Es ist stressig wie in der 92.Minute bei 0:1-Rückstand. Denn PES-Chefentwickler Shingo "Seabass" Takatsuka ist am Rande der Pro Evolution Soccer Weltmeisterschaft natürlich der gefragteste Mann. Und die Zeit drängt. Noch bevor das Journalistenteam die erste Frage stellt, zeigt uns die KONAMI-Mitarbeiterin charmant aber energisch die Nachspielzeit an: "Sie haben leider nur elf Minuten."
Elf Minuten. Für vier Journalisten. Wie gut, dass der European Team Leader John Murphy auch nach einem Tag Dauerinterviews noch entspannt ist wie Lionel Messi nach erfolgreichem Hattrick. "Ach was", lacht er. "Wir haben mehr Zeit. Richte den Anderen aus, dass wir etwas überziehen." Aufatmen im Interviewraum, es kann also losgehen. Und wir werden die Extrazeit brauchen. Denn die erste Frage des französischen Kollegen ist ein Klassiker des Sportjournalismus: "Wie fühlen Sie sich?"
Das Herz und die Seele von Pro Evolution Soccer
Um es kurz zu machen: Seabass, der Kopf von PES, ist richtig stolz auf die neue Version, die am 30.September erscheint. Der Schnitt nach dem äußerst erfolgreichen "PES 6" war hart, aber nun ist er abgeschlossen. "Wir haben nun viele Jahre an der nächsten Generation von PES gearbeitet", sagt Seabass. "Mit der 2011er Version haben wir nun die Basis für den nächsten großen Schritt geebnet. Ich bin wirklich zufrieden." Sagt's und schickt ein breites Grinsen über das sonst eher emotionslose Gesicht.
Shingo Takatsuka ist Herz und Seele von "Pro Evolution Soccer". Er hat mit dem Spiel im Bereich der Sportsimulationen Maßstäbe gesetzt. Im Zweikampf mit dem Konkurrenten "FIFA" von EA-Sports pusht man sich gegenseitig zu immer besseren Grafiken, Tricks und Steuerungsmöglichkeiten. Ein fruchtbarer Wettbewerb, wie sein Mitarbeiter John Murphy meint: "Sehen Sie, FIFA ist doch nur wegen uns so gut geworden. Und andersherum ist es genauso. Wir beide profitieren also von diesem Wettbewerb um die beste Fußballsimulation. Auch wenn der Druck sehr hoch ist." Auch durch diesen Druck und nicht zuletzt dank "Seabass" ist der Fußball an der Konsole inzwischen zu einer eigenen Art Kunstform geworden.
Das Zocken an der Konsole oder am PC dürfte das echte Fußballspielen bei Jugendlichen zeitlich inzwischen übertreffen. Mit interessanten Rückwirkungen auf den realen Fußball: Barcelonas Lionel Messi sagt über sich selbst, er sei mit dem Messi an der Konsole besser als auf dem richtigen Fußballplatz. Wenn der Mensch mit den vielleicht besten technischen Fähigkeiten auf dem Planeten sein virtuelles alter Ego derart lobt, ist das nicht weniger als bemerkenswert.
Der Angler entwickelt den modernen Fußball
Die Simulation als Abbild der Wirklichkeit ist in den vergangen Jahren mehr und mehr zu einer eigenen Realität geworden. Mit den Badstubern, Müllern und Holtbys steht heute eine Generation von Spielern auf dem Fußballfeld, die den Blick von oben auf den Spielzug genauso verinnerlicht hat wie den Durchblick im Getümmel auf dem Platz selbst. Der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit hat dieses neue Raumdenken in seinem Buch "Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell" beschrieben. Was sich abstrakt anhört, ist vielleicht einigen von uns schon auf dem Fußballplatz passiert. Wer selbst einmal einen blinden Steilpass gespielt hat, einfach nur weil dieser Pass an der Konsole das Spiel entzerrt, konnte das am eigenen Leib erfahren.
Es ist also wahrscheinlich nicht übertrieben, die Entwicklung des modernen Fußballs auch als eine digitale Entwicklung zu sehen. Und inmitten dieser rasanten Entwicklung steht dieser kleine freundliche, japanische Shingo "Seabass" Takatsuka. Den Spitznamen hat er wegen seiner Leidenschaft fürs Angeln. Und schwierig ist es nicht, sich ihn mit ruhigem Blick auf einem einsamen See vorzustellen. Denn genauso beobachtet er auch jeden, der "sein" PES spielt.
Im Trubel der PES-WM taucht er immer wieder hinter den Teilnehmern auf und sieht ihnen über die Schulter. Regungslos. Konzentriert. Wichtiger als selbst zu spielen ist es ihm offensichtlich, anderen dabei zuzusehen. Und seine Lehren daraus für die Weiterentwicklung von PES zu ziehen. Einer seiner Grundsätze ist: Das Spiel einfach halten.
Im modernen Fußball ist es immer weniger wichtig, was der Spieler mit Ball tut. Bedeutender ist die Bewegung der Mannschaftskameraden ohne Ball. Wodurch ganz neue Anforderungen an die KI des Computers gestellt werden. Darauf angesprochen, kann Seabass nur lächeln. "Sehen Sie", beginnt er. "Ich habe als kleiner Junge noch mit einem Famicom (japanischer Vorgänger des Super-Nintendo, d. Red.) gespielt. Das waren sehr schlichte Spiele. Aber auch sehr unterhaltsame Spiele. Auch ein einfaches Spiel kann sehr viel Spaß bereiten. Ich möchte deshalb die komplexen Elemente immer mit einfachen kombinieren und die beste Mischung aus Beidem finden."
Die Basis für die nächste Generation von PES
In der Vergangenheit ist ihm diese Mischung in den Augen vieler PES-Fans am besten in "Pro Evolution Soccer 6" gelungen. An diese immer noch beliebte Version möchte Seabass mit PES 2011 nun anschließen. "Ich weiß, dass der Sprung von PES 6 zu den späteren Versionen sehr hart war. Wir wollten die nächste Generation von PES entwickeln und haben uns damit schwer getan. Aber mit PES 2011 haben wir die Basis für diese neue Generation von PES geschaffen."
An diesem Punkt schaltet sich Team Leader John Murphy ins Gespräch ein. "Worüber ich mich beim neuen PES am meisten freue, ist die neu gewonnene Freiheit, die man im Spiel hat. Das Spiel liegt in den eigenen Händen." Er spricht damit die neue Passkontrolle von PES 2011 an, mit der Pässe in jede Richtung mit beliebiger Intensität zielgenau gespielt werden können. Zusätzlich hat KONAMI viele neue Bewegungsabläufe in das Spiel integriert, um es noch realistischer zu machen. Wer lockere Finger hat, kann mit dem neuen PES Dinge auf dem Platz tun, die in der alten Version undenkbar waren.
Das neue Pro Evolution Soccer ist individueller und überraschender geworden. Der nächste große Schritt in der Entwicklung von Fußballsimulationen. Doch das Ende ist noch lange nicht erreicht. Auch die Konkurrenz hat nicht geschlafen. Das weiß auch Seabass, als er gleich zu Beginn des Interviews auf die Frage des französischen Kollegen nach seinen Gefühlen antwortet. "Ich bin mir sicher: Es ist das beste PES aller Zeiten", sagt er. Zögert einen Moment und schickt nur wenig später nach: "Aber es gibt auch noch viele Details, die wir noch weiter verbessern wollen."