Nach einem Jahr voller kritischer Fragen blickt Pirelli-Motorsportdirektor Paul Hembery vor dem Saisonstart der Formel 1 in Melbourne zuversichtlich auf Änderungen. Er erklärt, was und warum Pirelli an den Reifen ändern musste, spricht über das Verhältnis zu den Kritikern Red Bull und offenbart, dass eine Änderung vor allem für die TV-Zuschauer vorgenommen wurde.
SPOX: Herr Hembery, die Formel-1-Saison startet morgen mit dem Freien Training in Australien. Erst zwei Wochen zuvor gingen die letzten Testfahrten zu Ende. Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Arbeit und den gewonnenen Daten?
Paul Hembery: Die Saison ist noch ganz jung, aber die Daten sagen, dass sich die Reifen so verhalten, wie wir es erwartet haben. Sie halten länger, der Verschleiß ist geringer und wenn wir auf die Zeiten gucken, ist die Performance trotzdem ungefähr auf dem Level des Vorjahrs.
SPOX: Das neue Reglement mit V6-Turbomotoren und der stark ausgebauten Energierückgewinnung stellt auch den Reifenhersteller vor neue Aufgaben. Sind Sie als Ingenieur sogar froh über die großen Regeländerungen?
Hembery: Ingenieure lieben Herausforderungen. Deshalb waren die extremen Neuerungen definitiv sehr interessant. Wir konnten dadurch auf einem weißen Blatt Papier anfangen. Das gilt auch für alle anderen Beteiligten. Die bisherige Hackordnung in der Formel 1 könnte deshalb ordentlich durcheinandergewirbelt werden.
SPOX: Wo liegen die genauen Unterschiede zwischen den Reifen der Saison 2013 und denen für das Jahr 2014?
Hembery: Wir haben sowohl alle Reifenmischungen als auch die Konstruktion an sich angepasst, nachdem wir die Auswirkungen der neuen Regularien analysiert haben. Vorne gibt es wenig Veränderungen, weil sich die Kräfte der neuen Powerunits dort kaum auswirken. Hinten sieht es anders aus. Das Drehmoment ist durch die neuen turbogeladenen Motoren und die Energierückgewinnungssysteme wesentlich höher. Damit müssen die Reifen 2014 zurechtkommen und genau darauf haben wir sie ausgelegt.
SPOX: Bedeutet das, dass die Fahrer nach Belieben aufs Gaspedal treten können, ohne Probleme mit den Slicks befürchten zu müssen?
GP-Rechner: Wer wird 2014 Weltmeister? Jetzt die ganze Saison durchtippen!
Hembery: Nicht wirklich. Die Fahrer müssen mit dem Vollgas aufpassen. Zusammen mit dem Motor-Mapping müssen sie durchdrehende Reifen verhindern, weil sie sonst überhitzen und die Haltbarkeit verringert würde.
SPOX: Ursprünglich wollten Sie wegen des höheren Drehmoments die Hinterreifen sogar verbreitern. Die Teams sollen sich dagegen ausgesprochen haben. Warum ist es am Ende nicht zur Anpassung gekommen?
Hembery: Wir dachten anfangs, dass wir breitere Reifen brauchen, damit sie die Kräfte aushalten. Aber als wir eine ordentliche Menge Daten von verschiedenen Teams bekommen haben, stand für uns fest, dass wir in diesem Bereich vorerst keine Änderung brauchen.
SPOX: Mussten Sie neben den Trockenreifen auch die Regenreifen modifizieren?
Hembery: Wir haben auch den Full Wet verändert, aber aus einem anderen Grund. Er hat jetzt ein neues Profil auf der Lauffläche, um die Gefahr von Aquaplaning zu verringern. Das wirkt sich vor allem bei Höchstgeschwindigkeit aus: Jetzt werden bis zu 65 Liter Wasser pro Sekunde verdrängt, fünf mehr als vorher.
SPOX: Insgesamt zwölf Tage konnten die Teams im Winter im spanischen Jerez und in Bahrain die Autos und die Reifen testen. Wie fiel das Feedback zu Ihrer Arbeit anschließend aus?
Hembery: Anfangs hat keiner auf die Reifen geachtet, weder die Teams noch die Fahrer. Sie haben sich nur darauf konzentriert, einen ersten Eindruck von den Autos zu bekommen. Auch in Bahrain ging es nur langsam los. Nach und nach haben sie dann jedoch angefangen, die verschiedenen Gummimischungen zu testen, um ein Feeling für das Zusammenspiel mit den neuen Autos zu bekommen. Die ersten Rückmeldungen waren durchweg positiv. Die meisten Fahrer haben gesagt, dass die Reifen jetzt wirklich härter sind.
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SPOX: Bei den Tests schien es, als gebe es keine Probleme mehr mit der Blasenbildung an den Reifen. Außerdem fiel auf, dass fast keine abgeriebenen Reifenfetzen, sogenannte Marbles, mehr neben der Ideallinie liegen.
Hembery: Wir haben unsere Slicks für die Saison 2014 genau dafür entwickelt: Größere Haltbarkeit, weniger Marbles. Es ist natürlich schwer sicher zu sein, dass das Ziel erreicht wurde, bevor Rennen gefahren wurden. Aber: Wir wollten konservativer herangehen als in den letzten Jahren, weil vor allem die Hinterreifen dem höheren Drehmoment gewachsen sein müssen.
SPOX: Warum wollten Sie weniger Marbles? Steigt durch die sauberere Ideallinie auch die Anzahl der Überholmanöver?
Hembery: Marbles an sich sind kein Problem. Sie gab es im Motorsport schon immer und es wird sie auch immer geben. Sie entstehen zwangsläufig, wenn ein Reifen sich abnutzt. Es sieht einfach besser aus, wenn die Strecke sauberer ist - gerade durch die HD-Fernseher, die sämtliche Details viel deutlicher hervorheben.
SPOX: Befürchten Sie derzeit überhaupt keine Probleme?
Hembery: Es ist glasklar, dass die Teams noch ganz am Anfang einer sehr steilen Lernkurve stehen. Es gibt radikal unterschiedliche Autos im Vergleich zu den letzten Jahren. Die Leistung wird schnell exponentiell wachsen. Die Teams sind bereit sich anzupassen, das gilt auch für uns: Wir sind bereit für Änderungen, wenn es nötig ist. Schließlich haben wir bisher sehr wenig direktes Feedback bekommen, weil die Teams neben der Zuverlässigkeit der Powerunits noch am Setup arbeiten. Wir erwarten, dass wir nach den ersten Rennen dann mehr bekommen. Aber bis jetzt sind wir ziemlich zufrieden.
SPOX: Ist die konservativere Herangehensweise auch darin begründet, dass Sie massive Kritik wie im Jahr 2013 verhindern wollen? Für Australien verzichten sie etwa im Gegensatz zum Vorjahr auf die supersoften Reifen.
Hembery: Nein. Wir haben diese Entscheidung nicht aus Angst vor Kritik getroffen. Es war logisch, weil bisher niemand wirklich weiß, wie die Autos mit den neuen Motoren, dem höheren Gewicht und weniger Benzin im Zusammenspiel mit den Reifen reagieren.
SPOX: Zur Streckencharakteristik von Melbourne würde ein sehr weicher Reifen aber passen.
Hembery: Es stimmt, dass die Wahl der Soft- und Medium-Reifen für Australien vorsichtig erscheint, sie ist aber beabsichtigt. So können sich die Teams auf ihr Programm konzentrieren, ohne auch noch Arbeit in das Verständnis der Reifen stecken zu müssen. Durch die bisher gesammelten Daten gehen wir zum Beispiel davon aus, dass jeder Fahrer weiterhin pro Rennen zwei bis drei Boxenstopps braucht, gerade zu Saisonbeginn.
SPOX: Im Jahr 2013 gab es in der Anfangsphase teils heftige Kritik, als die Fahrer etwa beim Spanien-GP bis zu vier Boxenstopps brauchten. Besonders Red Bull tat sich durch Äußerungen von Sebastian Vettel und Helmut Marko hervor. Kann man das als Verantwortlicher von Pirelli überhaupt ausblenden?
Hembery: Das letzte Jahr ist vorüber. Wir haben viel gelernt, Änderungen gemacht. Außerdem hatten wir mit sämtlichen Teams und Fahrern immer gute Beziehungen. Was teilweise in den Medien geäußert wurde, ist nicht das, was hinter verschlossenen Türen gesagt wird. Damit sollten wir es gut sein lassen. Wir schauen jetzt nach vorne und freuen uns auf die Saison 2014.
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SPOX: Schon jetzt deuten sich allerdings abermals bedeutende Änderungen für das kommende Jahr an. Die Reifenwärmer sollen ab der Saison 2015 verboten werden. In Bahrain gab es erste Tests. Was bedeutet die Änderung für Pirelli?
Hembery: Wir sind bei dem Thema noch in einer sehr frühen Phase. Das ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. Das Aufwärmen der Reifen kann ein Problem werden, weil wir während der gesamten Saison unterschiedliche Streckentemperaturen von 15 bis 50 Grad haben. Außerdem gibt es den Aspekt des Luftdrucks. Das Risiko ist, dass man mit sehr geringem Luftdruck beginnt, damit sich der Reifen nicht übermäßig ausdehnt, wenn er warm wird.
SPOX: Welche Konsequenzen könnte das haben?
Hembery: Das kann zu Zuverlässigkeitsproblemen führen. Das ganze Thema muss ausführlich geprüft werden. Es wurde bereits früher diskutiert und probiert - ohne Erfolg. Wir sind zu allem bereit, wenn wir die Zeit bekommen, die Dinge zu analysieren und Konstruktionsänderungen vorzunehmen.
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Der Formel-1-Kalender 2014 im Überblick