gut.

Wie lange wollen Sie noch spielen?

Van Barneveld: Ich habe mit meinem Sponsor Target kürzlich einen super Vertrag über fünf Jahre unterschrieben. Ich bin 54, vielleicht spiele ich also bis 59 oder 60. Ich will auf die große Bühne zurückzukehren. Dort ist das große Geld, dort reden die Leute über einen und dort sind die Sponsoren.