Das berühmte Momentum im Basketball kann bekanntermaßen schnell kippen. Meist sind es wilde Dreier oder gefühlt unmögliche Korbleger mit Foul, die die Wende in einem Spiel einleiten. Dass es auch anders geht, bewies Kyle Hines im Euroleague-Finale 2013 in London. Sein Team Olympiacos liegt gegen Real Madrid schon nahezu aussichtslos zurück, teilweise sind die Königlichen sogar 17 Punkte enteilt.
Mitte des dritten Viertels leistet sich Superstar Vassislis Spanoulis mit einem schlampigen Pass einen haarsträubenden Ballverlust. Rudy Fernandez greift zu und bedient den durchstartenden Nikola Mirotic, der sich auf macht, die nächsten beiden einfachen Zähler für Real einzusacken. Doch der Spanier hat die Rechnung ohne Hines gemacht. Der Center sprintet hinterher, hebt ab und nagelt das Leder gegen das Brett. "Ich rannte einfach nur zurück und vertraute meinem Instinkt", erinnert sich Hines an die legendäre Szene.
Das Momentum war endgültig gekippt, Olympiacos gelangen in der zweiten Halbzeit sagenhafte 63 Punkte, zog an Real vorbei und schnappte sich mit 100:88 den zweiten Euroleague-Titel in Serie. Hines hatte den Höhepunkt seiner Karriere erreicht; das, was er sich immer gewünscht hatte. "Als ich nach Europa kam, wollte ich immer auf dem höchsten Level spielen", blickt Moskaus Nummer 42 zurück.
In der italienischen Provinz
Dabei war Hines' erste Station in Europa wahrscheinlich so weit vom "höchsten Level in Europa" entfernt wie der FC St. Pauli von der deutschen Meisterschaft. Bei Veroli Basket in der zweiten italienischen Liga machte der damals 22-Jährige in der Saison 2008/2009 seine ersten Schritte auf europäischem Parkett.
Zu diesem Zeitpunkt stand übrigens kein Geringerer als ein gewisser Andrea Trinchieri an der Seitenlinie. Der heutige Coach der Brose Baskets schätzte schon damals sowohl die menschlichen als auch die sportlichen Qualitäten des 1,98 Meter großen Centers. "Kyle ist einer von wenigen, der gleichermaßen ein außergewöhnlicher Spieler und ein außergewöhnlicher Mensch ist", sagt Trinchieri in einem Interview vor gut zwei Jahren. "Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich mir wünschen, dass sie Kyle heiratet."
In Italien konnte der Modellathlet aber nicht nur neben dem Court überzeugen, primär machte er mit überragenden Leistungen auf dem Parkett auf sich aufmerksam. 16,9 Punkten und 8,6 Rebounds in seiner Premierensaison ließ Hines in der Saison darauf 18,5 Zähler und 8,1 Rebounds folgen. Mit diesen Statistiken erschlich sich Hines einen Eintrag im Notizblock von Bredan Rooney, dem damaligen Scout der Brose Baskets.
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Die Erfolgsstory nimmt seinen Lauf
Am 10. August 2010 hat es tatsächlich geklappt. Nach langen Verhandlungen unterschreibt Hines einen Vertrag in der Domstadt. Sehr zur Freude des damaligen Coaches Chris Fleming: "Er ist ein außergewöhnlicher Spieler, der auch mit 1,96m auf der Centerposition spielen kann. Er ist sehr athletisch mit sehr langen Armen. Er ist in der Lage, mehrere Positionen zu verteidigen und wird uns in der Offensive die nötige Härte in Korbnähe geben."
Fleming sollte sich nicht täuschen, denn Hines schlug ein wie eine Bombe. Obwohl er keine Mega-Statistiken auflegte, spielte er sich durch seine unwiderstehliche Art in die Herzen der Fans. Hines kämpfte um jeden Rebound, blockte und verwandelte die vermeintlich einfachen Dinger unter dem Korb. Er brachte den Müll hinaus, wie Basketballer zu sagen pflegen. "Er opfert sich und seinen Körper für den Erfolg des Teams. Er gibt immer alles, um zu gewinnen", lobt auch Flemings Nachfolger Trinchieri seinen ehemaligen Schützling.
Mit der vielleicht besten Bamberger-Mannschaft der letzten 15 Jahre holte Hines das Double aus Meisterschaft und Pokal. "Es war eine tolle Zeit in Bamberg. Mit Casey Jacobsen, Brian Roberts und John Goldsberry hatten wir ein tolles Team beisammen", so Hines in der Nachbetrachtung seiner Saison im Frankenland.
Wegen seiner guten Leistung mit den Baskets in der Euroleague war es aus Sicht des deutschen Basketballs leider absehbar, dass die normalen Mechanismen des Marktes greifen und Hines auf dem Zettel der europäischen Topteams landet.
An die Spitze
Es kam wie es kommen musste, Hines verkündete via Twitter seinen Wechsel zu Olympiacos und machte den finalen Schritt auf den Thron des europäischen Basketballs. Mit dem griechischen Traditionsklub gelang es dem US-Amerikaner als zweites Team seit Einführung des Final-Four-Modus den Euroleague-Titel zu verteidigen.
"Ich kann eigentlich immer noch nicht vollständig realisieren, was ich erreicht habe, weil meine Laufbahn immer weiter geht und das Geschäft sehr schnelllebig ist. Da bleibt keine Zeit, um zurückzublicken", sagt Hines. "In jedem Fall waren die Titel zwei meiner größten Erfolge bisher."
Seit 2013 bringt Hines nun für ZSKA Moskau den Müll unter den Körben hinaus und kämpft verbissen um seinen dritten Euroleague-Titel. Dafür muss er mit dem Armeesportklub aber erstmal gegen die Brose Baskets bestehen. Zeit für Sentimentalitäten bleibt in jedem Fall nicht, denn die Bamberger sind gut in Form und wollen nach dem guten Vorrunden-Auftritt in Moskau jetzt auch die Punkte mit nach Hause nehmen.
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