Sie hatten als Sportdirektor die Aufgabe, die Vision mit dem Namen "Powerplay 2026" umzusetzen. Sprich: 2026 will man dauerhaft um Medaillen mitspielen. Wenn wir das als Maßstab nehmen, wo steht das deutsche Eishockey dann aktuell?
Schaidnagel: Grundsätzlich überlasse ich da die Analyse den jetzt handelnden Personen. Als ich den DEB verlassen habe, waren wir in der Entwicklung mehr oder weniger im grünen Bereich, wenn ich mir den Korridor so anschaue. Wenn ich dann die letzten eineinhalb Jahre sehe, und das ist überhaupt keine persönliche Kritik an Einzelpersonen, muss man sich fragen, ob aktuell gegengesteuert werden muss, ob Maßnahmen wirken und wie die Konsequenzen hinter bestimmten Maßnahmen aussehen.
Was man nicht außer Acht lassen darf: Deutschland hat aktuell vielleicht so viele Toptalente wie noch nie. Moritz Seider könnte in der NHL nach einer Monster-Saison zum Rookie des Jahres gewählt werden, Tim Stützle ist auf dem Weg zum NHL-Star, dazu kommen Jungs wie Lukas Reichel oder JJ Peterka.
Schaidnagel: Das stimmt. Gerade die Entwicklung von Moritz Seider ist absolut überragend, da kann ich nur den Hut vor ziehen. Gerade weil wir diese Topspieler haben, ist die Betrachtung auch so ambivalent. Wir dürfen uns darüber freuen, dürfen uns aber davon auch nicht ablenken lassen. Ich war 2018 nach Olympia-Silber derjenige, der gleich die Finger in die Wunde gelegt hat. Zwei Wochen feiern ist total in Ordnung, aber dann muss der Blick nach vorne gehen. Mir war es zum Beispiel immer elementar wichtig, dass wir alle Nationalmannschaften erstklassig halten. Für mich ist das genauso wichtig wie eine Silbermedaille. Das hat mich immer umgetrieben. Weil wenn wir das nicht schaffen, dann gibt es keine neuen Seiders oder Stützles. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen, dass wir von Glück reden können, dass die IIHF bei einigen Turnieren den Abstieg ausgesetzt hat, sonst wäre eventuell die ein oder andere Mannschaft wieder zweitklassig.
Die Frauen-Nationalmannschaft könnte auch besser dastehen.
Schaidnagel: Genau. Im Frauen-Eishockey gibt es drei, vier dominierende Nationen, aber wenn du am Ende der Top 10 liegst, könntest du eigentlich relativ schnell an den Rand der Top 4 heranrücken. Das Potenzial im Frauen-Eishockey ist riesig und die Frauen brauchen dringend Unterstützung. Mit einer erfolgreichen Olympia-Quali wäre auch finanziell einiges machbar gewesen. Deshalb war das Verpassen von Peking insgesamt echt bitter.
"Statt um Empowerment geht es mehr um Machterhalt"
Wenn wir die Perspektive noch etwas weiten und generell auf den Spitzensport in Deutschland blicken, sehen wir ja generell keine gute Entwicklung im Medaillenspiegel der Olympischen Spiele. Es geht nur bergab.
Schaidnagel: Quo vadis, deutscher Spitzensport? Ich glaube schon, dass es an der Zeit ist, diese Frage zu stellen. Wir haben zum einen die Corona-Pandemie, die nicht nur dem Eishockey, sondern jedem Sport ganz klar den Spiegel vorgehalten hat, wie gut wir in puncto Mitgliederstruktur und ganzheitlich als Einheit dastehen. Es sollte selbsterklärend sein, worum es gehen muss: Rekrutierung, Rekrutierung, Rekrutierung. Wir müssen die Menschen wieder in Bewegung und in die Vereine bringen, um gute Sportler zu bekommen, aber auch vor allem eine gesunde Gesellschaft. Aber klar, unsere Spitzensportler sind die Aushängeschilder, die wir brauchen. Wegen ihnen stehen wir nachts um 5 Uhr auf wie in Pyeongchang. An diesen Events sieht man immer wieder eine der Identität stiftenden Wirkungen des Sports. Aber es geht auch darum, im Medaillenspiegel nicht weiter abzurutschen. Wenn wir uns die Winterspiele anschauen, hat ein Verband die Mehrheit der Medaillen eingefahren. Das ist toll, aber die fehlende Breite war dann doch erschreckend. Und in Paris 2024 oder in Cortina 2026 muss man befürchten, dass es ähnlich laufen wird. Wir können uns eher glücklich schätzen, dass die Medaillenausbeute nach wie vor auf diesem Niveau ist.
Was machen andere Nationen besser?
Schaidnagel: Wir drohen international an einigen Stellen den Anschluss zu verlieren bzw. haben ihn eventuell gar nicht mehr. Nehmen wir Großbritannien als Beispiel, die haben sich im Rahmen der London-Spiele komplett neu erfunden. Wir müssen den Spitzensport auch neu denken, wir müssen uns anschauen, wie die Verteilung der Mittel organisiert wird und vor allem wie das Qualitätsmanagement der Verteilung der Mittel ist - das ist noch viel wichtiger - wir sprechen von der Kontrolle von Prozessen mit klar definierten Ergebnissen.
Provokant gefragt: Sind die Spitzenverbände immer noch gefangen in verkrusteten Strukturen?
Schaidnagel: Das ist mit Sicherheit in einigen Verbänden so. Du hast statische, unbewegliche Präsidialsysteme, die Erneuerung verhindern. Dabei bräuchten wir dringend unternehmerisches Denken auf Sportverbandsbasis. Stattdessen haben wir den Konflikt Ehrenamt vs. Hauptamt, bei dem das Ehrenamt führt, aber die Profis im Hauptamt sitzen - da ist der Clash quasi vorprogrammiert. Und da entsteht ein enormer Reibungsverlust. Wir bräuchten Umtriebigkeit, wir bräuchten eine Kultur des Sammelns von Ideen, den Willen, etwas aufzubauen. Leider hängen wir in der Organisationsstruktur massiv hinterher. Statt um Empowerment geht es mehr um unbedingten Machterhalt. Es sollten diejenigen Verantwortung tragen, welche für den Sportbereich in all seinen Facetten ausgebildet sind. Und es geht leider oft zu wenig um die Sache an sich - den Sport!
Das klingt jetzt nicht zwingend nach jemandem, den es wieder in den Spitzensport zieht als Funktionär. Auf der anderen Seite sind Sie ein Kind des Eishockeys. Was bringt die Zukunft?
Schaidnagel: Man sollte niemals nie sagen. Was den Eishockeysport angeht, habe ich derzeit keinerlei Ambitionen. Es sollen sich jetzt neue Leute mit all ihren Fähigkeiten und ihrem sportfachlichem Know-how beweisen, aber auch zeigen, dass sie es leisten können. Ich denke, es wurde eine Messlatte im Eishockeysport gesetzt, die gilt es für die jetzt in Verantwortung stehenden immer und immer wieder zu "überspringen".