Eishockey-WM - Ex-DEB-Sportdirektor Stefan Schaidnagel im Interview: "Das wird eine absolut richtungsweisende WM für das deutsche Eishockey"

Florian Regelmann
14. Mai 202208:43
Stefan Schaidnagelimago images
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Am Freitag ist in Finnland die Eishockey-WM 2022 gestartet. Das DEB-Team verlor zum Auftakt gegen Kanada mit 3:5. Ex-DEB-Sportdirektor Stefan Schaidnagel erklärt im Interview mit SPOX, warum die WM richtungsweisend für das deutsche Eishockey ist.

Stefan Schaidnagel war das Mastermind hinter dem Aufschwung im deutschen Eishockey in den vergangenen Jahren. Der Architekt der olympischen Silbermedaille von Pyeongchang 2018. Schaidnagel war es, der Reformpakete schnürte und dringend benötigten frischen Wind in den Verband brachte.

Offenbar zu viel frischen Wind für den am vergangenen Wochenende verabschiedeten Ex-DEB-Präsidenten Franz Reindl. Die Folge: Im Dezember 2020 wurde die Trennung zwischen Schaidnagel und dem DEB kommuniziert. Offiziell "aufgrund unterschiedlicher Auffassungen über die Personalführung des Verbandes, unter denen eine weitere Zusammenarbeit nicht zielführend fortgeführt werden kann", wie es in der Mitteilung hieß.

Im großen SPOX-Interview blickt Schaidnagel auf seine Zeit beim DEB zurück und verrät, warum sich der Leistungssport in Deutschland aus seiner Sicht an einem ganz kritischen Punkt befindet.

Herr Schaidnagel, das offizielle Ende Ihrer Arbeit beim DEB liegt jetzt mehr als ein Jahr zurück. Ein Ende, das nach allem, was man hört, sehr unschön war. Seitdem ist es still um Sie geworden. Wie geht es Ihnen?

Stefan Schaidnagel: Vielen Dank für die Nachfrage, mir geht es zum Glück wieder sehr gut. Es war eine schwierige Zeit für mich und auch für meine Familie. Wenn man aus so einer Position ausscheidet und eine Zeit hinter sich lässt, in der so viel passiert ist, braucht man eine Phase der Verarbeitung. Es hat etwas gedauert, bis ich mich körperlich und auch mental wieder neu aufgestellt und mich sortiert hatte. Umso dankbarer bin ich, dass ich mich sehr gut konsolidiert und jetzt auch eine neue Aufgabe im Sports Consulting habe, die mir extrem viel Spaß macht.

Das offizielle Wording beim Abschied sagt gleichermaßen viel und wenig aus. Oft war von einem Spannungsfeld zwischen dem ambitionierten, vielleicht auch teilweise forschen Sportwissenschaftler Schaidnagel und dem Traditionalisten Reindl die Rede. Stimmt diese Beschreibung?

Schaidnagel: Es ist natürlich klar, dass der Abschied nicht von Harmonie geprägt war. Aber den einen Grund, an dem man es festmachen kann, gibt es nicht. Ich habe meinen Frieden mit dem Kapitel DEB gemacht und blicke nicht mehr zurück. Ich denke, das sieht man beim DEB genauso.

Haben Sie aber die Zeit für sich reflektiert? Waren Sie in der Nachbetrachtung an der einen oder anderen Stelle zu forsch?

Schaidnagel: Jeder Mensch sollte sein Handeln immer reflektieren, die Frage ist ja immer, ob das auch immer so von jedem gemacht wird. Ich kann für meinen Teil sagen, dass ich mir viele Gedanken gemacht habe. Und klar ist auch, dass niemand auf der Welt frei von Fehlern ist. Ich natürlich auch nicht. Ich kann aber sagen, dass ich jeden Abend guten Gewissens in den Spiegel schauen kann und immer einen ehrlichen Weg gegangen bin. Mich freut es auch, dass viele Leute mich positiv damit in Verbindung bringen, dass ich jemand war beim DEB, der angepackt hat. Der ehrlich versucht hat, Reformen anzustoßen und im Spitzenbereich eine neue Qualität reinzubringen. Ich konnte mithelfen, dass wir den Eishockeysport in Deutschland in eine gute Richtung entwickelt haben. Und - genauso wichtig - ich habe viele tolle Menschen kennenlernen dürfen. Das ist das Fazit, das ich immer wieder so ziehen und unterschreiben würde.

Stefan Schaidnagel galt als Architekt des deutschen Eishockey-Aufschwungs.imago images

Eines der Streitthemen soll Ihre Forderung gewesen sein, dass die DEL ihr Kontingent an Importspielern reduzieren solle.

Schaidnagel: Bei dem Thema Importspieler in der DEL gibt es grundsätzlich ja zwei Dimensionen, eine sportfachliche und eine sportpolitische. Ich war naturgemäß immer davon getrieben, was meiner Meinung nach für die Sportart und für das Weiterkommen das Richtige ist. Wer meine Interviews aber genau beobachtet hat, der wird gemerkt haben, dass ich fünf Jahre lang jedes Mal klargemacht habe, dass der Zeitpunkt für eine Reduzierung der Ausländerplätze noch nicht gekommen ist, weil die angestoßenen Reformen erst greifen und ihre Wirkung entfalten mussten. Als das dann aber so weit war, wäre es doch im höchsten Maße seltsam gewesen, wenn wir nicht das Ziel gehabt hätten, die Reformen zu "krönen", das i-Tüpfelchen draufzusetzen und zum richtigen Zeitpunkt eine Reduzierung anzustoßen. Ich habe das im vielzitierten Interview beim Deutschland Cup auch nicht forsch oder aggressiv formuliert, sondern fachlich argumentiert, warum es gerade nach Olympia-Silber der perfekte Zeitpunkt wäre. Weil wir damals den Handlungsspielraum hatten und die öffentliche Wahrnehmung extrem positiv war. Ich habe übrigens aus dem Eishockey international, sowohl als auch sportartübergreifend, zum Beispiel aus dem Profifußball höchste Wertschätzung und sehr gutes fachbasiertes Feedback dafür bekommen. Wenn ein Sportdirektor in seiner Sportart nicht konstruktiv und kritisch Punkte ansprechen darf, dann müssen wir uns glaube ich grundsätzlich Gedanken machen, ob hier etwas falsch läuft.

Importspieler: "... dann lügt er sich selbst in die Tasche"

Zumal Sie das Interview im Zusammenhang mit dem Spiel gegen die Schweiz gegeben haben. Die Schweiz, wo pro Team maximal vier Ausländer (bei 12 Mannschaften in der Liga) auf dem Spielberichtsbogen stehen dürfen, ist vielleicht das perfekte Beispiel, oder nicht?

Schaidnagel: Absolut. Die Schweiz ist diesen Schritt ja bereits viele Jahre früher gegangen. Mit dem Ziel, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu bewahren, ohne große Ausschläge nach oben oder nach unten. Das Resultat waren zwei Silbermedaillen bei Weltmeisterschaften. Und als auch in der Schweiz hitzige Diskussionen aufgekommen sind, ob man wieder erhöhen sollte, hat das Schweizer Eishockey ein eindeutiges Statement gesetzt. Wir erinnern uns an die Szenen, als die Spieler, selbst die Importspieler, alle nach dem Bully an die Bande gefahren sind, um ein Zeichen zu setzen. Eine Art Ministreik. Und die Schweiz hat das nicht aus Nationalismus gemacht, sondern weil sie ihre Eishockey-Kultur und das Erreichte hochhalten wollen. Es geht immer wieder darum, Nachhaltigkeit zu generieren. Um das Aneinanderreihen von positiven Ergebnissen. Wenn man glaubt, mit Olympia-Silber gefolgt von einem sechsten Platz und einem vierten Rang ist man oben angekommen, dann ist das einfach falsch. Du musst deinen Erfolg untermauern und noch härter arbeiten als vorher.

Die DEL soll sich überfahren gefühlt haben. Nachvollziehbar?

Schaidnagel: Ehrlich gesagt entbehrt das jeglicher Grundlage. Es gab die ganze Zeit Gespräche darüber mit der DEL. Es ging auch nie darum, sofort von 9 auf 6 zu reduzieren, es hätte auch schrittweise passieren können. Ebenso hat dies Marco Sturm als Bundestrainer klar benannt. Zumal das Ziel der Reduzierung formuliert wurde, als ich noch nicht mal im Verband gearbeitet habe. Wenn sich dann jemand überrumpelt gefühlt hat, lügt er sich selbst in die Tasche.

Die Silbermedaille 2018 in Pyeongchang war eine Sternstunde im deutschen Eishockey und auch Ihr Erfolg. Sie haben schon bei den Weltmeisterschaften 2016 und 2017 mit Marco Sturm, der damals Bundestrainer war, einen Fahrplan entwickelt. Wie sah der aus?

Schaidnagel: Wir haben uns viele Nächte um die Ohren geschlagen, das stimmt. Marco und ich haben uns sehr gut ergänzt und sehr professionell zusammengearbeitet. Er hat etwas geliefert, was ich nicht konnte. Und umgekehrt. Das hat einfach gepasst, auch menschlich. Für uns war es damals in erster Linie wichtig, dass wir die Mannschaft und den gesamten Staff mitnehmen. Dass sich jeder als Teil des Ganzen sieht. Dass jeder auch die ganze Zeit weiß, was auf unserem Weg zu Olympia passiert. Transparenz und Offenheit haben wir großgeschrieben. Wie kontaktiere ich die Spieler? Wie oft kontaktiere ich die Spieler? Wie rede ich mit ihnen?

Was heißt das konkret?

Schaidnagel: Bei Maßnahmen hatten die Spieler zum Beispiel bei ihrer Ankunft einen Brief des Trainers oder Sportdirektors auf ihrem Zimmer, der motivieren und die Erwartungshaltung beschreiben sollte. Die Jungs sollten auch verstehen, dass wir das tun, was wir sagen. Wir haben ein auf Vertrauen und Wertschätzung basierendes Klima aufbauen wollen, das uns dann wiederum die Möglichkeit gibt, Bestleistung einfordern zu können. Was die Spieler dann in so einer Atmosphäre auch sehr gerne zurückgeben. So ist mit der Zeit der berühmte Geist entstanden vor Olympia. Man sagt immer so schön, dass die Vorbereitung die halbe Miete ist. Aber es ist so. Unser Grad der Organisiertheit war so hoch, dass wir uns die bestmögliche Chance auf Erfolg gegeben haben. Natürlich brauchst du im Verlauf eines Turniers dann auch das nötige Quäntchen Glück, aber der Spirit war so stark, dass extrem viel hätte passieren müssen, um dieses Team aus der Bahn zu werfen.

Die deutschen Gruppenspiele bei der WM in Finnland

Mannschaft 1Mannschaft 2Termin
DeutschlandKanada13.05.2022, 19:20 Uhr
SlowakeiDeutschland14.05.2022, 19:20 Uhr
FrankreichDeutschland16.05.2022, 19:20 Uhr
DeutschlandDänemark19.05.2022, 15:20 Uhr
DeutschlandItalien20.05.2022, 15:20 Uhr
KasachstanDeutschland22.05.2022, 15:20 Uhr
DeutschlandSchweiz24.05.2022, 11:20 Uhr

Die größte Leistung von Marco Sturm war es ja, dass er es geschafft hat, dass die deutsche Eishockey-Nationalmannschaft ihre Komplexe ablegte und plötzlich an sich glaubte. Wie würden Sie diesen Prozess beschreiben?

Schaidnagel: Marco hat diese Haltung in der Ansprache an die Mannschaft hereingebracht und ich habe außen herum versucht, das Gleiche zu machen. Das meinte ich mit der guten Ergänzung bei uns. Marco ist ja im positivsten Sinne "amerikanisiert" und hat das positive Denken total verinnerlicht. Wer sagt denn bitte, dass wir das nicht gewinnen können? Diese Einstellung hatten wir ja im deutschen Eishockey nicht. Vorher ging es eher bildlich gesprochen darum, ob wir heute drei, vier oder fünf Stück bekommen. Oder man hat so Rechnungen aufgestellt a la: Wenn wir das eine oder jene Spiel gewinnen und den Rest alles verlieren, haben wir im Prinzip einen guten Job gemacht. Marco hat dann den Wandel gebracht und auch so ein bisschen die Ausreden genommen. Kopf hoch, Brust raus, negative Gedanken haben bei uns gar keinen Platz. Diese Angst vor dem Gewinnen, wenn man in der 58. Minute 3:1 führt und plötzlich die Flatter bekommt, musste raus. Dafür brauchten wir ein paar Schlüsselerlebnisse wie das Drama gegen Lettland bei der WM 2017 mit dem entscheidenden Penalty von Frederik Tiffels oder die Olympia-Quali in Riga mit dem Matchwinner von Tom Kühnhackl. Das hatten wir uns durch die ganze Arbeit im Vorfeld aber auch ein Stück weit erarbeitet und es erzwungen, dass das Pendel für uns ausschlägt.

Nach dem Ende der Amtszeit von Marco Sturm waren Sie es, der als Nachfolger einen Mann aus der Oberliga präsentierte: Toni Söderholm. Wie sind Sie ausgerechnet auf ihn gekommen?

Schaidnagel: Als Sportdirektor musst du dir immer vorausschauend über mögliche Kandidaten Gedanken machen. Zumal in dem Fall klar war, dass Marco einen super Run bei uns hatte, der ihm auch andere Optionen geöffnet hat. Für diesen Moment musst du gewappnet sein. Ich bin sehr strukturiert bei Prozessen wie der Fachpersonalauswahl und hatte ein sehr klares Anforderungsprofil in meinem Kopf.

Wie sah das aus?

Schaidnagel: Der nächste Bundestrainer musste zwingend verstehen, was in den Jahren zuvor bei uns passiert ist. Unser neues Selbstverständnis, was wurde technisch und taktisch an Ideen aufgebaut, wie ist die Atmosphäre - so reduziert sich der Kreis an Kandidaten recht schnell. Dazu kam, dass wir alle Anfang 40 waren. Ich hätte also kaum einen neuen Trainer bringen können, der Anfang oder Mitte 60 ist. Aber das Wichtigste war wirklich, dass der neue Mann ein Gefühl dafür haben musste, welche Reformen wir angestoßen haben und dass er sie versteht. Da muss er ja ansetzen, um überhaupt eine Chance zu haben, selbst erfolgreich wirken zu können. Und der letzte Punkt war, dass ich auch wissen wollte, wie der Kandidat tickt. Woher kommt er? Wie sind seine Eltern situiert? Welche Schulausbildung hatte er? Mit wem umgibt er sich? Wie tritt er auf? Ich wollte mich in gewisser Weise in ihn reinversetzen. Am Ende waren nur noch zwei, drei Kandidaten übrig und Toni ist es geworden. Mit ihm hat es am besten gematcht und wir als Verband haben ihm ein Angebot gemacht.

Söderholm hat seinen Vertrag in diesem Jahr langfristig verlängert. Wie wichtig war das für das deutsche Eishockey?

Schaidnagel: Kontinuität ist auf so einer Position immer wichtig und ich bin nach wie vor total davon überzeugt, dass Toni im richtigen Setup um ihn herum eine sehr gute Leistung als Bundestrainer abrufen kann. Die entscheidende Frage ist, ob der jetzige Weg immer noch kongruent ist mit der Vision, die man hat. Für die Mannschaft, für die Sportart insgesamt. Wenn Toni das für sich als weiterhin deckungsgleich gesehen hat, ist es auf jeden Fall zu begrüßen, dass er weiter dabei ist.

Ein Bild aus glücklichen Zeiten: Stefan Schaidnagel mit Bundestrainer Toni Söderholm und Ex-Präsident Franz Reindl.imago images

Schaidnagel: "Das ist der Grund, warum ich mir Sorgen mache"

Söderholm galt immer als Ihr Mann, zuletzt wurde aber auch geschrieben, er hätte sich der Reindl-Fraktion angeschlossen. Wie ist Ihr Verhältnis?

Schaidnagel: Wir hatten seit meinem Ausscheiden nicht mehr viel Kontakt, aber das ist überhaupt nicht negativ zu interpretieren. Wir haben mal geschrieben, das war es dann auch, was aber auch normal ist. Aber zwischen uns ist alles gut.

Am vergangenen Wochenende wurde Peter Merten zum neuen DEB-Präsidenten gewählt und Franz Reindl emotional und nahezu euphorisch verabschiedet. Was haben Sie dabei gedacht? Immerhin galten Sie lange als Reindls Kronprinz, ehe sich alles anders entwickelte.

Schaidnagel: So viel habe ich ehrlich gesagt gar nicht mitbekommen. Ich bin aber der Meinung, dass neue Leute an entscheidenden Positionen immer eine neue Chance eröffnen für einen Verband oder eine Sportart. Die Mitglieder werden sicher gute Gründe gehabt haben, diese Mannschaft zu wählen. Herrn Merten kenne ich aus einigen gemeinsamen Sitzungen und halte ihn für einen sehr guten und fähigen Mann für das Amt des Präsidenten. Wichtig wird sein, dass das neue Team schnell versteht, wie groß der Aufgabenbereich ist. Es ist ähnlich, wie ich es beim Trainerposten beschrieben habe. Auch sie müssen jetzt sehr schnell wissen, welche Stellschrauben zu drehen sind. Ich wünsche ihnen viel Glück.

Jetzt steht erstmal die WM in Finnland auf dem Programm und das DEB-Team steht doch unter einem gewissen Druck nach den katastrophalen Olympischen Spielen. Wie blicken Sie auf die WM?

Schaidnagel: Meiner Meinung nach wird das eine absolut richtungsweisende WM für das deutsche Eishockey. Da können die letzten fünf, sechs Jahre insgesamt noch so positiv gewesen sein, der Sport ist so schnelllebig, dass wir dennoch an einem kritischen Punkt angekommen sind. Wie vorhin schon erwähnt ist die Kunst Nachhaltigkeit. Wir brauchen konstant gute Ergebnisse, Jahr für Jahr, ohne extremen Ausschlag nach unten. Und wenn wir uns die Leistung von Peking anschauen, muss das natürlich knallhart analysiert werden, ohne jetzt auf die Mannschaft einzuschlagen. Aber es muss ganz genau hingeschaut werden, wo Fehler gemacht wurden und wo Einflüsse nicht kontrolliert werden konnten. Es geht auch im Sport in der Essenz um die Kontrolle von Störvariablen. Der Begriff stammt aus der Wissenschaft, trifft aber auch absolut auf den Sport zu.

Der Trend war zuletzt nicht gut, nicht nur wegen der A-Nationalmannschaft.

Schaidnagel: Das ist genau der Grund, warum ich mir Sorgen mache. Wir haben das Abschneiden in Peking, wir haben die Nicht-Quali der Frauen für Peking und wir haben zuletzt eine U18-Heim-WM, bei der wir in vier Spielen fast 30 Tore bekommen haben. Nur auf Corona können wir das nicht schieben, das wäre zu einfach. Es gibt ganzheitlich betrachtet einen negativen Trend, das ist Fakt. Eine schlechte WM jetzt könnte dafür sorgen, dass man in der Weltrangliste noch weiter abrutschen würde und damit wiederum die direkte Olympia-Quali für 2026 gefährdet.

Sie hatten als Sportdirektor die Aufgabe, die Vision mit dem Namen "Powerplay 2026" umzusetzen. Sprich: 2026 will man dauerhaft um Medaillen mitspielen. Wenn wir das als Maßstab nehmen, wo steht das deutsche Eishockey dann aktuell?

Schaidnagel: Grundsätzlich überlasse ich da die Analyse den jetzt handelnden Personen. Als ich den DEB verlassen habe, waren wir in der Entwicklung mehr oder weniger im grünen Bereich, wenn ich mir den Korridor so anschaue. Wenn ich dann die letzten eineinhalb Jahre sehe, und das ist überhaupt keine persönliche Kritik an Einzelpersonen, muss man sich fragen, ob aktuell gegengesteuert werden muss, ob Maßnahmen wirken und wie die Konsequenzen hinter bestimmten Maßnahmen aussehen.

Was man nicht außer Acht lassen darf: Deutschland hat aktuell vielleicht so viele Toptalente wie noch nie. Moritz Seider könnte in der NHL nach einer Monster-Saison zum Rookie des Jahres gewählt werden, Tim Stützle ist auf dem Weg zum NHL-Star, dazu kommen Jungs wie Lukas Reichel oder JJ Peterka.

Schaidnagel: Das stimmt. Gerade die Entwicklung von Moritz Seider ist absolut überragend, da kann ich nur den Hut vor ziehen. Gerade weil wir diese Topspieler haben, ist die Betrachtung auch so ambivalent. Wir dürfen uns darüber freuen, dürfen uns aber davon auch nicht ablenken lassen. Ich war 2018 nach Olympia-Silber derjenige, der gleich die Finger in die Wunde gelegt hat. Zwei Wochen feiern ist total in Ordnung, aber dann muss der Blick nach vorne gehen. Mir war es zum Beispiel immer elementar wichtig, dass wir alle Nationalmannschaften erstklassig halten. Für mich ist das genauso wichtig wie eine Silbermedaille. Das hat mich immer umgetrieben. Weil wenn wir das nicht schaffen, dann gibt es keine neuen Seiders oder Stützles. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen, dass wir von Glück reden können, dass die IIHF bei einigen Turnieren den Abstieg ausgesetzt hat, sonst wäre eventuell die ein oder andere Mannschaft wieder zweitklassig.

Die Frauen-Nationalmannschaft könnte auch besser dastehen.

Schaidnagel: Genau. Im Frauen-Eishockey gibt es drei, vier dominierende Nationen, aber wenn du am Ende der Top 10 liegst, könntest du eigentlich relativ schnell an den Rand der Top 4 heranrücken. Das Potenzial im Frauen-Eishockey ist riesig und die Frauen brauchen dringend Unterstützung. Mit einer erfolgreichen Olympia-Quali wäre auch finanziell einiges machbar gewesen. Deshalb war das Verpassen von Peking insgesamt echt bitter.

"Statt um Empowerment geht es mehr um Machterhalt"

Wenn wir die Perspektive noch etwas weiten und generell auf den Spitzensport in Deutschland blicken, sehen wir ja generell keine gute Entwicklung im Medaillenspiegel der Olympischen Spiele. Es geht nur bergab.

Schaidnagel: Quo vadis, deutscher Spitzensport? Ich glaube schon, dass es an der Zeit ist, diese Frage zu stellen. Wir haben zum einen die Corona-Pandemie, die nicht nur dem Eishockey, sondern jedem Sport ganz klar den Spiegel vorgehalten hat, wie gut wir in puncto Mitgliederstruktur und ganzheitlich als Einheit dastehen. Es sollte selbsterklärend sein, worum es gehen muss: Rekrutierung, Rekrutierung, Rekrutierung. Wir müssen die Menschen wieder in Bewegung und in die Vereine bringen, um gute Sportler zu bekommen, aber auch vor allem eine gesunde Gesellschaft. Aber klar, unsere Spitzensportler sind die Aushängeschilder, die wir brauchen. Wegen ihnen stehen wir nachts um 5 Uhr auf wie in Pyeongchang. An diesen Events sieht man immer wieder eine der Identität stiftenden Wirkungen des Sports. Aber es geht auch darum, im Medaillenspiegel nicht weiter abzurutschen. Wenn wir uns die Winterspiele anschauen, hat ein Verband die Mehrheit der Medaillen eingefahren. Das ist toll, aber die fehlende Breite war dann doch erschreckend. Und in Paris 2024 oder in Cortina 2026 muss man befürchten, dass es ähnlich laufen wird. Wir können uns eher glücklich schätzen, dass die Medaillenausbeute nach wie vor auf diesem Niveau ist.

Was machen andere Nationen besser?

Schaidnagel: Wir drohen international an einigen Stellen den Anschluss zu verlieren bzw. haben ihn eventuell gar nicht mehr. Nehmen wir Großbritannien als Beispiel, die haben sich im Rahmen der London-Spiele komplett neu erfunden. Wir müssen den Spitzensport auch neu denken, wir müssen uns anschauen, wie die Verteilung der Mittel organisiert wird und vor allem wie das Qualitätsmanagement der Verteilung der Mittel ist - das ist noch viel wichtiger - wir sprechen von der Kontrolle von Prozessen mit klar definierten Ergebnissen.

Provokant gefragt: Sind die Spitzenverbände immer noch gefangen in verkrusteten Strukturen?

Schaidnagel: Das ist mit Sicherheit in einigen Verbänden so. Du hast statische, unbewegliche Präsidialsysteme, die Erneuerung verhindern. Dabei bräuchten wir dringend unternehmerisches Denken auf Sportverbandsbasis. Stattdessen haben wir den Konflikt Ehrenamt vs. Hauptamt, bei dem das Ehrenamt führt, aber die Profis im Hauptamt sitzen - da ist der Clash quasi vorprogrammiert. Und da entsteht ein enormer Reibungsverlust. Wir bräuchten Umtriebigkeit, wir bräuchten eine Kultur des Sammelns von Ideen, den Willen, etwas aufzubauen. Leider hängen wir in der Organisationsstruktur massiv hinterher. Statt um Empowerment geht es mehr um unbedingten Machterhalt. Es sollten diejenigen Verantwortung tragen, welche für den Sportbereich in all seinen Facetten ausgebildet sind. Und es geht leider oft zu wenig um die Sache an sich - den Sport!

Das klingt jetzt nicht zwingend nach jemandem, den es wieder in den Spitzensport zieht als Funktionär. Auf der anderen Seite sind Sie ein Kind des Eishockeys. Was bringt die Zukunft?

Schaidnagel: Man sollte niemals nie sagen. Was den Eishockeysport angeht, habe ich derzeit keinerlei Ambitionen. Es sollen sich jetzt neue Leute mit all ihren Fähigkeiten und ihrem sportfachlichem Know-how beweisen, aber auch zeigen, dass sie es leisten können. Ich denke, es wurde eine Messlatte im Eishockeysport gesetzt, die gilt es für die jetzt in Verantwortung stehenden immer und immer wieder zu "überspringen".

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