SPOX: Herr Tilke, Sie sind Diplombauingenieur, die Abgrenzung vom Architekten scheint aber schwer. Sehen Sie sich teilweise als Künstler?
Hermann Tilke: (lacht) Wir müssen wohl klären, warum das schwierig ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist es immer der Architekt, der baut. Das ist aber nicht so. Bei meiner Firma ist die Abgrenzung sehr schwierig, weil wir Tiefbau mit Straßen und Kanalisation machen, aber auch Hochbauten. Die dazugehörigen Gebäude sind das klassische Betätigungsfeld der Architekten. Bei uns arbeiten ungefähr genauso viele Architekten wie Bauingenieure. Mein Geschäftspartner Peter Wahl ist Architekt, ich Bauingenieur. Die klare Abgrenzung gibt es aber noch nicht mal bei uns im Haus. Das verschwimmt. Ich mische mich in die Architektur ein, Peter Wahl mischt sich in den Tiefbau ein.
SPOX: Sie sind durch eine Vielzahl von der Tilke GmbH & Co. KG gebauten Rennstrecken mittlerweile weltweit bekannt. Wie entstand Ihre Verbindung zum Motorsport?
Tilke: Mit 17 Jahren bin ich als Zuschauer auf dem Nürburgring gewesen. Das hat mich begeistert, ich war infiziert. Ich wollte es selbst machen und konnte es, als ich 18 Jahre alt wurde. Ich bin mit dem Auto meiner Mutter die ersten Bergrennen gefahren. Sie wusste davon gar nichts. Danach kamen verschiedene Serien auf der Rundstrecke und schließlich bin ich die Tourenwagen-Europameisterschaft und teilweise die Tourenwagen-Weltmeisterschaft gefahren. Später ging es dann intensiv bei der VLN auf die Nordschleife des Nürburgrings.
SPOX: Sie stehen auch im Archiv der DTM. In Zolder sind Sie im Jahr 1987 zum ersten und einzigen Mal in der Serie gestartet. Wie kam es dazu?
Tilke: Ein Team kam auf mich zu und fragte, ob ich da fahren will. Sie hätten ein anderes Konzept: ein sehr leichtes Auto, allerdings von der PS-Zahl unterlegen. Es war nicht wirklich erfolgreich. Wir haben nach dem ersten Rennen direkt eingesehen, dass man ohne die nötige Leistung nicht auskommt, auch wenn man sehr leicht ist. Also haben wir das ganze Projekt eingestampft und ich bin in die anderen Serien zurückgekehrt.
SPOX: Die Karriere als Rennfahrer war nur Ihr Hobby. Sie hatten sich schon 1984 selbstständig gemacht. Die ersten Aufträge waren vornehmlich Industrieanlagen, besonders aus dem Recyclingbereich. Der Unterschied zum Arbeiten an Rennstrecken scheint gewaltig. Wie kam es dazu?
Tilke: Ich hatte meine Diplomarbeit über Bereiche der Abfallwirtschaft geschrieben. Also war ich zunächst in diesem Bereich tätig: Recyclinganlagen, Abfalldeponien und so weiter. Das war das Hauptgeschäft meiner noch kleinen Firma. Ich wollte als Rennfahrer aber auch etwas mit den Strecken zu tun haben. Ich habe deshalb parallel versucht, irgendwie am Nürburgring involviert zu sein. Ein großes Geschäftsfeld habe ich bei den Strecken nie gesehen, es hat einfach Spaß gemacht. Für den ersten kleinen Auftrag habe ich 600 D-Mark Honorar bekommen. Es ging darum, einen kleinen Rettungsweg umzulegen. So habe ich einen Fuß in die Tür des Motorsport-Designs bekommen. Mit den kleinen Sachen ging es am Nürburgring weiter und irgendwann haben Leute gesagt: "Der Mann ist ein Experte." Nach kleinen Arbeiten an anderen Kursen kamen dann plötzlich zwei gänzlich neue Rennstrecken: der Sachsenring und der frühere Österreichring, damals A1-Ring, heute Red-Bull-Ring in Spielberg.
SPOX: Wenn Sie den Auftrag für eine neue Strecke bekommen, scheinen sie ein weißes Blatt vor sich zu haben. Wie entwickelt sich daraus ein fertiger Kurs?
Tilke: Gut, auf irgendeiner grünen Wiese wird also eine neue Rennstrecke gebaut. Das weiße Blatt füllt sich schnell mit der Topografie, der Richtung der Anreise von Zuschauern und der Beschaffenheit des Bodens. Wir versuchen, schlechten Baugrund zu meiden, die Autos drum herum fahren zu lassen und keine Gebäude draufzustellen. Wir könnten das technisch umsetzen, aber es ist unnötig teuer. Dazu gibt es noch andere Begrenzungen wie den Naturschutz, manchmal sind es Bäume, die wir erhalten müssen und möchten. Und dann ist das Blatt schon nicht mehr weiß, obwohl wir noch nicht mal mit der richtigen Arbeit angefangen haben.
SPOX: Die romantische Vorstellung, auf einem Bierdeckel ein paar tolle Kurven zusammenzustellen, haben Sie damit zerstört. Wie geht es weiter?
Tilke: Wenn wir schwierige Voraussetzungen haben, bauen wir große Modelle vom Gelände, damit wir ein besseres Gefühl davon kriegen. Das sieht aus wie bei einer Modelleisenbahn. Darauf legen wir mit bunten Wollfäden verschiedene Streckenverläufe übereinander. Dann wird diskutiert, abfotografiert, digitalisiert. Ganz extrem war das in Istanbul, weil dort sehr schwieriges Gelände ist - für unsere Arbeit gleichzeitig sehr reizvoll. Es kommt vor, dass unsere Ideen vom Modell nicht umsetzbar sind, weil etwa Steigungen und Gefälle, Auslaufzonen und Budget nicht zusammenpassen. Das Geld ist übrigens auch etwas, das unser Blatt nicht mehr weiß erscheinen lässt.
SPOX: Inwiefern?
Tilke: Wir machen sehr häufig Design-to-Budget. Wir diskutieren also mit dem Kunden, welche Ziele er mit der Strecke verfolgt: Soll es eine Klubrennstrecke sein? Eine für Motorräder? Oder eine für Autos bis hin zur Formel 1? Gerade bei Letzteren haben die Bauherren oft ein Gedankenziel: Prestige. Das als Bird's Nest bekannte Olympiastadion in China hätte man auch viel einfacher bauen können. Die andere Herangehensweise ist rein funktionell: Das, was nötig ist, und nicht mehr. Daraus ergibt sich eine Budgetvorgabe, an die wir uns halten müssen. Manchmal ist sie verdammt knapp. Und: Wir bekommen oft Grundstücke, die kein anderer haben will.
SPOX: Wieso?
Tilke: Für eine Rennstrecke brauchen wir eine ziemlich große Fläche. Die sind besonders in der Nähe von großen Städten und Ballungszentren sehr teuer. Also gibt man uns sehr häufig, was am billigsten ist. Das sind Flächen, die kein anderer bebauen will, weil es etwa statisch zu Herausforderungen führt. Der Sachsenring steht zur Hälfte auf einer alten Mülldeponie, in China haben wir auf 300 Meter tiefem Sumpf gebaut. Es ist technisch eine große Herausforderung, überhaupt auf diesen Grundstücken etwas zu errichten. Budget und Grundstück sind zwei Sachen, die das Design wirklich stark beeinflussen.
SPOX: Die Sicherheitsvorgaben des Automobilweltverbands sind also gar nicht ausschlaggebend?
Tilke: Die FIA wirft ein strenges Auge darauf, dass die Auslaufzonen groß genug sind. Es wird oft kritisiert, dass die Rennstrecken dadurch an Charakter verlieren. Das stimmt auch. Andererseits will sich keiner wehtun. Der Betreiber der Strecke möchte meist Autos und Motorräder auf seiner Strecke haben. Das macht es schwierig. Bei Autos kann man mit theoretischen Modellen berechnen, wie stark der Einschlag in die Leitplanke bei 60 bis 80 km/h sein wird. Das wird dann gerade noch zugelassen. Dann ist "nur" das Auto kaputt. Bei Motorrädern fehlt die Knautschzone. Wenn sie mit 60 bis 80 km/h in eine Mauer fliegen, kann Schlimmes passieren. Weil Motorradfahrer zu Recht empfindlicher sind, erscheinen die Auslaufzonen für die Formel 1 manchmal zu groß. Es ist schwierig, das unter einen Hut zu bringen. Wie groß der Unterschied ist, sieht man etwa beim Vergleich von Sotschi und Austin.
SPOX: Aktuell plant die Formel 1 ein neues Reglement. Ab der Saison 2017 sollen die Autos etwa fünf Sekunden pro Runde schneller werden, unter anderem durch mehr Anpressdruck und höhere Kurvengeschwindigkeiten. Haben Sie schon durchgerechnet, ob Ihre Strecken dafür ausgelegt sind?
Tilke: Die Strecken passen zum neuen Reglement, weil sich die Geschwindigkeitsbereiche nicht dramatisch ändern. Wir können sowieso nicht auf den Punkt planen, wir bauen Strecken für mindestens 40 Jahre. Wir müssen deshalb immer antizipieren, wohin es gehen könnte. Es gibt schließlich Serien, in denen die Autos bei der Höchstgeschwindigkeit aktuell schon schneller sind als die Formel 1. Deshalb sind die Strecken in der Regel schon jetzt ausreichend sicher für das geplante Reglement.
SPOX: In Austin hat das letzte große Formel-1-Rennen stattgefunden, wo sie die Strecke um- beziehungsweise neugebaut haben. Wenn man sie mit der ersten Neukonzeption in Malaysia vergleicht, scheint sich das Produkt stark gewandelt zu haben. Trauen Sie sich mittlerweile mehr zu?
Tilke: Ja. Durch die Erfahrung der letzten 25 Jahre gehen wir heute bei der Planung viel mehr an die Grenzen. Am Anfang haben wir uns einfach an die Vorgaben gehalten. Heute machen wir das auch, aber wir diskutieren mit der FIA viel mehr und sagen, was man anders machen könnte. Teilweise kriegen wir Zustimmung, teilweise sagt man: "Nee, das geht jetzt gar nicht." Sepang war besonders, weil die Strecken aufwendig wurden. Es war die erste, die keine Funktionsstrecke war, sondern repräsentieren wollte. Der damalige Ministerpräsident wollte erreichen, dass sein Land bekannter wird. Er wollte Wiedererkennbares, was sonst keiner hat. Ich glaube, das ist uns bis heute gelungen.